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FORSCHUNG/177: Vom Gefühl, drei Hände zu haben (idw)


Justus-Liebig-Universität Gießen - 02.10.2013

Vom Gefühl, drei Hände zu haben

Forschung zum Anfassen im wahrsten Sinne des Wortes - Psychologen der Justus-Liebig-Universität Gießen publizieren im Journal Perception zu neuen Versuchen auf der Grundlage der "Rubber-Hand-Illusion"



Manchmal brauchte man eine Hand mehr, und manchmal hat man das Gefühl, drei Hände zu haben. Mit Forschung zum Anfassen - und dies im wahrsten Sinne des Wortes - befassen sich die Gießener Psychologen Dr. Kai Hamburger und Dr. Hartmut Neuf aus der Abteilung Allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU). Angeregt von einer Szene aus dem Film A Chump at Oxford mit Stan Laurel haben sie die bekannten Versuche zur sogenannten Rubber-Hand-Illusion (auf Deutsch Gummi-Hand-Illusion) gezielt erweitert und die Ergebnisse jetzt im Journal Perception veröffentlicht.

Die sogenannte Rubber-Hand-Illusion wurde vor etwa 15 Jahren entdeckt und stellt eine ziemliche Zumutung für den Verstand des Menschen dar, wissen die Gießener Psychologen und erläutern die Versuchssituation: Eine Versuchsperson nimmt an einem Tisch Platz und legt beide Arme auf den Tisch, während gleichzeitig der linke Arm durch ein Tuch optisch vor dem Blick der Versuchsperson verborgen wird. Statt auf den linken Arm blickt die Versuchsperson auf eine linke Hand aus Gummi. Diese liegt genau dort, wo die echte linke Hand liegen würde, wenn beide Arme genau parallel liegen würden. Wenn dann ein Versuchsleiter die echte linke Hand und die Gummihand mit jeweils einem Pinsel gleichzeitig streichelt, bekommen die meisten Versuchspersonen schon nach kurzer Zeit den unerwarteten Eindruck, die für sie sichtbare Gummihand wäre ihre eigene Hand und sie würden die Berührungen wirklich in der Gummihand spüren. Diese gefühlte Körperschema-Illusion ist bei vielen Menschen recht stark ausgeprägt, obwohl sie natürlich von ihrem Verstand her wissen, dass die Gummihand kein Teil ihres Körpers ist. Die Dominanz des Sehsinns bewirkt, dass ein Transfer des taktilen Gefühls in der echten linken Hand auf die sichtbare Gummihand erfolgt.

Dr. Hamburger und Dr. Neuf gehen noch ein erhebliches Stück "über diese Zumutung für den Verstand" hinaus, wie sie sagen. Zu ihren weiteren Forschungen hat sie eine Szene aus dem Film A Chump at Oxford mit Stan Laurel angeregt. In dieser Szene stopft sich Stan, auf einer Parkbank gemütlich sitzend, eine Pfeife mit seinen beiden Händen und lässt sich dabei von einer dritten Hand helfen - ohne dass er dies merkt. Die Gießener Wissenschaftler fragten sich, ob es nicht möglich sein könnte, dass Menschen tatsächlich mehr als zwei Hände als ihre eigenen Hände empfinden könnten. Diese Zurechnung ist natürlich keine Frage des Denkens oder Wissens, sondern - wie bei der Rubber-Hand-Illusion - eine Frage des Körpergefühls beziehungsweise des Körperschemas, das sich das Gehirn aus den verschiedenen Informationskanälen errechnet.

In ihrem Versuch, den sie aktuell in Perception beschreiben, legte eine Versuchsperson eine "ungetarnte" linke Gummihand auf ihre echte rechte Hand (siehe Foto) und begann, mit dem Daumen und ihrem Mittelfinger der echten linken Hand gleichzeitig über den Mittelfinger der Gummihand und den Mittelfinger der rechten Hand zu streicheln. Die Ergebnisse sind verblüffend. Es zeigte sich, dass unser Gehirn noch plastischer zu sein scheint als mit der Rubber-Hand-Illusion gezeigt: Versuchspersonen beschrieben sehr fremdartige Gefühle, die sogar soweit reichten, dass sie wirklich den Eindruck hatten, ansatzweise oder sogar vollkommen drei Hände zu spüren.

Dies ist umso erstaunlicher, da die stimulierende und die stimulierte Person hier identisch sind und die linke Hand nicht verdeckt wird, was einen deutlichen Unterschied zur Rubber-Hand-Illusion ausmacht. Vor diesem Hintergrund erscheint es denkbar, dass künstliche Gliedmaßen vom Gehirn quasi adoptiert werden können, wie dies in einigen Science Fiction Darstellungen (zum Beispiel die "Borg" in Star Trek) als Wirklichkeit präsentiert wird.

Publikation
Hartmut Neuf, Kai Hamburger:
"Approaching Stan Laurel's illusion: The self-induced rubber hand phenomenon"


Die 1607 gegründete Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) ist eine traditionsreiche Forschungsuniversität, die rund 26.000 Studierende anzieht. Neben einem breiten Lehrangebot - von den klassischen Naturwissenschaften über Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Gesellschafts- und Erziehungswissenschaften bis hin zu Sprach- und Kulturwissenschaften - bietet sie ein lebenswissenschaftliches Fächerspektrum, das nicht nur in Hessen einmalig ist: Human- und Veterinärmedizin, Agrar-, Umwelt- und Ernährungswissenschaften sowie Lebensmittelchemie. Unter den großen Persönlichkeiten, die an der JLU geforscht und gelehrt haben, befinden sich eine Reihe von Nobelpreisträgern, unter anderem Wilhelm Conrad Röntgen (Nobelpreis für Physik 1901) und Wangari Maathai (Friedensnobelpreis 2004). Seit 2006 wird die JLU sowohl in der ersten als auch in der zweiten Förderlinie der Exzellenzinitiative gefördert (Excellence Cluster Cardio-Pulmonary System - ECCPS; International Graduate Centre for the Study of Culture - GCSC).

Weitere Informationen unter:
http://www.perceptionweb.com/abstract.cgi?id=p7528
http://www.uni-giessen.de/cms

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution217

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Justus-Liebig-Universität Gießen, Charlotte Brückner-Ihl, 02.10.2013
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2013