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FORSCHUNG/124: Was Tiere nicht begreifen können (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Denkvermögen

Was die Tiere nicht begreifen können


"Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind", schrieb Kant in "Die Kritik der reinen Vernunft". Wie aber erzeugt das Gehirn diese Konzepte, die als Werkzeuge des menschlichen Denkens dienen? Im Grenzbereich zwischen Neurobiologie und Philosophie befassen sich die kognitiven Wissenschaften mit dieser Frage.


Tiere können durchaus lernen, Konzepte zu unterscheiden. Die beiden amerikanischen Psychologen Richard Herrstein und Donald Loveland haben das 1964 gezeigt, als sie Tauben beibrachten, mit einem Schnabelhieb zu reagieren, wenn auf einem Bild vor ihnen ein Baby oder ein alter Mensch, ein Mann oder eine Frau, von vorne, von hinten oder auf dem Kopf stehend... kurzum ein Homo sapiens zu sehen war. Lässt sich daraus schließen, dass diese Vögel eine Vorstellung des Menschen gewonnen hatten? Die Forscher bezeichnen diese Arbeiten lieber als Experimente der "Konzeptdiskrimination". Laut Denis Mareschal vom Birbeck College der Universität London (UK) verhindert dieser Begriff "die Schlussfolgerung, dass das Tier ein Konzept erstellt und verwendet, das dem vom Versuchsleiter verwendeten ähnelt".

Außerdem führen diese Arbeiten nicht weiter, sobald man versucht, die Eigenart des menschlichen Denkens zu verstehen. Erstens wurden sie hauptsächlich mit Vögeln und nicht mit Säugetieren durchgeführt, obgleich sich die Organisation des visuellen Systems der beiden Gruppen bekannterweise unterscheidet. Zweitens haben sie oftmals vorausgesetzt, dass der Mensch die Aufgaben, die den Tieren beigebracht werden sollten, auch ausführen kann, was gar nicht so selbstverständlich ist. Drittens haben sie niemals untersucht, ob Menschen, die nicht sprechen können - insbesondere Säuglinge - diese Aufgaben ausführen könnten, obwohl es "zahlreiche Beispiele in der experimentellen Psychologie gibt, bei denen sich Kinder, die nicht sprechen können, eher wie Tiere und nicht wie Erwachsene verhalten".


Akzeptierte Regeln

Ziel des von Denis Mareschal koordinierten Projekts FAR (From Associations to Rules in the Development of Concepts) (1) ist es daher, sich mit den Regeln zu beschäftigen, welche das Erlernen dieser Konzepte bestimmen. "Die Verwendung der Sprache, der mathematischen Logik oder des abstrakten Denkens sind drei grundlegende Eigenschaften der menschlichen Kognition, denen gemeinsam ist, dass sie auf der Anwendung von Regeln basieren", erklärt er bei der Präsentation des Projekts. Die Bildung dieser Regeln ist jedoch nicht die einzige Form des Denkens, die dem menschlichen Gehirn zur Verfügung steht. Bei Experimenten zur künstlichen Grammatik werden offensichtlich unbedeutende Buchstabenfolgen gezeigt, die allerdings durch logische Regeln verbunden sind, die nur dem Versuchsleiter bekannt sind. Dabei zeigt sich, dass einige der Probanden versuchen, diese Regeln zu erkennen, während andere nach Ähnlichkeiten zwischen den ihnen gezeigten Wörtern suchen. Wenn man die Probanden, denen es gelungen ist, diese künstliche Grammatik zu verstehen, jedoch befragt, beschreiben alle die Mechanismen, die sie verwendet haben. "Vielleicht sind diese Regeln Artefakte, die dadurch entstanden sind, dass wir sie formalisieren und dabei eine Sprache verwenden, die selbst Regeln unterworfen ist?", fragt sich Denis Mareschal. Er hat im Rahmen von FAR experimentalpsychologische Verfahren entwickelt, mit denen das Erlernen von Regeln ohne Verbalisierung möglich ist.


Abstrakte Sprache oder körperliche Einschreibung

"Gemäß der Hypothese der abstrakten Sprache werden die Konzepte von den statistischen Eigenschaften der Sprache hergeleitet - da vorausgesetzt wird, dass die in der gesprochenen Sprache oftmals assoziierten Wörter mit den gleichen Begriffen in Verbindung stehen -, was die Existenz dieser für das Wesen jeder Sprache charakteristischen Konzepte erklären würde. Die Hypothese der körperlichen Einschreibung basiert im Gegensatz dazu auf der Vermutung, dass die Konzepte ihren Ursprung in den Metaphern haben, die eine Idee im abstrakten Bereich extrapolieren, die dann von der Wahrnehmung im konkreten Bereich offensichtlich gemacht wird. Auf diese Weise ließe sich der Ausdruck 'eine Hypothese aufstellen' durch Analogie mit 'ein Zelt aufstellen' herleiten", glaubt Stefano Cappa von der Universität Vita Salute San Raffaele in Mailand (IT).

Wie lassen sich diese beiden Hypothesen experimentell überprüfen? Die Teams des Projekts ABSTRACT (The Origins, Representation and Use of Abstract Concepts) haben hierfür einen multidisziplinären und interlinguistischen Ansatz auf der Grundlage des Vergleichs der englischen, ungarischen, spanischen und italienischen Sprache gewählt, der experimenlle Psychologie, Linguistik und Neuroimaging miteinander verbindet, um die jeweiligen Prognosen der Hypothese der abstrakten Sprache und der körperlichen Einschreibung zu überprüfen. Im Hinblick auf die erste wird eine Aktivierung der Sprachregionen im Gehirn erwartet, sobald es um Aufgaben geht, welche die Verwendung von Konzepten verlangen. Wogegen bei der zweiten eine Aktivierung der sensomotorischen Areale erwartet wird.

Die Forscher verwenden für diese Experimente lexikalische Entscheidungstests, bei denen die Geschwindigkeit gemessen wird, mit der ein Proband erkennt, ob eine ihm gezeigte Buchstabenfolge ein Wort darstellt oder nicht. "Man glaubte bis dahin, dass die Leistungen bei konkreten Wörtern immer besser seien als bei abstrakten", erklärt Stefano Cappa, "aber unsere Arbeiten zeigen, dass dieser Unterschied schwindet, wenn man die Möglichkeit berücksichtigt, das abstrakte Konzept durch ein mentales Bild darzustellen."


Alex und die Zeichen

Sollte man die Eigenart des menschlichen Denkens nicht in der Sprache, sondern eher in seiner Fähigkeit suchen, das Zeichen - Wort, Geste, Bild - von dem zu unterscheiden, was es darstellt? Das war die Hypothese des Konsortiums SEDSU (Stages in the Evolution and Development of Sign Use) unter der Leitung von Jules Davidoff vom Goldsmiths College der Universität London (UK), das eine systematische Vergleichsstudie der Zeichenverarbeitung bei Primaten und Menschen im Laufe der Entwicklung durchgeführt hat. Die Forscher haben vor allem beobachtet, dass das Verständnis einer unvollständigen Reihe von Bildern, die eine Bewegung darstellen und die der Proband, Mensch oder Tier, reproduzieren soll, gänzlich außerhalb der Reichweite der Primaten liegt. Nur einem Schimpansen namens Alex ist dies gelungen. "Nun war Alex aber nicht in der Verwendung von Sprache geschult worden", erklärt Jules Davidoff, "was unsere Hypothese untermauert, dass für das Verständnis von Bildern, wie Zeichen, eine Sprachbeherrschung nicht erforderlich ist."

Indem er den Sinn dieser Bildfolge verstanden hat, hat Alex auch in gewisser Weise ein Zeitgefühl entwickelt. Dieser außergewöhnliche Fall darf jedoch nicht davon ablenken, dass die Beherrschung dieses Konzepts zu den spezifischsten Eigenheiten des menschlichen Denkens gehört.

M.S.


Anmerkung

(1) Die Projekte FAR (From Association to Rules in the Development of Concepts), Abstract (The Origins, Representation, and Use of Abstract Concepts), SEDSU (Stages in the Evolution and Development of Sign Use), Paul Broca II (The Evolution of Cerebral Asymmetry in Homo Sapiens) und EDCBNL (Evolution and Development of Cognitive, Behavioural and Neural Lateralisation) sind Teil der europäischen Initiative Nest Pathfinder, What it means to be human.


infos
ftp://ftp.cordis.europa.eu/pub/nest/docs/4-nest-what-it-290507.pdf


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb. S. 18: Das Sprechen, die mathematische Logik oder das abstrakte Denken sind drei grundlegende Eigenschaften der menschlichen Kognition, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie auf der Verwendung von Regeln gründen.

Abb. S. 19: Liegt die Besonderheit des menschlichen Denkens weniger in der Sprache, als in seiner Fähigkeit, das Zeichen - also Wort, Geste, Bild - von dem zu unterscheiden, was es darstellt? Hier sind Felszeichnungen in der Serra Irere bei Monte Alegre (Brasilien) zu sehen.


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Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008, Seite 18 - 19
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2009