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FORSCHUNG/117: Gedächtnis und Lernen (Uni Bielefeld)


BI.research 33.2008
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Gedächtnis und Lernen
Spannende Einsichten der Neuropsychologie

Von Sabine Schulze


Der Zeuge macht keinen glaubwürdigen Eindruck: Vor Gericht unterscheiden sich seine Angaben von denen, die er in seinen Befragungen durch die Polizei gemacht hat. Ist er ein Lügner? "Nicht unbedingt", sagt Prof. Dr. Hans-Joachim Markowitsch. Denn jedes Mal, wenn im Gehirn Gespeichertes abgerufen wird, wird es modifiziert. "Die neue Abspeicherung wird dann geprägt durch die jeweilige Situation." Markowitsch, der an der Universität Bielefeld Physiologische Psychologie lehrt, ist einer der Fachleute in Deutschland, wenn es um Lernen und Gedächtnis geht. Weltweit wird er in oft spektakulären Fällen von Amnesie um Hilfe und Gutachten gebeten. Gerade diese Fälle von Gedächtnisverlust geben den Wissenschaftlern auch Einblicke, wie unser Gehirn, wie das Lernen funktioniert. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wieso wir überhaupt ein Gedächtnis haben und wozu es dient. "Es bietet evolutionär einen Überlebensvorteil: Das Individuum und die Art profitieren, wenn abgespeichert wird, welche Beeren giftig sind und krank machen oder ob der Geruch eines Weibchens Paarungsbereitschaft oder der eines Männchens Aggressivität verraten. Denn in erster Linie hat sich das Gedächtnis aus Geruch und Geschmack entwickelt", erklärt Markowitsch.


Die Gedächtnissysteme

Allgemein gelte, sagt der Hirnforscher, dass über Assoziationen gelernt wird: Neues wird mit bereits Bekanntem verglichen. Allerdings: Irgendwo muss ein Anfang sein. Wie also lernt ein Baby? Auch hier ist die erste basale Erfahrung der Geruch: Ein Säugling riecht seine Mutter - ein Sinneseindruck, der ohne den Umweg über den Thalamus abgespeichert wird. Denn die Riechzellen sind als einzige direkt mit dem Cortex verbunden. Ein Grund, warum auch bei Erwachsenen ein Duft oder Geruch Erinnerungen oder Gefühle hervorruft. "Es gibt auch einen Demenztest, der darauf basiert. Denn es ist ein erstes Anzeichen für eine Demenz, wenn ein Mensch nicht mehr riechen kann", erklärt Markowitsch. Der Neuropsychologe unterscheidet fünf Langzeit-Gedächtnissysteme, die onto- und phylogenetisch auseinander hervorgingen und -gehen: Im prozeduralen Gedächtnis wird Motorisches abgespeichert, alles, was später hochgradig automatisch abläuft - ob es sich um das Autofahren oder Tennisspielen handelt. "Es funktioniert automatisch und entlastet uns." Im Priming-System ist hinterlegt, was ebenfalls unbewusst abläuft: Man hört eine Melodie und unwillkürlich fällt einem der Text dazu ein - ein Prinzip, mit dem die Werbung arbeitet, in dem Spots wiederholt werden: Der erste bahnt quasi durch die Spur, die er im Gehirn hinterlässt, den Weg für den zweiten, der die Botschaft ins Bewusstsein holt. Das perzeptuelle Gedächtnis erlaubt das Wiedererkennen von Reizen: Ein Apfel wird als solcher erkannt, auch wenn er rot, grün oder angebissen ist. Das "Weltwissen" ist dann im vierten System hinterlegt. Und das episodische Gedächtnissystem speichert als fünftes Erlebnisse ab, die mit Emotionen verbunden sind - der Sturz vom Fahrrad oder die ersten Schritte der kleinen Tochter. "Die höchste Form des Gedächtnisses ist das episodische oder autobiographische. Es erfordert die Reflexion über uns selbst, die Fähigkeit zur Rückschau und zur Vorausschau - und zur Bewertung", betont Markowitsch. Und es unterscheidet den Menschen vom Tier, das eben keine "Zeitreise" unternehmen oder über die Endlichkeit des Lebens nachdenken kann. "Ein Tier sieht sich nicht in der Zeit, sein Gedächtnis funktioniert im Hier und Jetzt." Im Alter von vier, fünf Jahren beginnt die Entwicklung dieses autobiogaphischen Gedächtnisses, wenn Kinder ein Bild von sich selbst bekommen und sich von ihrer Umgebung abgrenzen. "Interessanterweise beginnt diese Phase bei jüngeren Geschwistern oder Menschen, die im Kibbuz oder ähnlichen sozialen Verbänden aufgewachsen sind, später."


Vergessen - auch eine Gnade

Ein solch ausgeklügeltes System sorgt also für das Erinnern. Und doch gibt es das Vergessen - ein Fehler im System? Markowitsch schmunzelt darüber. "Es ist die Frage, ob Sie vergessen haben, was sie vorgestern zu Mittag gegessen haben oder ob Sie sich nur nicht mehr erinnern." Selbst bei Demenzkranken geht nicht alles verloren, was je abgespeichert wurde: Das prozedurale Wissen bleibt erhalten. Auch wenn das Erinnern an Familienangehörige nicht mehr klappt: Die Fähigkeit zum Autofahren bleibt. Im Alter fallen vielen Menschen auch Dinge wieder ein, die längst vergessen schienen - "weil man regrediert", sagt Markowitsch erbarmungslos. Aber auch, weil vieles nicht abgerufen wurde oder das Gehirn unterdrückt, was Kapazitäten bindet und das aktuell notwendige Funktionieren behindern würde. "Unser Gehirn arbeitet mehr über Hemmung als über Erregung. Wenn im Alter Nervenzellen absterben, kommt manches wieder hoch - weil die Hemmung fehlt", erklärt der Hirnforscher. Aktuell wird dieses Phänomen am Beispiel der Nachkriegsgeneration diskutiert. Sie ist auch ein Beispiel dafür, dass Vergessen nicht nur eine Bürde ist. Es gibt Menschen, die nie vergessen, die alles behalten und prompt sagen können, was für ein Wochentag der 24. Mai vor 17 Jahren war. Die Amerikanerin Jill Price ist ein solcher Mensch, und ihre Fähigkeit zur Erinnerung macht die 42-Jährige verrückt. "Vergessen ist auch eine Gnade", sagt Markowitsch. Das funktioniert im Wachzustand, wenn das Gehirn "gehemmter" ist, oft besser als im Traum, wenn es assoziiert. Und auch der berühmte Film, der in Todesangst vor dem geistigen Auge abläuft, ist darauf zurückzuführen: Das Gehirn ist optimal mobilisiert und denkt simultan. Lang anhaltender Stress hingegen blockiert das Gehirn, und der Stoffwechsel wird vermindert. Nach einer Therapie hingegen wird er wieder "hochgefahren" - "Therapieerfolge könnten also direkt abgelesen werden".


Die Fragwürdigkeit von Erinnerungen

Erinnern, führt Markowitsch aus, ist auch immer situationsabhängig. Wenn Zustände und Situation beim Einspeichern und Abrufen ähnlich sind, gelingt das Erinnern am besten. "Wer seinen Lernstoff auf dem Sofa, beim Glas Wein, durchgearbeitet hat, kann in der Prüfung einen Blackout erleben." Grundsätzlich, sagt Markowitsch, vergisst der Mensch wenig - er verbaut sich nur zuweilen den Zugang auf Hirnebene. Darüber hinaus aber ist das, was wir erinnern, immer subjektiv. Zwei Geschwister, eine Kindheit - und doch zwei gänzlich verschiedene Erinnerungen. "Wir rekonstruieren eben unsere Erinnerungen und bauen Urteile und Vorurteile mit ein." Der Zeuge vor Gericht kann es noch so gut meinen: Sein Gedächtnis kann trügerisch sein. "Kontext, Aufmerksamkeit und Vorerfahrung bedingen, was wir wahrnehmen." Genau mit dieser Frage, mit der Glaubwürdigkeitsbegutachtung von Zeugen, befasst sich Markowitsch aktuell in einem EU-Forschungs-Projekt. Mit beteiligt sind Kollegen der Universitäten im israelischen Haifa, in Rotterdam und Aberdeen. Wie fragwürdig Erinnerungen sind, haben Markowitsch und die Doktorandin Sina Kühnel im Experiment mit Psychologie-Studenten - mithin einer durchaus sensibilisierten, ausgewählten Klientel - getestet. Ihnen wurde ein Film gezeigt und angekündigt, dass anschließend nach Einzelheiten gefragt würde. Und doch: Als man ihnen später Standbilder zeigte und fragte, ob diese im Film zu sehen waren, tippten 45 Prozent falsch. Die funktionelle Bildgebung im "Kernspin" zeigte zudem, dass bei denen, die sich richtig erinnerten, ein Areal im Stirnhirn aktiv war. Bei den anderen regte sich ein Gebiet in der Sehrinde des Gehirns. Sie hatten sich also falsch entschieden, obwohl ein Teil ihres Gehirns wusste, dass sie sich irrten. Die Begründung ist simpel: "Es gab zu viel Ähnliches, sie sind durcheinander gekommen. Wir sprechen dann von Interferenz", sagt Markowitsch. Ob Lüge, Wahrheit oder Fehlerinnerung: Das Gehirn unterscheidet genau.


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Quelle:
BI.research 33.2008, Seite 56-59
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
Herausgeber: Universität Bielefeld, Referat für Kommunikation
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Februar 2009