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FORSCHUNG/102: Wie lesen wir (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 4-6/2008

Augen-Blicke
Potsdamer Wissenschaftler untersuchen in einem europäischen Forschungsprojekt, wie wir lesen

Von Petra Görlich


Was machen unsere Augen beim Lesen? Welche Phänomene treten dabei auf und was steckt dahinter? Diesen und anderen Fragen stellen sich Wissenschaftler der Uni Potsdam in einem 2006 begonnenen europäischen Forschungsprojekt unter Leitung der Psychologieprofessoren Reinhold Kliegl und Ralf Engbert, das die Steuerung des Blicks beim Lesen untersucht. Auch Doktorandin Anja Gendt ist an jenem Vorhaben beteiligt.


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Zwei große Experimente hat die junge Psychologin bereits abgeschlossen, bei denen sie Blickbewegungen untersuchte. Sie will genau wissen, wie Menschen Texte lesen, welche Strategien es möglicherweise gibt. Und noch etwas interessiert die junge Frau: die Rolle des Arbeitsgedächtnisses dabei. Jenes wird von Fachleuten als der Teil des Gedächtnisses verstanden, der Informationen speichert, mit ihnen operiert und mit Informationen des Langzeitgedächtnisses in Verbindung bringt. Zahlreiche "Lesespuren" sind inzwischen per Computer aufgezeichnet worden, die Gendt nun auswertet.

Zuvor hatten sich allein im ersten Experiment 30 Probanden, allesamt Studierende, am Eyelink II, einem eigens für solche Untersuchungen entwickelten Gerät, testen lassen. Dabei wurden ihnen einzeln Sätze auf einem Monitor präsentiert. Die Probanden sollten den jeweils gezeigten Satz lesen und dessen Wahrheitsgehalt prüfen. Die eigentliche Aufgabe aber bestand darin, sich das jeweils letzte Wort zu merken. Im Abstand von vier Sekunden wurden vier bis maximal sieben Sätze aufgeblendet. Im Anschluss daran mussten die Studienteilnehmer die gemerkten Wörter frei erinnern.

"Die Studierenden haben durchweg gute Ergebnisse erzielt", stellt Gendt fest. Zufall war das nicht, wie sie sagt. Denn die ausgewerteten Daten zeigen, dass spezielle Strategien zum Erfolg geführt hatten. Darunter befand sich auch eine sehr häufig angewandte: Gelesen wurde offensichtlich zuerst das letzte Wort in der Zeile, um es sich so am besten merken zu können. Erst dann konzentrierten sich die Probanden darauf, den Satz zu verarbeiten.

Damit überhaupt herausgefunden werden kann, welchen Weg die Blicke der einzelnen Probanden genommen haben, hatten diese während der rund 30 bis 40-minütigen Untersuchung kleine Kameras vor den Augen, die eine Aufzeichnung der Daten ermöglichen. Gendt erkennt daraus quasi den Takt des Lesens. Für einen Laien mag eine solche Blickspurmelodie eher abenteuerlich aussehen, dem Experten verrät sie vieles: Deutlich wird für ihn, wo der Leser den Blick auf einen bestimmten Punkt fixiert, an welcher Stelle der Blick springt, welche vorwärts- oder rückwärtsgerichteten Bewegungen es gibt. Im konkreten Fall kommt hinzu, dass die Lesekurven auch Auskunft darüber erteilen, welchen Einfluss die Gedächtnisbelastung auf das Leseverhalten ausübt.

Noch will Anja Gendt keine abschließende Beurteilung der vorhandenen Werte wagen. Interessant für die Praxis dürften sie jedoch allemal sein. Spielt das Arbeitsgedächtnis tatsächlich jene angenommene eminent wichtige Rolle beim Lesen, dürfte dies zum Beispiel bei der Suche nach Ursachen von Lesestörungen und deren Behebung von Bedeutung sein.

Zunächst geht es jedoch darum, dass von Gendt und den anderen beteiligten Uni-Mitarbeitern aussagekräftige Parameter für ein bestmögliches Lesemodell gefunden werden. Denn die Arbeit in dem European Research Collaborative Project (ERCP) ist auch ein Wettbewerb der Modelle. Zum ersten Mal sollen Modelle gegeneinander und in verschiedenen Sprachen getestet werden. Welches Anliegen die in Potsdam, Salzburg und Edinburgh ansässigen Forscher treibt, beschreibt Projekt-Leiter Kliegl so: "Wir wollen klären, in welchen Zeiträumen und mit welchen Taktfolgen Wörter wahrgenommen und verarbeitet werden, was dabei abhängig ist von der Sprache beziehungsweise dem gedruckten Wort und was unabhängig davon und überall gleich von den Augen geleistet wird." Dabei gehen alle Seiten, inzwischen sitzen auch Wissenschaftler aus Peking längst mit im Boot, von durchaus unterschiedlichen Annahmen, die sie ihren mathematischen Modellierungen und den entsprechenden Computerprogrammen zugrunde legen, aus. Die Potsdamer Forschungsgruppe präferiert den Ansatz der Parallelverarbeitung. Das heißt, sie geht davon aus, dass prinzipiell mehrere Wörter gleichzeitig verarbeitet werden können. In den anderen Modellen dagegen werden die Wörter jeweils einzeln betrachtet und sukzessive bearbeitet. Anders als ihre Fachkollegen messen die Wissenschaftler der Universität Potsdam übrigens den Augen selbst eine vergleichsweise höhere Bedeutung zu, wenn es um bestimmte Verarbeitungsprozesse geht.

Die Gelder für das Projekt kommen von den nationalen Förderorganisationen der Teilnehmer des Forschungsvorhabens. Die Potsdamer werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Das gilt auch für die Pekinger, die im Rahmen eines Einzelantrages eine Förderung erhalten.


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Definition Kognitionswissenschaften

Kognitionswissenschaften bündeln unter verschiedenen theoretischen Perspektiven deskriptive, experimentelle und formal-modellierende Forschungsansätze zu den Basismodulen des menschlichen Geistes, wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Denken, Handeln, Sprache, Emotion und Bewusstsein.

Primäre Motivation der in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA entwickelten jungen Disziplin war die Integration theoretischer Ansätze der Künstlichen Intelligenz, der kognitiven Psychologie, der Neurowissenschaften, der Linguistik und der analytischen Philosophie. Diese frühen Ansätze der Kognitionswissenschaften orientierten sich vor allem daran, im menschlichen Gehirn funktionale Entsprechungen für die Fähigkeiten des menschlichen Geistes zur Repräsentation und Berechnung (Computation) von Wahrnehmungs- und Wissensinhalten zu finden. Die Kritik an dieser sogenannten Symbolverarbeitungsannahme des menschlichen Geistes führte zu alternativen Paradigmen der Kognitionswissenschaften, wie dem Konnektionismus, der verkörperlichten Kognition (embodied cognition) und der dynamischen Perspektive auf menschliche Kognition.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 4-6/2008, Seite
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2008