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FORSCHUNG/135: Tugend forscht - Was macht Lebensklugheit aus? (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 12/2009
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Tugend forscht

Von Steve Ayan


Woran erkennt man einen weisen Menschen? Was macht Lebensklugheit aus? Und lässt sie sich lernen? Eine überraschende Antwort von Psychologen lautet: Weisheit ist kein Privileg des Alters, sondern formt sich schon in jungen Jahren.



Auf einen Blick

Weise Wissenschaft

1. Psychologen vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung definieren Weisheit als Expertenwissen zu grundlegenden Fragen des Lebens.

2. Um dieses zu messen, lassen sie Probanden laut über problematische Situationen nachdenken.

3. Alter und Lebenserfahrung fördern Weisheit nur, wenn weitere Faktoren wie Offenheit und Empathie hinzutreten.


*


Hand aufs Herz, wie viel Weisheit steckt in Ihnen? Eine Fangfrage, zugegeben - denn wer von sich behauptet, er sei weise, beweist damit geradezu das Gegenteil. Wahre Tugend brüstet sich nicht.

Nächster Versuch: Stellen Sie sich vor, Sie hätten den »Athene-Orden für besondere Weisheit« zu vergeben. Sie dürfen ihn aber nur einer Person verleihen, die Sie persönlich kennen. Denken Sie an Ihre Familie, Ihre Freunde - auf wen fiele Ihre Wahl? So merkt man schnell, »weise sein« kann vieles bedeuten.

Gemeinhin schmückt dieses Prädikat Ikonen der Nächstenliebe wie Mutter Teresa oder den Dalai-Lama, Geistesgrößen vom Format Albert Einsteins oder sturmerprobte Staatsmänner wie Altkanzler Helmut Schmidt. Aber Menschen wie du und ich - können auch sie weise sein? Wenn ja, wie und wann äußert sich das?

Solche Fragen beschäftigen heute eine Schar empirisch arbeitender Psychologen, die eine alte Domäne der Tugendphilosophen erobern. Während in den 1970er Jahren kaum mehr als 20 Artikel zum Stichwort Weisheit in wissenschaftlichen Fachjournalen erschienen, waren es seit dem Jahr 2000 schon mehr als 250. Und die Forscher berichten Erstaunliches: So wächst die Weisheit von Menschen nicht unbedingt mit dem persönlichen Erfahrungsschatz und Lebensalter; vielmehr erreicht sie bereits bei jungen Erwachsenen ihr individuelles Optimum.

Diese Erkenntnis setzt allerdings voraus, dass man weiß, wovon genau die Rede ist. Dabei erscheint nur eines schwieriger, als Weisheit zu erlangen - sie zu definieren! Der 2006 verstorbene Psychologe und langjährige Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Paul Baltes betrachtete Weisheit, vereinfacht gesagt, als Experten-Knowhow für komplizierte Lebenslagen. Weise können ihr Wissen und ihre Erfahrung in klugen Rat für sich und andere ummünzen. Sie bleiben besonnen, auch wenn es brennt, und kennen ihre Fähigkeiten und Grenzen. Sie strahlen heitere Zuversicht aus, ohne die Konflikte und Abgründe des Lebens zu übersehen.


Auf Zahl und Nenner gebracht

Nun müssen Psychologen ihre Begriffe und Modelle nicht bloß plausibel begründen, sondern auch mit Daten und Hypothesentests untermauern. Das hat seinen Preis: Was nicht per Fragebogen, Beobachter-Rating, Elektroden oder anderen Hilfsmitteln in Zahlen übersetzbar ist, hat in der Forschung keinen Platz. Doch wie lässt sich Weisheit messen, wie »operationalisieren« (siehe Glossar, unten )?

Im Rahmen des Berliner Weisheitsprojekts entwickelten Baltes und seine Mitarbeiter ein Verfahren, das auf Fremdbeurteilungen beruht. Die Forscher legten Probanden fiktive Szenarien vor, die problematische Situationen enthielten. »Jemand wird von einem guten Freund angerufen, der sagt, er könne nicht so weitermachen und wolle sich umbringen.« Oder: »Ein 14-jähriges Mädchen erzählt, dass sie unbedingt von zu Hause ausziehen will.« Andere Beschreibungen klingen weniger dramatisch: »Im Lebensrückblick erkennt mancher, dass er die Ziele, die er sich einmal setzte, nicht erreicht hat.«

Nun baten die Forscher die Teilnehmer, laut darüber nachzudenken, was im jeweiligen Fall zu beachten und zu tun sei. Die Gedankenprotokolle wurden verschriftlicht und wiederum anderen Probanden zur Beurteilung vorgelegt.

Dieses aufwändige Verfahren sollte helfen, ein methodisches Problem der Weisheitsforschung zu umschiffen: den Antwort-Bias (siehe Glossar, unten). Denn fragt man Menschen rundheraus, für wie weise sie sich halten, so muss man damit rechnen, dass sie entweder ins Blaue hinein fabulieren - oder Eindruck schinden wollen und so antworten, wie sie es für weise halten. Aus diesem Grund tarnten die Berliner Forscher ihre Erhebungen als Untersuchung von Denkstilen und kognitiven Vorlieben.

Die Beurteiler schätzten die Gedankenprotokolle, deren Urheber sie nicht kannten, anhand von fünf Kategorien ein. Diese bilden den Kern des Berliner Weisheitsparadigmas:

1. Faktenwissen

- umfasst alle benennbaren, »deklarativen« Kenntnisse über grundlegende Lebensfragen: das soziale Miteinander, Normen, Krisenmanagement, Wohlbefinden und so weiter; Beispiel: »Auf Freunde muss man sich verlassen können«;

2. Prozedurales Wissen

- praktische Fähigkeiten und Heuristiken, die die Lebensführung, das Abwägen von Gründen und Zielen oder das Lösen von Konflikten betreffen; »Ich verabrede mich fest mit Freunden, sonst sieht man sich am Ende doch nie«;

3. Kontextualismus

- die Fähigkeit, Dinge in verschiedene Lebenskontexte (zum Beispiel Arbeit, Freizeit, Familie) und Altersphasen einzubetten oder sie in kulturellen und historischen Zusammenhängen zu sehen; »Freunde spielen für Jugendliche eine andere Rolle als im Alter«;

4. Werte-Relativismus und Toleranz

- Bewusstsein für unterschiedliche Sichtweisen und Bedürfnisse von Menschen; »Einige meiner Freunde sehen manche Dinge ganz anders als ich - aber das ist gut so«;

5. Umgang mit Unsicherheit

- Einsicht und Akzeptanz für Mehrdeutigkeit und Ungewissheiten; »Was man an einem Freund hat, weiß man erst, wenn es drauf ankommt«.

Bis heute haben die Forscher diesen Weisheitsmaßstab an mehr als 1000 Probanden angelegt. Dabei erwies sich die Vorgehensweise als sehr zuverlässig oder reliabel (siehe Glossar): Verschiedene Beurteiler kommen zu ähnlichen Schlüssen. Doch sind hohe Werte tatsächlich Ausdruck besonderer Weisheit - ist der Test also auch valide? Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn dies hängt naturgemäß von der jeweiligen Weisheitsdefinition ab. Immerhin zeigte sich in vielen Untersuchungen, dass das Berliner Paradigma die allgemein als wichtig geltenden Aspekte der Lebensklugheit abdeckt.

Aber wie jede Forschungsmethode hat auch diese Schwächen. Ein Hauptkritikpunkt lautet: Das Reflektieren über die Nöte fiktiver Gestalten verrät nicht unbedingt etwas über das wahre Leben. So äußert sich mancher Teilnehmer bei der »Trockenübung« vielleicht weise, verhält sich im Alltag jedoch ganz anders. Weltoffen und tolerant zu räsonieren, ist das eine - nur was, wenn die eigene Tochter mit ihrer lesbischen Freundin auf Asienreise geht? Oder wenn der beste Freund aus tiefer Überzeugung zum Islam konvertiert?

In einer Studie von 2004 verfolgten Susan Bluck von der University in Florida und Judith Glück, Professorin an der Universität Wien, daher einen anderen Ansatz. Die Psychologinnen befragten Menschen in drei verschiedenen Lebensabschnitten - im Alter von 15 bis 20, 30 bis 40 und 60 bis 70 Jahren - nach persönlichen Weisheitserfahrungen. Wann hatten sie selbst etwas ihrer Meinung nach Weises getan, gesagt oder gedacht? Jeder der 86 deutschen Probanden erinnerte sich im Schnitt an etwa vier solche Begebenheiten. Die nach eigenem Bekunden weiseste sollten sie dann detailliert schildern und auch erläutern, was ihnen daran bemerkenswert erschien.


Jung und Alt gleichauf

So entstand ein Fundus von Berichten »gelebter Weisheit«. Fast die Hälfte davon behandelte weit reichende Lebensentscheidungen, etwa betreffs der eigenen Berufs- oder Partnerwahl. Gut ein Viertel betraf den Umgang mit negativen Ereignissen - Ärger mit den Eltern zum Beispiel oder der Tod eines Angehörigen. Die Aufschlüsselung nach Altersgruppen ergab einen überraschenden Befund: Jung und Alt unterscheiden sich hinsichtlich Anzahl und Ausführlichkeit ihrer Weisheitsberichte nicht.

Allerdings stellten ältere Probanden häufiger (in mehr als drei von vier Fällen) Bezüge zu anderen Lebensereignissen her. Dies war lediglich bei zwei Dritteln der jungen Erwachsenen und gar nur bei einem Drittel der Jugendlichen zu verzeichnen. Zudem neigten Probanden ab 30 Jahren ebenso wie Ältere stärker dazu, eine »Lektion fürs Leben« zu lernen. Sie sahen kausale Verbindungen zu anderen Erlebnissen und zogen verallgemeinernde Schlüsse. Demnach verfügen zwar bereits Teenager über eine ausgereifte Vorstellung von und Erfahrungen mit Weisheit, blicken aber noch nicht so weit über den Tellerrand hinaus.

Dass Älterwerden dennoch nicht automatisch weiser macht, glaubt Ursula Staudinger von der Jacobs University Bremen (siehe Interview, GEHIRN&GEIST 12/2009, S. 37). »Nicht die bloße Lebenserfahrung zählt, sondern die Art und Weise, wie sie eingeordnet und reflektiert wird«, sagt die langjährige Mitarbeiterin von Paul Baltes, die die in Berlin begonnene Arbeit bis heute fortsetzt. Dabei fand Staudinger heraus, dass das individuelle Weisheitspotenzial bereits mit etwa 25 Jahren ausgereift ist. Danach wachse es kaum noch.

Allerdings äußert sich Weisheit je nach Lebensabschnitt unterschiedlich. Bei einer verfeinerten Auswertung ihrer Daten stießen bereits Bluck und Glück 2005 auf inhaltliche Differenzen: In den Berichten der Jugendlichen dominierte die Fähigkeit zu empathischer Einfühlung und gegenseitiger Unterstützung, bei den jungen Erwachsenen spielten dagegen Eigenverantwortung und Selbstvertrauen die Hauptrollen. Die Alten wiederum erzählten besonders häufig von Begebenheiten, in denen Wissen und geistige Flexibilität zu weisem Handeln führten. Ihre Berichte waren auch stärker davon geprägt, dem eigenen Tun rückblickend Sinn zu verleihen.

Eine ähnliche Fährte verfolgten Charlotte Mickler und Ursula Staudinger in einer Untersuchung von 2008. Darin unterschieden sie zwischen allgemeiner (Lebens-)Weisheit und einer persönlichen, auf das eigene Leben und Handeln gerichteten Kompetenz. Das mag einleuchten, wenn man bedenkt, wie klug mancher Zeitgenosse über fremde Sorgen urteilt, gleichzeitig aber bei der privaten Lebensgestaltung scheitert.

Die Forscherinnen verglichen weisheitsbezogene Fähigkeiten von 20-bis 40-Jährigen mit denen von Menschen zwischen 60 und 80 Jahren. Sie bedienten sich dabei einer Variante der Gedankenprotokolle: Die Teilnehmer sollten einmal über ihre eigene Rolle als Freund nachdenken. Wie würden sie sich selbst beschreiben? Was sind persönliche Vorlieben und Schwierigkeiten? Die generelle Lebensweisheit wurde getestet, indem die Teilnehmer darüber Auskunft gaben, wie Menschen mit dem Nichterreichen von Zielen umgehen sollten. Außerdem erhoben die Forscherinnen zahlreiche Persönlichkeitsmerkmale per Fragenbogen, darunter Intelligenz, Extraversion oder Offenheit, sowie Details der jeweiligen Biografie.

Während die allgemeine Weisheit in beiden Altersgruppen etwa gleich ausgeprägt war, hatten die Jungen beim persönlichen Weisheitscheck sogar die Nase vorn. Besonders reiche Lebenserfahrung - also eine Vielzahl einschneidender Lebensereignisse und Krisen wie Jobwechsel, Trennung vom Partner oder der Verlust von Angehörigen - ging nicht mit einer steten Zunahme der Weisheitswerte einher. Die Beziehung zwischen der Zahl bedeutsamer Lebensereignisse und der Weisheit fiel umgekehrt u-förmig aus (siehe Bildunterschrift 2). Überstieg der Erfahrungsschatz ein gewisses Maß, sank die Freundschaftskompetenz!


Hemmschuh für flexiblen Einsatz

Eine mögliche Erklärung dafür, warum die auf das Ich gerichtete Weisheit mit den Jahren sinken kann, während die allgemeine Lebensklugheit unberührt bleibt, liefern alterstypische kognitive Veränderungen. Sie können sich als Hemmschuh für den flexiblen Einsatz gewonnener Einsicht im Alltag erweisen.

Menschen im fortgeschrittenen Alter sind allgemein wenig daran interessiert, Neues auszuprobieren. In eine andere Stadt ziehen, sich ein Hobby zulegen, auf Fremde zugehen, das reizt Jüngere im Schnitt mehr. Diese Offenheit für Erfahrungen - eine der fünf Säulen der Persönlichkeit (siehe G&G 5/2008, S. 28) - schwindet bei Älteren. Sie zeigen zudem nachlassendes Geschick bei geistigen Perspektivwechseln. Das demonstrierten die Psychologinnen Phoebe Bailey und Julie Henry von der University of New South Wales in Sydney (Australien) 2008 in einem Experiment: Sie unterzogen je eine Gruppe älterer sowie junger Menschen einem beliebten Test der »Theory of Mind« - also der Fähigkeit, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen.

Eine Art Comicstrip erzählt dabei folgende kleine Geschichte: Jemand versteckt einen Gegenstand in einem von zwei Behältern. Dann verlässt diese Person den Raum, und eine zweite tauscht die Position der Behälter. Wo wird die erste Person nach dem Objekt suchen, sobald sie wieder eintritt? Klar, im ursprünglichen Versteck.

Die Forscher vergleichen nun die Leistungen der Probanden unter zwei leicht verschiedenen Bedingungen: Einmal sahen die Teilnehmer das versteckte Objekt permanent, mussten dieses Wissen also ausblenden, um die Perspektive der Comicfigur einzunehmen. Die andere Testvariante war insofern etwas leichter, als das Objekt für den Betrachter unsichtbar blieb. Unter der ersten Bedingung machten ältere Teilnehmer mehr Fehler als junge.


Altersbedingter Wandel

Das alles bedeutet keineswegs, Senioren seien grundsätzlich verstockt und unflexibel. Erstens handelt es sich um Durchschnittswerte mit großer individueller Streubreite. Zweitens haben wir es weniger mit einem Abbau als mit einer Verschiebung der geistigen Kompetenzen zu tun: Während kristalline Anteile - so der Überbegriff für Faktenwissen (»Wer war 1967 Bundeskanzler?«), praktische Kenntnisse (»Wie baue ich ein Baumhaus?«) und autobiografische Erinnerungen (»Was hat Mama bei meinem ersten Schultag gesagt?«) - bei Gesunden bis ins hohe Alter stetig anwachsen, schwindet die fluide Intelligenz.

Das Denken verlangsamt sich, das Hin- und Herwechseln zwischen verschiedenen Aufgaben fällt schwerer, auch die Zahl der Assoziationen und kreativen Einfälle sinkt. Die Folge: Oma und Opa kennen sämtliche Geburtstage der weit verzweigten Sippschaft auswendig - doch ein rauschendes Familienfest auf die Beine zu stellen, überlassen sie besser den Enkeln.

Die nachlassende »kognitive Flüssigkeit« beeinflusst die Art, wie Ältere Probleme angehen: Sie setzen vermehrt auf einfache Faustregeln und Standardstrategien. Das ergab zum Beispiel eine Studie von Psychologen des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung von 2007. Die Wissenschaftler um Rui Mata verglichen wiederum ältere und jüngere Probanden, diesmal beim Umgang mit einer Entscheidungsaufgabe.

Die Teilnehmer sollten herausfinden, welcher von zwei Edelsteinen - Diamant A oder B - teurer sei. Dazu konnten die Probanden per Tastendruck verschiedene Informationen einholen, etwa über Größe oder Reinheit des jeweiligen Kristalls. Wie sich zeigte, wägten Jüngere nicht nur länger ab, sondern zogen dabei auch mehr Faktoren in Betracht. Die Älteren machten aus der Not - ihrer geringeren fluiden Intelligenz - eine Tugend, indem sie sich auf Kriterien verließen, die erfahrungsgemäß besonders wichtig waren.

Wenn nun Offenheit, Perspektivwechsel und die geistige Beweglichkeit im Alter nachlassen, leidet dann nicht die Weisheit darunter? Hat die Jugend nun auch dieses letzte Privileg des Alters für sich erobert? Ganz so einfach ist es nicht.

Wie die empirische Forschung zeigt, greift die simple Gleichsetzung von Alter und Weisheit zu kurz. Doch wie die erwähnte Studie von Mickler und Staudinger andeutet, schwächt die nachlassende fluide Intelligenz womöglich zwar die persönliche Weisheitskomponente, nicht aber die allgemeine Fähigkeit, größere Sinnzusammenhänge zu erkennen und Lebensereignisse in einen Kontext zu stellen. Hier haben ältere Menschen ihre Stärken.

Dazu gehört auch die Einsicht in Grundkonflikte unserer Existenz, betont Staudinger. Dass nichts je bleibt, wie es ist; dass Menschen widerstreitende Interessen haben, die miteinander versöhnt werden müssen; dass momentane Befriedigung nicht Erfüllung auf Dauer bringt und Glück nur im Kontrast zu Unglück entsteht. Solche Dilemmata verstehen, akzeptieren und danach handeln zu können - auch das kennzeichnet Weisheit. Hier gibt es noch einigen Nachholbedarf für die empirische Weisheitsforschung.

Eines muss man ihr dennoch zugutehalten: Sie hat das hehre Ideal der Weisheit aus dem Elfenbeinturm geholt. Von Theologen und Philosophen lange Zeit zum »Olymp des Geistes« erhoben, zum Fluchtpunkt im großen Gemälde der Menschheit, zu dem alles hinstrebe, ohne ihn je zu erreichen, erscheint Weisheit heute menschlicher, machbarer. Als persönliche Sinnstiftung, als Problemlösekompetenz, als Toleranz und Mitgefühl für andere.

Weisheit bleibt ein schillernder Begriff, und die Versuche, ihn in Messwerte und Modelle zu übersetzen, werden ihr wohl nie ganz gerecht. Weisheit lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen und kaum zwischen Buchdeckel pressen. Doch ein genauerer Blick darauf, wie Menschen mit der Komplexität und den Widersprüchen des Lebens umgehen, zeigt: Weisheit ist möglich. Und das nicht erst im Alter.


Steve Ayan ist Psychologe und G&G-Redakteur.


Quellen

Bailey, P. E., Henry, J. D.: Growing Less Empathetic With Age: Disinhibition of the Self-Perspective. In: Journal of Gerontoloy 63B(4), S. P219 - P226, 2008.

Baltes, P., Smith, J.: The Fascination of Wisdom: Its Nature, Ontogeny, and Function. In: Perspectives on Psychological Science 3(1), S. 56 - 64, 2009.

Bluck, S., Glück, J.: Making Things Better and Learning a Lesson: Experiencing Wisdom Across the Lifespan. In: Journal of Personality 72(3), S. 543 - 572, 2004.

Mickler, C., Staudinger, U. M.: Personal Wisdom: Validation and Age-Related Differences of a Performance Measure. In: Psychology and Aging 23 (4), S. 787 - 799, 2008.

Weitere Quellen im Internet: www.gehirn-und-geist.de/ artikel/1011077


Zusatzinformationen

Glossar

operationalisieren
müssen Psychologen ihre Modelle etwa in Form von Tests oder Fragebogenskalen, um sie empirisch untersuchen zu können

reliabel
(zu Deutsch: verlässlich) ist eine Erhebungsmethode, die bei mehrfacher Wiederholung zu ähnlichen Resultaten führt

valide
(»gültig«) eine, die misst, was sie gemäß der Theorie messen soll

Antwort-Bias
Tendenz von Probanden, bei offener Befragung verfälscht zu antworten, etwa um einen guten Eindruck zu machen (»Ich lüge nie!«)


Konkurrierende Forschungsansätze

Das Berliner Modell stellt bei Weitem nicht den einzigen Versuch dar, Weisheit wissenschaftlich zu erfassen. Bedeutend sind daneben vor allem die Balancetheorie des Psychologen Robert Sternberg von der Yale University in New Haven (US-Bundesstaat Connecticut) sowie der Drei-Faktoren-Ansatz der deutschen Soziologin Monika Ardelt, die an der University of Florida in Gainesville forscht.

Laut Sternberg besteht der Wesenskern der Weisheit im Abwägen und Ausbalancieren vielfältiger Bedürfnisse und Wünsche, die teils innerhalb der Person liegen (etwa schnelle Belohnung versus Erreichen von Fernzielen), aber auch zwischen verschiedenen Gruppen oder Individuen (etwa von Eltern und ihren Kindern). Ein Ausgleich dieser Interessenkonflikte erfordere »stillschweigendes Wissen« (englisch tacit knowledge), das Intelligenz und Kreativität miteinander vereint.

Monika Ardelt unterscheidet drei Dimensionen von Weisheit - eine kognitive, die sie als »Streben nach Wahrheit und Wissen« beschreibt, eine reflektive, basierend auf Selbsterkenntnis und persönlicher Kritikfähigkeit, sowie eine affektive, die sich vor allem in Mitgefühl ausdrückt. Ardelt entwarf auch einen Fragenbogen, der die individuelle Ausprägung dieser Aspekte ermitteln soll. Zu den knapp 40 Aussagen, die danach zu beurteilen sind, wie gut sie auf die eigene Person zutreffen, gehören etwa Sätze wie »Oft verstehe ich das Verhalten von anderen nicht« oder »Ich mag es nicht, mir die Sorgen anderer Leute anzuhören«. Da hier leicht einzusehen ist, was als »weise« gewertet würde, sind sozial erwünschte Antworten von Befragten nicht auszuschließen. Anders als die eher wissensbasierten Weisheitsmodelle von Baltes und Sternberg betont Ardelts Ansatz die besondere Rolle »mitfühlender Liebe und Sympathie«.

(Ardelt, M.: Development and Empirical Assessment of a Three-Dimensional Wisdom Scale. In: Research on Aging 22, S. 275 - 324, 2003;
Sternberg, R. J.: A Balance Theory of Wisdom. In: Review of General Psychology 2, S. 347 - 365, 1998)


Eine reale Utopie

Für den Philosophen Immanuel Kant (1724 - 1804) war Weisheit keine Charaktereigenschaft, sondern ein Ideal - unerreichbar, aber als Leitbild wichtig. »Die Idee der höchsten Weisheit ist ein Regulativ in der Nachforschung der Natur«, schrieb Kant 1787 in seinem Hauptwerk »Kritik der reinen Vernunft«. Ähnlich wie Liebe, Gerechtigkeit oder Erkenntnis des Göttlichen mögen wir vollkommene Weisheit nie erringen, doch der Weg ist das Ziel.


Aus Erfahrung klug

Die persönliche Weisheit lässt sich schulen. So steigt die Urteilsfähigkeit von Probanden, wenn sie über vorgelegte Szenarien länger nachdenken oder - noch besser! - mit anderen darüber reden. Auch urteilen Menschen weiser, die von Berufs wegen mit konfliktgeladenen Situationen umgehen: Psychotherapeuten oder Richter etwa. Neben Wissen und Erfahrung verlangt Weisheit vor allem Offenheit, sich mit sich selbst und anderen auseinanderzusetzen - sei es per Tagebuch, in Gesprächen oder auch beim Theaterspielen.


Neuronale Wurzeln

Die Alternsforscher Thomas Meeks und Dilip Jeste von der University of California in San Diego (USA) machten sich auf die Suche nach dem Hort der Weisheit im Gehirn. Sie sichteten bildgebende Studien an Probanden, bei denen »weisheitsbezogene Fähigkeiten« gefragt waren - etwa Gefühle zu regulieren, moralisch knifflige Entscheidung zu fällen oder sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Bei allen der insgesamt sechs betrachteten Komponenten spielte der präfrontale Kortex im Stirnhirn eine wichtige Rolle. Er kontrolliert über neuronale Rückkopplungsschleifen einerseits die Aktivität von Belohnungszentren wie dem ventralen Striatum und dem Nukleus accumbens, andererseits limbische Regionen wie die Amygdala, welche unsere Gefühlsreaktionen steuern.

Diese frontostriatalen und frontolimbischen Netzwerke, die auf die Hirnbotenstoffe Dopamin und Serotonin angewiesen sind, ebnen demnach dem weisen Handeln den Weg. Auf Grund der komplexen Anforderungen, die das psychologische Konstrukt »Weisheit« umfasst, erscheint eine genauere Eingrenzung im Gehirn allerdings schwierig.

(Meeks, T. W., Jeste, D. V.: Neurobiology of Wisdom. A Literature Overview. In: Archives of General Psychiatry 66(4), S. 355 - 365, 2009)


Geschlechtertest

Sind Männer und Frauen auf verschiedene Arten weise? Monika Ardelt legte mehr als 600 Studierenden sowie über 50-Jährigen ihren Weisheitstest (siehe Kasten "Konkurrierende Forschungsansätze" unten) vor. Ergebnis: Frauen - vor allem junge - schnitten im Mittel besser auf der affektiven Skala ab; Männer hatten Vorteile in kognitiver Hinsicht, allerdings nur die älteren. Das Viertel der Probanden mit den höchsten Werten zeigte dagegen keine Geschlechterdifferenz.

(Ardelt, M.: How Similar are Wise Men and Women? A Comparison Across Two Age Cohorts. In: Research in Human Development 6(1), S. 9 - 26, 2009)


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Bildunterschrift 1
Lauf der Dinge
Jeder Mensch entwickelt ein individuelles Maß an Lebensklugkeit - und zwar eher früher als später!

Bildunterschrift 2
Unerwartete Einsichten
Das Alter von Probanden hängt statistisch nicht mit ihrem Abschneiden im Berliner Weisheitstest zusammen. Auch reichere Lebenserfahrung fördert jenseits einer gewissen Schwelle die Weisheit nicht - im Gegenteil.


© 2009 Steve Ayan, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg


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Quelle:
GEHIRN&GEIST 12/2009, Seite 34 - 40
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
Redaktion und Verlag:
Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2009