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VERBAND/118: Zur europaweiten Erhebung von psychischen und neurologischen Erkrankungen (BDP)


Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP)
Pressemitteilung vom 7. Oktober 2011

Endlich die richtigen Konsequenzen ziehen

Psychologen fordern politische Schritte angesichts der jüngsten europaweiten Erhebung zu psychischen und neurologischen Erkrankungen


Nach Abschluss der Neubewertung der Größenordnung psychischer und neurologischer Erkrankungen und ihrer Kosten in allen europäischen Ländern sollte aus Sicht des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) Handlungsbedarf auf verschiedenen politischen Feldern endlich für jedermann erkennbar sein. Wenn 38 Prozent der EU-Bevölkerung in allen Altersstufen in jedem Jahr von klinisch bedeutsamen psychischen und/oder neurologischen Erkrankungen betroffen sind, dann zeigt das nach den Worten von BDP-Präsidentin Sabine Siegl auf der einen Seite, das dies die größte gesundheitsbezogene Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist. Zum anderen mache es deutlich, dass psychische Erkrankungen genauso zum Leben gehören wie körperliche. "Niemand kommt auf die Idee anzuzweifeln, dass wie im Bundesgesundheitssurvey gezeigt 60 bis 70 Prozent aller Erwachsenen Deutschen einmal im Jahr ein physisches Leiden haben, bei psychischen Erkrankungen wird aber von verschiedenen Seiten sofort gefragt, ob das jetzt Mode werde oder gar, ob solche Diagnosen der Arbeitsbeschaffung für Psychotherapeuten dienten. Das ist haarsträubend."

Der BDP sieht in den veröffentlichen Daten, die in großen Bevölkerungsstudien erhoben wurden, bei denen verlässliche Instrumente wie z.B. umfangreiche diagnostische Interviews eingesetzt wurden, die Bestätigung für bereits in der Vergangenheit durch den Verband getroffene Einschätzungen. "Hier wurden keine Befindlichkeitsmessungen vorgenommen, sondern epidemiologische Studien ausgewertet, die standardisierte Diagnosen im Sinne der international anerkannten diagnostischen Kriterien verwendet haben", betont auch Prof. Dr. Frank Jacobi (Psychologische Hochschule Berlin des BDP und Technische Universität Dresden).

Jacobi, der mit Studienleiter Prof. Dr. Hans-Ulrich Wittchen (TU Dresden) das Forschungsprojekt koordinierte, sieht in den Zahlen auch positive Aspekte wie z.B. den Rückgang von Fehlversorgung in der Vergangenheit. "Heute werden Leute wegen psychischer Störungen krankgeschrieben, bei denen man vor 20 Jahren irrtümlich noch ganz andere Diagnosen gestellt hätte." Ärzte erkennen psychische Störungen s.E. heute besser, wenngleich die Anteile des psychischen Bereichs in der klinischen Ausbildung noch immer zu gering seien.

Alarmierend ist nach Auffassung des BDP, dass laut Studie trotz entsprechender Diagnosen nur ein Drittel der Betroffenen überhaupt wegen psychischer Beschwerden in Kontakt mit dem Gesundheitssystem steht und davon wiederum nur ein kleiner Teil auch fachgerecht versorgt wird. "Wenn Leute mal für vier Wochen Antidepressiva nehmen oder eine Psychotherapie mit weniger als sechs Sitzungen absolvieren, dann ist das keine adäquate Behandlung und widerspricht nationalen und internationalen Behandlungsleitlinien", erklärt Frank Jacobi.

Was in dieser Situation von der Politik initiiert wird - man denke nur an das Versorgungsgesetz - geht nach Jacobis Worten klar an den Erfordernissen vorbei. Das betreffe insbesondere die sogenannte Bedarfsabschätzung, die völlig ignoriere, dass der Bedarf in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist. "So entstehen diese unhaltbaren Wartezeiten", beklagt der Wissenschaftler. Vorausschauende Planung, die die Bezeichnung verdient, müsse zudem die Zunahme von neurodegenerativen Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und anderen einbeziehen, die sich aus der steigenden Lebenserwartung und dem wachsenden Anteil alter Menschen an der Bevölkerung ergibt.

Das Update früherer Studien wurde unter Führung des European Brain Council jetzt vorgenommen in der festen Überzeugung, dass europaweit Handlungsbedarf besteht. "Dafür braucht die Politik verlässliche Zahlen, und die haben wir geliefert", sagt Frank Jacobi. "Wir brauchen dringend sowohl eine Aufstockung bei der Versorgung psychisch Kranker mit Psychotherapie als auch eine Flexibilisierung der bereits vorhandenen Ressourcen an manchen Stellen." Es müsse Patienten leichter gemacht werden, Psychotherapie zu nutzen.

Unterstützung bei der Überzeugungsarbeit verspricht sich BDP-Präsidentin Sabine Siegl von den eindrucksvollen Zahlen, die zusammen mit der Studie präsentiert wurden. Danach betragen die Kosten für psychische Erkrankungen in Europa 800 Mrd. Euro (das entspricht den Kosten für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes zusammen). Es handelt sich dabei in hohem Maße um indirekte Kosten, weil diese Störungen eher Beeinträchtigungen und Produktivitätsverlust verursachen. "Wer da noch immer meint, Praxen schließen und die Investitionen für Gesundheitsforschung auf psychischem Gebiet niedrig halten zu müssen, agiert lebensfremd und menschenfeindlich."


Die Originalpublikationen sowie weitere Materialien zur Studie finden sich unter:
www.psychologie.tu-dresden.de/i2/klinische/sizeandburden.html


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Quelle:
Pressemitteilung Nr. 18/11 vom 7. Oktober 2011
Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP)
Christa Schaffmann, Pressesprecherin
Am Köllnischen Park 2, 10179 Berlin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2011