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SOZIALES/104: Sexuelle Gewalt und Machtmißbrauch (Olympe)


Olympe Heft 24 - Dezember 2006
Feministische Arbeitshefte zur Politik

Sexuelle Gewalt und Machtmissbrauch

Von Beatrice Güntert und Barbara Dahinden


Begrifflichkeit

Im Folgenden werden wir den Begriff "sexuelle Gewalt" verwenden. Zu Recht verweisen andere Autorinnen darauf, dass der Fokus der Täter bei sexueller Gewalt nicht auf dem Erleben von Sexualität liegt, sondern auf Machtausübung. Die Sexualität wird als Machtinstrument eingesetzt. Daher sei der Begriff "sexualisierte Gewalt" zutreffender. Da im deutschen Sprachgebrauch dem Begriff "sexualisiert" jedoch eine verharmlosende Konnotation eigen ist, haben wir uns für den Begriff "sexuelle Gewalt" entschieden.

Als Gewalt definieren wir jedes Verhalten, welches anderen Personen, sich selbst, Lebewesen oder Dingen Schaden zufügt. Gewalt umfasst psychische, physische und sexuelle Gewalt im ganzen Spektrum von Anmache bis zur Vergewaltigung. Es ist zentral, gerade die sexuelle Gewalt nicht auf die zwischenmenschliche Dimension zu reduzieren. Sie findet in einem bestimmten soziokulturellen und gesellschaftlichen Umfeld statt. Wenn sozial oder rechtlich verankerte Strukturen bestimmte Gruppen oder Individuen in ihren Rechten einschränken oder ihnen den Zugang zu Ressourcen wie Ausübung politischer Rechte, Bildung oder ein existenzsicherndes Einkommen verwehren, sind diese Diskriminierungen, Formen von struktureller Gewalt. Soziale und rechtliche Strukturen können die Ausübung von sexueller Gewalt fördern oder hemmen. Je nachdem werden betroffene Frauen bekräftigt, sich zu wehren und z.B. juristische Schritte einzuleiten, oder es wird ihnen vermittelt, dass sie dagegen wehrlos oder an der erlebten Gewalt selber schuld seien.

Sowohl Frauen als auch Männer werden im Laufe ihres Lebens häufig Opfer von Gewalt, Männer etwas häufiger als Frauen. Die Gewalttäter sind in beiden Fällen überwiegend Männer. Männer sind häufiger als Frauen Opfer von Körperverletzung, Frauen sind sehr viel häufiger Opfer sexualisierter Gewalt.

Ein deutlicher Unterschied besteht im Kontext des Gewalterlebens: Frauen erleiden mehr Gewalt im sozialen Nahraum durch Beziehungspartner oder Familienangehörige, Männer häufiger im öffentlichen Raum durch Bekannte oder Fremde und im Krieg. Auch die Risiken, die mit der Gewalt verbunden sind, unterscheiden sich: Bei häuslicher Gewalt werden Frauen häufiger als Männer verletzt oder getötet. Das Verletzungsrisiko für Frauen steigt, wenn die körperliche bzw. sexuelle Gewalt von einem Beziehungspartner ausgeht. Für Männer hingegen sinkt das Verletzungsrisiko, wenn die Gewalt von der Beziehungspartnerin ausgeht (Kavemann 2002).

Sexuelle Gewalt hat so wenig mit Sexualität zu tun, wie eine Bratpfanne, mit welcher eine Frau geschlagen wird, mit Kochen zu tun hat. Sexualität wird bei sexueller Gewalt als Mittel genutzt, um Frauen zu erniedrigen. Noch immer gibt es zu viele Mythen im Zusammenhang mit sexueller Gewalt. Ein für die Wahrnehmung von sexueller Gewalt relevanter Mythos ist der sogenannte Triebstau: Ein Mann ist seiner Sexualität nahezu willenlos ausgeliefert, sexuelle Betätigung mit Samenerguss muss regelmässig erfolgen, sonst verliert er die Kontrolle über sein Verhalten und wird sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit sexuell abreagieren. Dieser pointierten Darstellung wird kaum noch jemand zustimmen wollen. Dennoch ist diese Vorstellung bei der Beurteilung von Sexualdelikten immer noch wirksam. Betroffene Frauen erleben immer wieder, dass ihnen die Verantwortung für das Täterverhalten zugeschoben wird.

Sexuelle Gewalt hat mit Macht zu tun. Täter wollen sich nicht sexuell befriedigen, sondern geniessen die Angst, Erniedrigung und Demütigung der Opfer. Aussagen von Tätern zu ihrer Motivation (Godenzi 1989) bestätigen dies. Dafür spricht auch die Tatsache, dass 70 Prozent der Täter während der Tatbegehung sexuell disfunktional sind. Sie haben kein vollständig erigiertes Glied, keinen Orgasmus und keinen Samenerguss. Die Taten sind nicht spontane Impulsdurchbrüche, sondern werden strategisch vorbereitet. Bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz will der Täter die Mitarbeiterin durch sein Verhalten auf den ihr gebührenden Platz, nämlich unter seiner Gewalt stehend, verweisen. Frauen nehmen das wahr. Deshalb kann eine Bemerkung zum Aussehen als ein Kompliment den Selbstwert stärken und Freude machen. Derselbe Satz, vor dem Hintergrund einer machtorientierten Motivation gesprochen, vermittelt der Frau das Gefühl, beschmutzt und erniedrigt zu werden.


Macht und Geschlecht

In den patriarchal geprägten Zivilisationen ist dies für Frauen eine jahrtausende alte Leidensgeschichte. Immer wieder wird und wurde den Frauen das Recht auf Gleichstellung abgesprochen. Im Mittelalter wurde argumentiert, Frauen hätten keine Seele, also seien sie mehr Tiere als Menschen und müssten von den Männern mit strenger Hand erzogen und diszipliniert werden. Die Folgen dieser Zuschreibungen hielten sich lange. So galt es noch im letzten Jahrhundert als wissenschaftlich erwiesen, dass Frauen nicht rational denken könnten, weil ihre triebhafte Sexualität und die unkontrollierte Emotionalität ihre Denkfähigkeit störten. Deshalb wurden die Frauen nicht an politischen und wirtschaftlichen Prozessen beteiligt. Die Definitions- und Handlungsmacht war fest in den Händen einer patriarchal geprägten Oligarchie. So wurden in der Medizin des 19. und 20. des Jahrhunderts die gegen die herrschenden Macht- und Geschlechterverhältnisse aufbegehrenden Frauen pathologisiert. Sie wurden durch Hirnoperationen verstümmelt und so zum Schweigen, zur Anpassung an das erwartete Rollenmodell gebracht. Susan Brownmiller hat in ihrem 1975 erschienenen Buch "Gegen unseren Willen - Vergewaltigung und Männerherrschaft" eine umfassende Analyse vorgelegt, wie sich Männergewalt gegen Frauen seit Jahrtausenden systematisch und strukturell gestützt der Sexualität bedient. Leider treffen ihre Feststellungen auch heute noch zu. So werden in kriegerischen Auseinandersetzungen Vergewaltigungen systematisch eingesetzt, um die Gegner als Individuen und als Angehörige einer bestimmten Nation oder Ethnie durch die Schändung ihrer Frauen zu demütigen und zu entehren. In der kongolesischen Provinz Nord-Kivu wie auch im Sudan, in der Region Darfur, besteht auch heute ein Teil der Kriegsführung der verschiedenen bewaffneten Gruppen in der systematischen Vergewaltigung von Frauen. Und erst vor fünfzehn Jahren wurden unter den Blicken eines untätigen Europas im serbisch-bosnischen Krieg Frauen in Lagern interniert und systematisch vergewaltigt und geschwängert, um den Gegner zu treffen.

In der Schweiz mussten die Frauen die juristische Gleichstellung in vielen Fällen einzeln erkämpfen, bis sich die Rechtsprechung dem veränderten Rollenverständnis der Geschlechter anpasste. So pflegten viele Ehepaare bei der Bestimmung des Familienwohnsitzes einen gleichberechtigten Umgang, dem das Eherecht erst viel später Rechnung trug. Die Offizialisierung von Gewalt in der Ehe wie auch die rechtliche Gleichstellung von Vergewaltigung durch den Ehemann mit derjenigen durch einen Täter, der mit dem Opfer nicht standesamtlich verbunden ist, zeugen von einem neuen gesellschaftspolitischen Bewusstsein. Gewalt gegen Frauen und Kinder ist nicht ein privates Geschehen, sondern geht die ganze Gesellschaft an. Dieser Bewusstseinswandel war kein spontaner Prozess, sondern das Ergebnis langjähriger hartnäckiger Frauenpolitik.


Sexuelle Gewalt als juristisches Delikt

Sexuelle Gewalt umfasst verschiedene juristische Straftatbestände. Sexuelle Belästigung findet statt auf der Strasse, wenn frau hinterher gerufen und -gepfiffen wird, im Alltag durch sexistische Darstellungen in den Medien, am Arbeitsplatz, wenn ihr Aussehen kommentiert wird. Nicht ein spezifisches Verhalten, sondern das Erleben der betroffenen Frau und die Intention des Täters konstituieren den Tatbestand der sexuellen Belästigung. Sexuelle Nötigung steht für anale und orale Vergewaltigung, für einen Vergewaltigungsversuch. Als Vergewaltigung gilt juristisch lediglich die Penetration des Penis in die Vagina. Im Erleben von Betroffenen oder im Ausmass der Traumatisierung lässt sich jedoch nicht zwischen versuchter und vollendeter Vergewaltigung unterscheiden. Auch spielt es keine Rolle, mit welchem Instrument und an welchem Ort der Körper penetriert wird. Schändung bezeichnet die sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung einer Frau, welche wehrunfähig ist, bewusstlos, gefesselt und geknebelt, unter Drogeneinfluss. Alkohol wurde seit je genutzt, um Frauen ausser Gefecht zu setzen. In den letzten Jahren nehmen die Fälle von Vergewaltigungen mit sogenannten Knockout-Drogen wie z.B. Liquid Ecstasy deutlich zu.

Stalking ist in der Schweiz noch kein Straftatbestand, wird jedoch zunehmend als juristisch relevantes Verhalten anerkannt. Der Täter verfolgt sein Opfer persönlich, mit Briefen, Telefonanrufen, SMS oder E-Mails. Er akzeptiert nicht, dass sein Opfer seine Liebesgefühle nicht erwidert. Die Verehrung kann umschlagen in Hass, so dass auf die Liebesbezeugungen plötzlich Drohungen und häufig sexuelle Gewalt folgen.

Die oben genannten Formen von sexueller Gewalt bezeichnen juristische Straftatbestände. Gesetze sind die Voraussetzung, dass gegen Gewalt geklagt werden kann. Sie sind jedoch nicht ausreichend. Die Strukturen des juristischen Apparates müssen so gestaltet sein, dass Betroffene ihre Rechte kennen und wahrnehmen können. So werden im Schweizer Strafrecht Angeschuldigten bestimmte Verfahrensrechte zugestanden. Das 1993 in der Schweiz eingeführte Opferhilfegesetz gewährleistet heute auch den Schutz von Gewalt-Betroffenen während eines Verfahrens. Dadurch wurden institutionelle und strukturelle Hindernisse abgebaut, welche Frauen zuvor daran hinderten, Gewalt- und Sexualdelikte zur Anzeige zu bringen. Nur zu oft wurden Frauen durch die Strukturen des Justizapparats retraumatisiert. Dank der Aufklärungsarbeit durch die Frauenbewegung wurden speziell im Umgang mit Opfern von sexueller Gewalt deutliche Fortschritte erreicht. So können Opfer in der Schweiz verlangen, von einer Person des eigenen Geschlechts befragt zu werden. Da die meisten Sexualdelikte von Männern begangen werden, ist es für die weiblichen Opfer oft schwierig, die erlebte Tat in allen Details einem Mann erzählen zu müssen. In vielen Kantonen werden die einvernehmenden PolizistInnen für die Einvernahmen zu Sexualdelikten speziell geschult, damit den Auswirkungen der traumatischen Erfahrung auch Rechnung getragen werden kann.

Die meisten Zahlen stammen aus den Statistiken der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden. Deren Tätigkeit ist quasi der Scheinwerfer, welcher vorgefallene Straftaten ans Licht der Statistik resp. der Öffentlichkeit hebt. Aus den vorhandenen Befragungen zu sexueller Gewalt, wie etwa zu sexueller Belästigung in der Schweiz (Ducret 2003), geht hervor, dass viele, auch gravierende Sexual- und Gewaltdelikte nicht zur Anzeige gelangen. Betroffene Frauen machen keine Anzeige, weil sie fürchten, dass ihnen nicht geglaubt wird. Oder sie sind unsicher, ob die Belästigungen, Drohungen oder Übergriffe strafbar sind. Manche Frauen wissen nicht, dass ihr Partner sie nicht zu sexuellen Handlungen zwingen darf. Die publizierten Zahlen aus Polizeistatistiken zeigen vermutlich nur die Spitze des Eisbergs. In der Schweiz haben 2003 zwei von fünf Frauen, d.h. fast die Hälfte der Befragten einer Untersuchung der Universität Lausanne, angegeben, dass sie mindestens einmal in ihrem Erwachsenenleben Opfer von körperlicher und/oder sexueller Gewalt geworden sind.


Ungleiche Machtverteilung

Bei sexueller Ausbeutung in Abhängigkeitsbeziehungen wird der Machtaspekt bei sexueller Gewalt besonders deutlich. So sind Kinder gegenüber älteren Kindern oder Jugendlichen, Erwachsenen, Lehrpersonen etc. mehrfach unterlegen: Sie verfügen über weniger Körperkräfte, sind emotional und real abhängig, können das Geschehen noch nicht kognitiv einordnen. Auch die Abhängigkeitsbeziehungen im Erwachsenenalter sind durch ein deutliches Machtgefälle gekennzeichnet. In ärztlichen, therapeutischen oder seelsorgerischen Kontexten liegt die Beurteilungs- und Definitionsmacht, was helfen kann und welches Verhalten angebracht ist, in den Händen der "Experten". Häufig besteht durch den Leidensdruck der Hilfesuchenden auch eine emotionale Abhängigkeit von den Experten, welchen ein Vertrauensvorschuss eingeräumt wird. Diese positiven Zuschreibungen werden von ausbeutenden Behandelnden benutzt, um eine mögliche Abwehr von Betroffenen zu verhindern. Die Wahrnehmung der Betroffenen wird systematisch in Frage gestellt. Das verunsichert Betroffene grundsätzlich und hindert sie daran, sich gegen Grenzüberschreitungen und Ausbeutung effektiv zu wehren. Ausbeutung in Abhängigkeitsbeziehungen wirkt sich auch deshalb so gravierend aus, weil nicht das Wohl der Behandlung suchenden Person, sondern die Befriedigung der Behandler im Zentrum steht. Dadurch werden für eine Betroffene die eigene Wahrnehmung und das ganze Sozial- und Gesundheitssystem fragwürdig. In Altersheimen, Pflegeinstitutionen oder Einrichtungen für Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen, Gefängnissen etc. besteht ebenfalls ein institutionelles Machtgefälle zwischen BewohnerInnen und Angestellten.

Ungleiche Machtverteilung ohne entsprechende Reflexion und Kontrolle erhöht das Risiko von Gewalttätigkeit. Deshalb braucht es in sozialen Einrichtungen spezielle Anlaufstellen für Gewaltopfer, damit sie sich wehren können. Frauen mit Behinderungen etwa unterliegen mehrfache Diskriminierungen, sie leiden an mehrfachen Machtdefiziten und sind überdurchschnittlich oft von sexueller Gewalt betroffen, wie die Untersuchung von Zemp/Pricher 1996 aufzeigte. Frauen mit Behinderung benötigen Zugang zu fachlich kompetenten Beratungsstellen. Es braucht ausserdem Strukturen, um Wissen über sexuelle Gewalt und Macht zu vermitteln, Strukturen, die den Austausch unter den Mitarbeitenden über fachliche Fragen, aber auch über Konflikte mit BewohnerInnen oder Mitarbeitenden sichern. Die Ermächtigung von Mitarbeitenden, ihre Arbeitssituation mitzugestalten, wirkt sich präventiv gegen den Missbrauch des strukturellen Machtgefälles aus.


Folgen von sexueller Gewalt

Sexuelle Gewalt ist eine hochtraumatische Erfahrung, welche mit grosser Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung führen kann. Das Erleben der Opfer ist vergleichbar mit demjenigen von Folteropfern. Sowohl durch Folter wie auch durch sexuelle Gewalt werden neben der körperlichen Integrität auch die psychische und die sexuelle Integrität der Betroffenen verletzt. Nach sexueller Gewalt sind die physischen Verletzungen oft nicht lebensbedrohlich und können verheilen, die anhaltenden katastrophalen Auswirkungen haben andere Ursachen. Die Frauen werden im Kern, in ihrem tiefsten Selbstverständnis und Selbsterleben als Frau verletzt und gedemütigt. Deshalb wirken sich die Folgen des Erleidens sexueller Gewalt in allen Lebensbereichen aus. Körperliche Beschwerden wie Schmerzen und vegetative Erregungszustände, psychische Beeinträchtigung durch Depressionen, Angststörungen und unkontrollierbares Wiedererleben der Tat (Flashbacks), psychosoziale Einschränkungen durch generalisiertes Misstrauen und/oder Stigmatisierung durch die Umgebung, ökonomische Einbussen durch Arbeitsplatzverlust und eine eigentliche Wert- und Sinnkrise gehören zu den üblichen, einschneidenden Folgen von sexueller Gewalt. Es sind normale Reaktionen auf eine anormale Erfahrung.

Die Auswirkungen von sexueller Gewalt haben auch eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Dimension. Die Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Schweiz kostet die öffentliche Hand mindestens 400 Millionen Franken pro Jahr. Diese Schätzung umfasst die Kosten von Polizei, Justiz und Strafvollzug, Krankheits-, Sozial- und Opferhilfekosten, ohne die Kosten für die Unternehmen, die Sozialversicherungen und die individuell getragenen finanziellen Aufwendungen (Godenzi 1998).

Strukturell werden die Folgen von sexueller Gewalt verstärkt durch das vorherrschende Rollenverständnis von Mann und Frau. Die Sozialisierung der Frauen erschwert es ihnen häufig, auf sexuelle Gewalt adäquat zu reagieren. Der Ausdruck von eigenen Vorstellungen, Wünschen oder Bedürfnissen wird bei Frauen sehr schnell als aggressiv oder unangemessen emotional wahrgenommen. Viele Frauen fühlen sich mehr als Männer für das Geschehen innerhalb einer Begegnung oder einer Beziehung verantwortlich. Sie hinterfragen sich nach erlebter Gewalt, was sie falsch gemacht haben. Sie finden Gründe, um sich das Unglaubliche erklären zu können: "Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann hätte ich die Möglichkeit gehabt, mich so zu verhalten, dass mir keine Gewalt widerfahren wäre". So kann das Erleben der absoluten Hilf- und Machtlosigkeit während der Gewalttat durch Schuldgefühle auf ein erträglicheres Mass reduziert werden. Aus der Forschung wissen wir, dass nicht das Verhalten der Frauen die Gewalttat verursacht. Die Täter überlegen sich im Vorfeld sehr genau, unter welchen Umständen sie eine Frau mit dem geringsten Risiko misshandeln können. Sie gehen gezielt und strategisch vor. Das bedeutet für die Frauen, dass nicht ihr Aussehen, ihre Aufmachung oder ihr zustimmendes oder ablehnendes Verhalten sie zu Opfern macht, sondern die Täter und ihre Strate gie.

Neben den Schuldgefühlen hindert auch tiefe Scham betroffene Frauen daran, Hilfe und Unterstützung zu holen. Das Erleben von Hilflosigkeit und Demütigung vermittelt ein grundlegendes Gefühl von Nicht-mehr- richtig-Sein. Sie fühlen sich beschmutzt und beschädigt.

Die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse nach Nähe, Geborgenheit, Erotik und Sex wird durch die auf andere Menschen fokussierende Sozialisierung der Frauen erschwert. Wohl getraut sich kaum jemand, die Dichotomie von Maria und Hure direkt anzusprechen. In den Köpfen existiert diese Polarisierung jedoch weiter und unterstellt einer Frau, welche ihre Sexualität selbstbestimmt leben will, sehr rasch: "Die treibt es ja mit jedem", im Sinne von "Die ist für jeden verfügbar".


Sexualisierung des Alltags

In den westlich geprägten Kulturen herrscht eine sexualisierte Darstellung von Frau und Mann vor. Frauen, zunehmend auch Männern, wird vermittelt, dass sexuelle Attraktivität, ein Körper in ganz bestimmten Ausmassen in einer ganz bestimmten Aufmachung von zentraler Bedeutung sind für ein erfülltes, erfolgreiches Leben. Für ein sexuell anziehendes Aussehen ist jeder physische, finanzielle und medizinische Aufwand gerechtfertigt. Damit wird der Objektcharakter der Frauen betont. Frauen sind ein zu gestaltendes Objekt, über das verfügt wird - von Männern.

Im Internet finden sich extrem gewalttätige und erniedrigende pornographische Darstellungen. War früher die Beschaffung von verbotener Pornographie und von anderen Gewaltbildern mit Aufwand und dem Risiko einer Strafverfolgung verbunden, sind solche Bilder trotz des weitern bestehendes Verbot heute anonym und leicht zugänglich. Immer Jüngere werden in ihrem Alltag mit Bildern von physischen und sexuellen Gewalttaten konfrontiert, welche sie nicht einordnen können. In der Forschung gilt es als umstritten, ob der Konsum von Gewaltbildern eigenes gewalttätiges Verhalten fördert. Da mentales Probehandeln in der kognitiven Entwicklung des Menschen jedoch eine wichtige Rolle einnimmt, scheint die Schlussfolgerung nahe liegend, dass fortgesetztes Konsumieren von Gewaltbildern der Erzeugung eigener Gewaltphantasien und deren Umsetzung in die Realität den Weg bahnen. Durch die wiederholte Konfrontation mit sexualisierten Bildern und gewalttätiger Pornographie findet eine Gewöhnung statt, welche eine solche Sexualität für einen Jugendlichen als etwas Normales erscheinen lässt.


Sexuelle Gewalt und Migration

Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder wurzelt in den noch heute bestehenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und den vorherrschenden Rollenbildern von Frau und Mann. Abhängigkeit und ungleiche Machtverteilung erhöhen das Risiko von Machtmissbrauch und damit von sexueller Gewalt. Migrantinnen befinden sich aufgrund der dominanten Zuschreibungspraxis der Einwanderungskultur in einer geschwächten Position. Sie werden als rechtlose und bedrohliche "Fremde" erlebt und behandelt. Sie werden als vermeintlich ungebildete und unwissende Frauen wahrgenommen und aufgrund der restriktiven Migrationspolitik zum exotischen Sexobjekt gemacht. Ihr Aufenthalt ist u.U. in der Heirat mit einem Schweizer Mann begründet. Der Mangel an Information über die Rechte der Frauen in der Gesellschaft bewirkt, dass sie weder die Gesetze noch die sozialen Regeln im Umgang zwischen Frau und Mann in der Aufnahmegesellschaft kennen. Sie haben kein Sozialnetz, in welchem sie sich austauschen und informieren können. Sie sprechen und verstehen die Landessprache nicht und haben deshalb keinen Zugang zu Beratungsstellen. Aus diesen Gründen sind migrierende Frauen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, das Ziel von sexueller Gewalt zu werden.

Frauen fliehen vor spezifischen Formen von Gewalt: Beschneidung, Zwangsverheiratung, Zwangsabtreibungen, grausame Sanktionen bei missliebigem Verhalten wie etwa Steinigung nach Ehebruch. Häufig werden sie auf der Flucht durch Schlepperbanden nicht nur finanziell, sondern auch sexuell ausgebeutet. Diese Traumatisierung und die Angst, ins Herkunftsland zurückgeschafft zu werden, erschweren es Frauen im Migrationskontext zusätzlich, sich gegen sexuelle Gewalt zu wehren. In der Schweiz werden solche frauenspezifischen Fluchtgründe nur anerkannt, wenn zusätzlich eine staatliche Verfolgung und eine Existenzbedrohung nachgewiesen werden können.


Prävention von sexueller Gewalt

Da sexuelle Gewalt auf dem Boden bestimmter struktureller Machtgefüge stattfindet, setzt nachhaltige Prävention voraus, dass die vorhandenen Rollenbilder, Vorurteile und Menschenbilder bewusst gemacht und hinterfragt werden. Dazu gehört auch die Schaffung von gesellschaftlichen Strukturen, welche allen Frauen Zugang zu Ressourcen wie Bildung, Geldmittel, Justizsystem und die Beteiligung an gesellschaftlichen und politischen Prozessen garantieren. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann heute effizienter bekämpft werden, weil der Arbeitgeber dank dem Gleichstellungsgesetz die Pflicht hat, seine Angestellten davor zu schützen. ArbeitnehmerInnen können klagen, wenn der Arbeitgeber dieser Verpflichtung nicht oder ungenügend nachkommt. In den Firmen wurden interne Strukturen zur Unterstützung von Betroffenen eingerichtet. Da firmeninterne Vertrauenspersonen in einen Interessenkonflikt zwischen Opfer-Unterstützung und Loyalität gegenüber dem Unternehmen, im Extremfall gegenüber dem Täter geraten können, sind externe Beratungsstellen noch immer zentral für eine optimale Unterstützung von betroffenen MitarbeiterInnen. Am Beispiel der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz zeigt sich, dass es neben Gesetzen auch bestimmte Strukturen wie interne Anlaufstellen, MitarbeiterInnen-Information und externe Beratungsstellen braucht, um bestimmte Gewaltformen wirksam verfolgen und verhindern zu können.

Aus den obigen Ausführungen wird auch deutlich, dass die Prävention von sexueller Gewalt eine konsequente Umsetzung der Menschenrechte und eine ebenso entschiedene Ächtung von Verstössen dagegen voraussetzt. Das kann bedeuten, dass auch in der Wirtschaft mehr Druck in Richtung soziale Produktions- und Arbeitsbedingungen gemacht werden muss.


Literatur

Brownmiller S., Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2000.
Godenzi A., Bieder, Brutal, Unionsverlag, 1989.
Godenzi A., Yodanis C., Erster Bericht zu den ökonomischen Kosten der Gewalt gegen Frauen, Universität Fribourg 1998.
Ducret V., Sexuelle Belästigung - Was tun? VdF Hochschulverlag, 2003.
Kavemann B., Gewalt gegen Männer - ein vernachlässigtes Problem? Vortrag zur Fachveranstaltung der FHVR Berlin, 18.11.2002.

Autorinnen

Beatrice Güntert, Sozialarbeiterin FH und Supervisorin, lebt in Feuerthalen. Sie arbeitet seit vielen Jahr mit gewaltbetroffenen Frauen. Als Mitarbeiterin der Beratungsstelle Nottelefon für Frauen - gegen sexuelle Gewalt Zürich begleitet sie das Präventionsprojekt Luna seit 2004.

Barbara Dahinden, ist Psychologin und lebt in Zürich. Sie ist Mitarbeiterin der Beratungsstelle Nottelefon für Frauen - Gegen sexuelle Gewalt in Zürich und Mitglied der Begleitgruppe des Präventionsprojektes Luna, welches vom Sozialdepartement der Stadt Zürich finanziell unterstützt wird.


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Quelle:
Olympe Heft 24 - Dezember 2006, Seite 29-38
Feministische Arbeitshefte zur Politik
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2007