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JUGEND/104: Suizidgefahr bei Kindern und Jugendlichen (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014 - Nr. 106

Suizidgefahr bei Kindern und Jugendlichen

Von Paul L. Plener und Jörg M. Fegert



Das soziale und familiäre Umfeld von jungen Menschen spielt eine wesentliche Rolle für das Suizidrisiko. Ein wirksamer Kinder- und Jugendschutz kann Risiken nur dann minimieren, wenn diese Hintergründe ausreichend untersucht und berücksichtigt werden.


Suizidales Verhalten im Sinne von Suizidgedanken, Suizidplanung oder Suizidversuchen ist ein häufiges Phänomen im Jugendalter bis zu 18 Jahren. Etwa ein Drittel aller Jugendlichen in Deutschland hat schon einmal Suizidgedanken gehabt. Zwischen 6 und 9 Prozent (je nach Studie) berichten von einem Suizidversuch - diese Zahlen liegen im europäischen Mittel. Der Median der Lebenszeitprävalenz für Suizidversuche - also die Häufigkeit von Suizidversuchen - bei europäischen Jugendlichen liegt bei 10,5 Prozent (Kokkevi u.a. 2012). Dem gegenüber steht eine zum Glück vergleichsweise geringe Anzahl von etwas über 200 Suiziden in der Altersgruppe der bis 18-jährigen pro Jahr in Deutschland.

Die Gründe für Suizidalität sind vielfältig, das Risiko, einen Suizidversuch zu unternehmen, ist von multiplen externen und internen Faktoren abhängig. In der Literatur wird beschrieben, dass über 90 Prozent der Jugendlichen, die einen Suizidversuch verüben, an mindestens einer psychischen Erkrankung leiden. Neben den auch bei Erwachsenen diskutierten neurobiologischen Bedingungen, wie etwa einer Abweichung im Bereich des Botenstoffs Serotonin (das unter anderem für die Kommunikation zwischen Nervenzellen verantwortlich ist), deuten verschiedene Studien darauf hin, dass vor allem Jugendliche aufgrund des sich in der Entwicklung befindlichen Gehirns für suizidales Verhalten gefährdet sind. Jene Bereiche des Gehirns, die für Entscheidungsfindung, Problemlösungsstrategien und die Kontrolle von Impulsivität verantwortlich und bei Erwachsenen mit Suizidversuchen abweichend aktiviert sind, befinden sich im jugendlichen Gehirn gerade in der Reifung (Heeringen u.a. 2011). Als besonders relevante Risikofaktoren für das Jugendalter wurden Schlafstörungen (auch ohne begleitende Depression) sowie Mobbing-Situationen (etwa im schulischen Umfeld) identifiziert.


Traumatische Erlebnisse erhöhen das Suizidrisiko

Eine häufig wiederholte Erkenntnis betrifft das Vorhandensein von traumatischen Erlebnissen in der Vorgeschichte. So konnte, basierend auf Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gezeigt werden, dass ein sexueller Missbrauch in der Kindheit das Risiko für Suizidgedanken mehr als verdoppelt, das Risiko für Suizidversuche wird durch ein solches Erlebnis fast verdreifacht. Ebenfalls wird durch eine körperliche Misshandlung in der Vorgeschichte das Risiko für Suizidgedanken und für Suizidversuche verdoppelt (Stein u.a. 2010). In Studien zeigte sich wiederholt ein kumulativer Effekt von traumatischen Erlebnissen. Das bedeutet, dass Jugendliche, die in ihrer Vergangenheit wiederholt traumatische Erlebnisse hatten, auch anfälliger sind, einen Suizidversuch zu unternehmen. Sie geben an, kurz vor einem versuchten Suizid mehr traumatische Erlebnisse gehabt zu haben als ihre Altersgenossinnen und -genossen ohne Suizidversuche (hierzu etwa Plener u.a. 2011). Von den amerikanischen Professoren für Psychiatrie David A. Brent und J. John Mann (2006) wurde ein Modell zu familiären Risikofaktoren von Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen erstellt, das Vernachlässigungs- oder Missbrauchserlebnisse im Kontext eines dysfunktionalen familiären Umfelds darstellt.

Nach diesem Modell nehmen einerseits eine psychopathologische Belastung der Eltern und andererseits ein mitunter auch dadurch verursachtes schwieriges familiäres Umfeld sowie mögliche traumatische Erlebnisse Einfluss auf den Suizidversuch eines Kindes. Der amerikanische Psychologe Thomas Joiner geht von einer erhöhten Suizidgefährdung aus, wenn drei Faktoren zusammentreffen: erstens, wenn eine Person das Gefühl hat, für andere Menschen eine Last darzustellen, zweitens, wenn sie sich von anderen Menschen isoliert fühlt und drittens, wenn sie die "Fähigkeit" erworben hat, sich selbst Schaden zuzufügen.

Ein Suizidwunsch verbindet sich mit der sogenannten "acquired capability to suicide", der erworbenen Fähigkeit zum Suizid. In mehreren Studien wurde gezeigt, dass traumatische Erlebnisse die Fähigkeit erhöhen, sich selbst Schaden zuzufügen, und somit Einfluss auf suizidales Verhalten nehmen können. Das Wissen um eine traumatische Vorgeschichte bei Kindern und Jugendlichen sollte also in der Risikobewertung neben anderen Faktoren unbedingt berücksichtigt werden. Sollte sich im Rahmen eines Gesprächs mit Jugendlichen der Hinweis auf eine akute Suizidgefährdung ergeben, muss umgehend eine fachkundige kinder- und jugendpsychiatrische beziehungsweise eine jugendpsychotherapeutische Klärung stattfinden. Notfalls, bei akuter Suizidalität, sollte eine stationäre Aufnahme zur Sicherung der Patientinnen und Patienten (gegebenenfalls auch gegen deren Willen) stattfinden. Die Mehrzahl aller Personen, die durch einen Suizid sterben, hat diesen zuvor angekündigt. Aus diesem Grund gilt auf keinen Fall der Grundsatz "Wer darüber redet, wird es schon nicht tun". Vielmehr sollten Ankündigungen von suizidalen Handlungen immer ernst genommen und kinder- und jugendpsychiatrisch abgeklärt werden.


Bei der Therapie muss die Familie einbezogen werden

Im Bereich therapeutischer Verfahren zur Behandlung suizidaler Kinder und Jugendlicher gab es in den vergangenen Jahren verschiedene Studien, die sich unterschiedlicher therapeutischer Ansätze bedienten (für einen Überblick siehe Kapusta u.a. 2014). Zumeist wurde in den Studien Verhaltenstherapie in Einzel- oder Gruppenmaßnahmen angewendet. Einige Studien hatten einen spezifisch familienzentrierten Ansatzpunkt. Die meisten Studien konnten positive Effekte auf die Suizidgefährdung der Jugendlichen nachweisen. Allerdings waren diese häufig unspezifisch für die jeweils untersuchten Therapieverfahren, was bedeutet, dass sich ein positiver Effekt zumeist auch in der Beobachtungsgruppe zeigen ließ. Ein Unterschied zwischen Interventions- und Beobachtungsgruppe zeigte sich häufig in Bezug auf familienzentrierte Interventionen. Aus diesem Grund scheint es essentiell zu sein, bei einer Therapie von suizidalen Kindern und Jugendlichen deren Familien mit einzubeziehen (Kapusta u.a. 2014)

Das soziale und familiäre Umfeld kann suizidales Verhalten im Kindes- und Jugendalter wesentlich beeinflussen. Wenn dabei interpersonelle Gewalt erfahren wird, sei es durch Missbrauch oder Misshandlung oder durch Mobbingsituationen in der Peer Group, kann sich das Risiko für einen Suizidversuch erhöhen. Konsequent gedachter Kinder- und Jugendschutz muss einerseits bei der Identifikation solcher Bedingungen ansetzen, um durch eine erhöhte Wachsamkeit eine schnelle Intervention zu ermöglichen. Andererseits muss eine erhöhte Wachsamkeit bezüglich suizidaler Verhaltensweisen auch bei dem Wissen um vorhandene traumatische Ereignisse gefordert werden. Das direkte Ansprechen eines Verdachts einer suizidalen Neigung führt nicht - wie häufig fälschlich angenommen wird - zu einer Auslösung suizidalen Verhaltens, sondern kann im Gegenteil als Gesprächsangebot betroffene Jugendliche dabei unterstützen, Hilfen in Anspruch zu nehmen.


DIE AUTOREN

Dr. Paul L. Plener ist Leitender Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf suizidalem Verhalten und nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten.
Kontakt: paul.plener@uniklinik-ulm.de

Prof. Dr. Jörg M. Fegert ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Sein Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit Fragen des Kinderschutzes.
Kontakt: joerg.fegert@uniklinik-ulm.de


LITERATUR

Brent, David A./Mann, J. John (2006):
Familial pathways to suicidal behavior-understanding and preventing suicide in adolescents. In: New England Journal of Medicine, Heft 355, S. 2719-2721

Chehil, Sonia/Kutcher, Stanley P. (2012):
Suicide risk assessment: a manual for health professionals. Chichester

Joiner, Thomas (2005):

Why people die by suicide. Cambridge/London

Kapusta, Nestor D./Fegert, Jörg M./Haring, Christian/Plener, Paul L. (2014):
Psychotherapeutische Interventionen bei suizidalen Jugendlichen. In: Psychotherapeut, Heft 1, S. 16-23

Kokkevi, Anna/Rotsika, Vasiliki/Arapaki, Angeliki/Richardson, Clive (2012):
Adolescents' self-reported suicide attempts, self-harm thoughts and their correlates across 17 European countries. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry, Heft 4, S. 381-389

Plener, Paul L./Singer, Hanneke/Goldbeck, Lutz (2011):
Traumatic events and suicidality in a German adolescent community sample. In: Journal of Traumatic Stress, Heft 1, S. 121-124

Stein, Dan J./Chiu, Wai Tat/Hwang, Irving/Kessler, Ronald C./ Sampson, Nancy/Alonso, Jordi/Borges, Guilherme/Bromet, Evelyn/ Bruffaerts, Ronny/de Girolamo, Giovanni/Florescu, Silvia/Gureje, Oye/ He, Yanling/Kovess-Masfety, Viviane/Levinson, Daphna/ Matschinger, Herbert/Mneimneh, Zeina/Nakamura, Yosikazu/Ormel, Johan/ Posada-Villa, Jose/Sagar, Rajesh/Scott, Kate M./Tomov, Toma/ Viana, Maria Carmen/Williams, David R./Nock, Matthew K. (2010):
Cross-national analysis of the associations between traumatic events and suicidal behavior: findings from the WHO World Mental Health Surveys. Im Internet verfügbar unter:
www.plosone.org/article/info%3Adoi%2F10.1371%2Fjournal.pone.0010574 (Zugriff: 7.4.2014)

Van Heeringen, Cornelis/Bijttebier, Stijn/Godfrin, Karen (2011):
Suicidal brains: a review of functional and structural brain studies in association with suicidal behaviour. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews, Heft 3, S. 688-698


DJI Impulse 2/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2014
- Nr. 106, S. 16-18
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2014