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SOZIALES/125: "Affenliebe" - Wenn Eltern nicht loslassen können (Uni Bielefeld)


BI.research 36.2010
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"Affenliebe"
Wenn Eltern nicht loslassen können

Von Sabine Schulze


Die Liebe zwischen Eltern und Kind, sie sollte unverbrüchlich sein. Und doch macht sich der 40-Jährige, der noch bei Mama wohnt, zum Gespött. Und werden Eltern, die ihren Nachwuchs auf einen Sockel stellen, die schlicht alles, was der tut, kritiklos hinnehmen, jeden Weg bahnen und eigene Bedürfnisse hintan stellen, belächelt: Diese Art der Beziehung scheint zu symbiotisch, zu fixiert, zu blind. "Affenliebe" sagt der Volksmund. Und meint damit ein Klammern, die Unfähigkeit loszulassen. Aber gibt es tatsächlich ein Übermaß an Liebe? Das ist für Prof. Dr. Nina Heinrichs, Psychologin an der Universität Bielefeld, nicht die Frage. Über ein Zuviel an Liebe werde die sprichwörtliche Affenliebe auch nicht definiert, sagt sie. "Es geht vielmehr darum, dass ein Kind in seiner Autonomie eingeschränkt wird. Und das ist nicht gut. Die Ablösung von den Eltern ist wichtig." Freiheit in Grenzen, die je nach Entwicklungsphase verschoben werden: Das sei erforderlich.


Bedingungslose Liebe, aber mit Bewusstsein für Grenzen

Ohnehin zögert die Psychologin, das elterliche Verhalten, das sich in blinder und übertriebener Hinwendung zum Kind zeigt, als Liebe zu bezeichnen: "Darüber kann man streiten, ob so etwas immer aus Liebe erwächst. Und selbst wenn, muss das ja nicht richtig sein." Ohne Frage, sagt Heinrichs, müsse ein Kind das Gefühl haben, dass die Liebe der Eltern nicht an Bedingungen geknüpft ist. "Aber ein Kind muss eben auch Anpassung, den Umgang mit anderen lernen." Und da sei eine dauerhafte Zentrierung der Eltern, ein Kreisen um den Nachwuchs, nicht hilfreich. Dass es nicht der Nabel der Welt sei, sagt die Psychologin, könne man einem Kind vermitteln. "Ein Zuviel an Nachsicht und ein Zuwenig an Grenzen - das gibt es eben. Und es muss nicht unbedingt mit Liebe erklärt werden." Vielfach liegt das elterliche Verhalten auch in der eigenen Sozialisation begründet. "Viele wollten nicht werden wie die eigenen Eltern. Und gewinnen irgendwann doch die Erkenntnis: Mein Verhalten ist sehr ähnlich." Gewalt in der Erziehung pflanzt sich erwiesenermaßen fort, und andere Verhaltensmuster eben auch. Ein Bewusstsein dafür und der Wille, an sich zu arbeiten, sagt Heinrichs, seien nötig, um das aufzubrechen. Dass die Affenliebe weiblich ist, mag sie nicht unterschreiben. "Sicher, dieses beobachtbare Verhalten findet man eher bei Müttern. Aber das liegt einfach daran, dass sie primär die Kinder betreuen." Spätestens, wenn die Tochter als Jugendliche einen ersten Freund habe, würden auch so manche Väter sehr behütend. Ob es dabei immer um Schutz oder vielleicht auch um das Halten gehe, das sei nicht immer zu trennen, sagt Heinrich. "Aber es ist eben so: Je näher mein Kind bei mir ist, desto eher kann ich es schützen."


"Normalität": Kein schmaler Grat!

Dabei gilt durchaus, dass eine stabile, eindeutige Bindung, die Autonomie zulässt, weniger Kontrolle benötigt. "Vertrauen ersetzt Kontrolle." Jugendliche haben zudem schon andere kognitive Fähigkeiten und den Wunsch, selbst zu entscheiden. "Allerdings: Der langfristige Blick ist noch nicht da. Und das ist es, was Eltern fürchten: Fehlverhalten und Fehlentscheidungen, die sich auswirken." Dabei, gibt sie Eltern mit auf den Weg, sei der Bereich der Normalität, in dem junge Menschen ohne schwerwiegende Folgen agieren können, doch sehr groß. Bei zu großer Einschränkung der Autonomie, warnt sie, könne es zu zwei Reaktionen kommen: Zum Überschreiten der Grenzen bis hin zum Oppositionellen, zum Expansiven, oder auch zum Rückzug nach Innen. "Erwachsene müssen die Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und darauf reagieren." Dass Affenliebe auch ein Mittel der Kompensation sein kann, gesteht Nina Heinrichs zu. Man will für das eigene Kind erreichen, was man selbst versäumte. Oder man sucht sich ein anderes Objekt für die eigene Zuwendung, weil die Partnerschaft gestört ist. "Dabei stellt sich aber die Frage: Was ist Henne und was ist Ei?" Denn womöglich ist gerade das Verhalten des Kindes ursächlich für eine schwierige Partnerschaft.


Gefährdung der Partnerschaft

"Bei psychologischen Auffälligkeiten von Sohn oder Tochter sind die Anforderungen an die Eltern andere, und das kann eben zu Problemen zwischen den Partnern führen." Sie nennt das berühmte Beispiel des Kindes, das bei den Eltern im Bett schläft. "In bestimmten Phasen oder bei einer Krankheit ist das normal. Aber es gibt 14-Jährige, die seit dem dritten Lebensjahr im Bett der Eltern schlafen. Da hat dann in der Regel ein Elternteil das Feld geräumt und schläft im Kinderzimmer." 80 Prozent aller Kinder, betont die Psychologin, entwickeln sich normal, wobei die Normalität durch eine große Heterogenität gekennzeichnet ist. 20 Prozent der Kinder aber weichen ab. Und das kann eben zu partnerschaftlichen Konflikten führen. Wie umgekehrt partnerschaftliche Konflikte natürlich auch zu psychischen Störungen des Kindes führen können. Dass die "Affenliebe" womöglich eher ein Phänomen bei Ein-Kind-Familien ist oder womöglich eher ein Verhalten von nicht-berufstätigen Müttern, die sich an ihren Lebensinhalt und ihre Aufgabe klammern, mag Heinrichs nicht unterstellen. "Dazu gibt es auch keine Studien. Die Mehrzahl der Eltern schafft es, die eigenen Kinder loszulassen, unabhängig von der Berufstätigkeit."


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Quelle:
BI.research 36.2010, Seite 22-25
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2010