Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

BERICHT/003: Technik, Mensch und Selbstbestimmung - Raum zum Denken, eine Fessel? (SB)



Tagung "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe:
Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung"

Louise Beltzung Horvath, Julia Grillmayr und Tanja Traxler zur räumlichen Dimension der Ambient-Intelligence

Die Doktorandinnen Julia Grillmayr, Tanja Traxler und Louise Horvath skizzieren Ambient-Intelligence an einem Fallbeispiel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Doktorandinnen Julia Grillmayr, Tanja Traxler und Louise Horvath
(von links nach rechts) skizzieren Ambient-Intelligence an einem Fallbeispiel
Foto: © 2012 by Schattenblick

Thinking Space - Raum zum Denken, eine Fessel?

Frei von der lästigen, aber richtungsweisenden Präposition, mit der die englische Sprache ihre beliebte Prägnanz, aber auch häufig Doppelsinnigkeit, erhält, und losgelöst vom thematischen Hintergrund mag der Begriff "Thinking Space" den unvoreingenommenen Leser aufs Glatteis führen. Selbst ein gebürtiger Angelsachse würde wohl "Space" rein assoziativ mit der weitaus gebräuchlicheren, höflichen Forderung nach persönlichem Entfaltungsfreiraum "give me some space" (deutsch und weniger höflich: "Laß mich in Ruhe [darüber nachdenken]") in Zusammenhang bringen und somit den Titel des ersten Beitrags zum Themenschwerpunkt "Zwischen Dekonstruktion und Materialität" auf der Frühjahrstagung der TU-Harburg "Thinking Space" als Raum oder Zeitraum zum Nachdenken übersetzen.

Teich auf dem Gelände der TU-Harburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Thinking Space'?
Foto: © 2012 by Schattenblick

Allerdings wollen Louise Horvath, Julia Grillmayr und Tanja Traxler mit der Überschrift ihres kurzen Referats "Thinking Space - über die Räumlichkeiten von Ambient-Intelligence" ein Thema ansprechen, das keine Verwandtschaft mit einem ruhigen Ort der Kontemplation besitzt. Wenn man das Konzept der Ambient-Intelligence (wörtlich: umgebende Intelligenz oder intelligente Umgebung [1]) im praktischen Sinne zuende denkt, geht es darum, daß dem Nutzer eines Raums Denkprozesse oder gar Entscheidungen abgenommen werden sollen. Dies könnte als ein möglicher Vorteil aus dieser Technologie für den Nutzer einen Zeit- oder Raumgewinn bedeuten, der ihn in die äußerst privilegierte Lage versetzt, sich - von Alltagsentscheidungen befreit - vielleicht sogar dem Luxus des Träumens und Nachdenkens hinzugeben. Ein entsprechendes, mehr an den subtilen Horror einer "Brave New World" als an "1984" erinnerndes SF-Ambiente, das sich zudem nur eine wohlhabende Minderheit leisten könnte, schwebte einem dann auch vor, als die drei Referentinnen das im folgenden kurz zitierte Fallbeispiel an den Anfang ihres Vortrags stellten. Was daran deutlich wird: auch in der luxuriösen Umgebung wird der maschinengesteuerte Eingriff in das persönliche Leben vom Probanden letztendlich als Einschränkung empfunden, als fremdbestimmte Aussteuerung seiner eigenen Intention:

Jane Doe kommt nach Hause und ist schlecht gelaunt. Sie knallt die Tür zu und läßt ihre schweren Taschen auf den Boden fallen. Auch der Boden findet sie schwer. Sie geht ins Badezimmer, um in den Spiegel zu schauen. Sie sieht dunkle Augenringe. Auch der Spiegel sieht sie. Leise beginnt eine beruhigende Bachsonate zu spielen. Sie betritt das Wohnzimmer. Sie hat Kopfweh. Auch ihre Jacke weiß das, durch ihren niedrigen Blutdruck. Die Küche bietet ihr daher einen Tee an. Nach einer Tasse fühlt sie sich besser und beschließt auszugehen. Aber ihr Auto will und will nicht anstarten. "Du hättest nicht soviel Rum in Deinen Tee tun sollen".
(Horvath, Grillmayr, Traxler, Referat "Thinking Space - über die Räumlichkeit von Ambient-Intelligence" am 23. März 2012, TU-Harburg [2])

Bleiben wir bei dem eingangs erwähnten Raumbegriff, dann läßt sich das möglicherweise so verstehen: In einem Raum oder einer Einheit von Räumen (öffentlichen Räumen oder privaten Behausungen) sind normale Alltagsgegenstände (sogar Fußboden oder Jacke) mit Hilfe von elektronischen Sensoren, Sendern, Schnittstellen und Rechnungseinheiten so miteinander vernetzt, daß zwischen ihnen ein kontinuierlicher Datenfluß stattfindet, der auf die Menschen, die diese Räume bewohnen, auf verschiedene Art zurückwirken kann. Diese Form des Datenaustausches und -abgleichs entspricht der Vorstellung von neuronalen Vorgängen, über Reizempfindung, Reizleitung bis hin zu komplizierten Denkprozessen im Gehirn, die derzeit von den Neurowissenschaften bevorzugt wird. Dabei bleiben die Gehirnforscher die Antwort auf die Frage schuldig, wie denn in solchen Konzepten jene Denkleistungen zu verstehen sind, zu denen angeblich nur der Mensch in der Lage sein soll, die aber über die Grenzen des bisher Gedachten, also über die Wiederholung bekannter Codes oder Muster, hinausreichen und Neues schaffen.

Auf der anderen Seite könnte einem natürlich der als "denkender Raum" übersetzte Titel im Sinne von "im binären Code kommunizierende Gegenstände eines Raums" wiederum äußerst schlüssig erscheinen. Stellt man sich den Rauminhalt quasi abgefüllt mit sich kreuzenden und überlagernden funkähnlichen Wellen oder binären Teilchen oder Datenpaketen vor, die von Sender zu Empfänger geschickt werden und somit "Signalübertragungen" darstellen, könnte man das durchaus als "stattfindendes Denken" verstehen oder definieren, wenn man denn ohnehin biologische Denkprozesse in dieser technischen Weise begreifen will.

Ob allerdings die unter Ambient-Intelligence praktizierte digitale Kommunikation tatsächlich nach dem Muster menschlicher Gehirnfunktionen konstruiert wurde oder die Wissenschaft - mangels besserer Bilder und Vorstellungsmöglichkeiten - auf bekannte technische Strukturen wie Reizleitung und Datenübertragung zurückgreift, wenn sie versucht, Gehirnfunktionen zu beschreiben, kurz gesagt also die Frage, ob denn die Henne oder das Ei zuerst dagewesen sei, muß sich wohl jede Wissenschaft gefallen lassen, die auf solche Vergleiche zurückgreift. Denn - und das wurde in diesem speziellen Beitrag zur kritischen Technikforschung kaum berührt - schränken nicht auch die Grenzen, die sich angesichts solcher auf Senden und Empfangen konzentrierter "Denkprozesse" ergeben, die Möglichkeiten einer Ambient-Intelligence ein?

Das sieht man auch an dem doch recht skurrilen Fallbeispiel, da die intelligente Umgebung hier Aufgaben und Denkleistungen übernimmt, die der Mensch durchaus selbst und möglicherweise effektiver zu leisten vermag, und das in einer Frage vollkommen versagt: Was geschieht mit den verderblichen Einkäufen, die Jane Doe auf dem Fußboden liegen läßt und über die sie spätestens nach der Konsultation des Badezimmers wortwörtlich stolpern wird. Sie wird sie per Hand in den Kühlschrank räumen müssen, weil in der preisgünstigen "Ambient-Intelligence befindlichkeits- und moralkontrollierenden Grundausstattung" keine Wegräum-Roboter vorgesehen waren und auch der sich selbst füllende Kühlschrank noch nicht zum Standardsortiment gehört. Das wird Janes Laune sicher nicht besonders bessern, was die Eigenmächtigkeit erklärt, mit der sie sich gegen das System auflehnt und Rum in ihren Tee gießt ...

Daß Jane Doe am Ende von ihrer intelligenten Umgebung, einer Technologie, die laut Horvath, Grillmayr und Traxler immer weniger offensichtlich immer mehr Macht über den Menschen gewinnt, dazu gezwungen wird, etwas zu tun, was sie nicht will, liegt daran, daß die Protagonistin diese Fremdbestimmung über ihre Person zuläßt und sich dem System - aus für den noch nicht Ambient-Intelligence verwöhnten Außenstehenden vollkommen uneinsichtigen, aber möglicherweise guten Gründen - freiwillig überantwortet. Hier bleibt die Frage offen, welche Gründe das wohl sein könnten ...

Die Referentinnen skizzieren mit der Szene zu Beginn ihrer Demonstration für die Zuhörer das Umfeld ihrer Forschungsarbeit, eine sogenannte "augmented reality [3] - eine Umwelt, die mehr ist, als die Summe ihrer Teile", und erklären damit, was sie unter überantworten verstehen: Der Mensch delegiere zunehmend moralisches Handeln an technologische Gegenstände. Wörtlich betonten sie in ihrem Vortrag:

"Wir schließen Wertvorstellungen in das Material ein und machen die smart objects somit zu handelnden Subjekten." (Horvath, Grillmayr, Traxler, Referat "Thinking Space - über die Räumlichkeit von Ambient-Intelligence" am 23. März 2012, TU-Harburg [2])

Dies war den Referentinnen sehr wichtig, die im weiteren Verlauf den theoretischen Hintergrund für die philosophisch-literaturgeschichtliche Entwicklung schilderten, an der man diese Aufwertung des Objekts erkennen kann. Den Vorstellungen von Bruno Latour [4] im kritischen Abstand folgend, in denen man das Objekt dem Menschen als Handelnden bzw. "Akteur" gleichsetzt oder zumindest in seine Nähe rückt, schließen sie sich der Forderung ihres Mentors, dem Technikphilosophen Peter-Paul Verbeek [5] an, man müsse "die umgebenden Gegenstände" unter dieser Voraussetzung "als materielle Dinge ernst nehmen, anstatt sie als reine Symbole oder Ideen zu begreifen". Dahinter steht die Sorge, den Handlungsraum, Horvath, Grillmayr und Traxler nennen es "Aktionsrahmen der alltäglichen Gegenstände", rechtzeitig zu antizipieren, sonst, so sagt Verbeek, "lassen wir uns das Zepter von unseren sich verselbständigenden Dingen aus der Hand nehmen". An diese grundlegende Idee knüpfen die drei Referentinnen ihren ersten Entwurf einer Kritik an technologischen Entwicklungen an, die ihrer Meinung nach alles auf den Kopf stellen, was die humanistische Denkweise der Gegenüberstellung von Mensch und Objekt betrifft. Sie sehen darin eine Herausforderung für die Ethik und Ästhetik, aber auch für die Technikfolgenabschätzung.

Berührungsauslöser einer Fußgängerampel - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Man muß die uns umgebenden Gegenstände ernst nehmen.'
Foto: © 2012 by Schattenblick

In ihrer Arbeit konzentrieren sie sich vor allem auf die räumliche Dimension von Ambient-Intelligence, d.h. sie werden nicht sämtliche sich aufdrängenden Fragen zu dieser Technologie behandeln. Die Disskussion über Ambient-Intelligence, die sie auf eine Vision des Informatikers Mark Weiser zurückführen [6], wird, wie sie bei der Abgrenzung ihres Forschungsterrains zu anderen Projekten schildern, bereits von Informatikern, Unternehmen, Technologie- und Produktentwicklern wie auch Soziologen und Psychologen geführt. Dabei werden ihrer Meinung nach in der Regel vor allem die Vorteile gesehen, die sich beispielsweise aus der Forschung an Ambient Assisted Living-Systemen für benachteiligte, behinderte oder ältere Personen ergeben, denen damit vielleicht ein selbstbestimmteres bzw. nicht von anderen Menschen abhängiges Leben ermöglicht werden könnte. Dazu wäre sicher vieles zu sagen, zumal auch die sensorgestützte Überwachung im öffentlichem Raum auf der gleichen Technologie wie Ambient-Intelligence beruht. In dem zeitlich streng begrenzten Vortrag fehlte jedoch schlicht der "Raum" für eine umfassende Darstellung sämtlicher Kritikpunkte, die sich aus politikwissenschaftlicher und gesellschaftskritischer Perspektive eröffnen.

Kommentatorin Daniela Gottschlich eröffnet den Raum für die Diskussion - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kommentatorin Daniela Gottschlich eröffnet den Raum für die Diskussion
Foto: © 2012 by Schattenblick

Allein die demographische Entwicklung habe dazu geführt, ergänzte die Kommentatorin Daniela Gottschlich den Vortrag und eröffnete damit die Diskussion, daß sich Ambient-Intelligence zu einem einschlägigen, geförderten Forschungsgebiet entwickelt. Nicht nur das sechste europäische Forschungsrahmenprogramm habe Ambient-Intelligence zu seinem Schwerpunkt erklärt, sondern auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat ein Budget von 45 Millionen Euro für die Forschung an intelligenten, altersgerechten Assistenzsystemen bereit gestellt. Bis zum Jahr 2020 soll Ambient-Intelligenz laut Horvath, Grillmayr und Traxler mit entsprechenden Produktentwicklungen verwirklicht werden.

Unausgesprochen blieb die Frage, welchen politischen Interessen tatsächlich die Selbständigkeit Älterer und Behinderter derart am Herzen liegen könnte, um diese Forschung zu fördern, wenn auf der anderen Seite sogar die Mittel für eine ausreichende medizinische Versorgung und andere Notwendigkeiten des alltäglichen Lebens für viele fehlen, die mit ihrer Rente bereits am Rande des Existenzminimums leben. Daß allein diese politische Förderung potentiellen Konfliktstoff für alle an dieser Frühjahrstagung beteiligten Disziplinen bieten könnte, wurde von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen übereinstimmend zur Kenntnis genommen.

Nun handelt es sich bei der von Louise Horvath, Julia Grillmayr und Tanja Traxler vorgestellten Skizze zu einem interdisziplinären Doktorandenprojekt nur um einen ganz bestimmten Ausschnitt des Bereichs der Ambient-Intelligence, der jeweils aus dem kritischen Blickwinkel der individuellen Forschungsschwerpunkte der drei Doktorandinnen untersucht werden soll. Die Verteilung des Themas auf drei bzw. vier Disziplinen (theoretische Physik, Philosophie, Literaturtheorie und Raumforschung) ermöglicht zunächst einen größeren Sichtbereich, birgt aber gleichzeitig die Herausforderung, daß offenbleibende Fragestellungen in einer Disziplin nicht nur stillschweigend an angrenzende Disziplinen überantwortet, sondern im Austausch mit den beteiligten Wissenschaftlerinnen vielleicht auch tatsächlich in Angriff genommen werden.

Allerdings kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Konzentration auf die räumliche Dimension von dem Anliegen einer kritischen Beleuchtung dieser Technologie eher wegführt als darauf zu. Denn allein schon der Versuch, den Raum oder seine Rolle im "Universum der Dinge" genau zu fassen, der zugleich als leerer Container (also selbst ein materielles Ding) bzw. "absolut" aufgefaßt wird, dann wieder als Spannungsfeld der darin handelnden Akteure (d.h. den darin kommunizierenden und interagierenden Dingen und Menschen), also den durch Datenflüsse produzierten virtuellen Räumen, läßt ihn so ungreifbar oder "relativ" werden, daß die drei Forscherinnen die theoretische Physik bemühen wollen, um seiner Beschreibung als komplementäres System gerecht zu werden, in dem schlicht beide Betrachtungsweisen möglich sind. Dadurch wird er aber nicht besser greifbar, sondern zur Fessel.

Fahrstuhl auf dem TU-HH-Gelände für Rollstuhlfahrer - Foto: © 2012 by Schattenblick

Absoluter Raum oder ein Objekt im Spannungsfeld zwischen oben und unten?
Foto: © 2012 by Schattenblick

Sie verstehen dieses Vorgehen als Parallele zur Quantenmechanik, in der ebenfalls sich widersprechende und mit menschlicher Wahrnehmung nicht zu erfassende Konzepte kurzerhand zum Gesetz erhoben werden, um sie zu vereinigen und die Diskussion darum aus der Welt zu schaffen. Die Heisenbergsche Unschärferelation, die hier von der Physikerin Tanja Traxler als Beispiel genannt wurde, könnte man auch als Ausrede der Physik betrachten, warum sich Impuls und Ort eines winzig kleinen Teilchens nicht gleichzeitig bestimmen lassen. Aber auch schon Niels Bohr hatte seinerzeit die Quantelung des Atommodells eingeführt, um den Kritikpunkt am Rutherfordschen Atommodell, Elektronen könnten in ihrer Umlaufbahn um den Atomkern nach der newtonschen Mechanik Energie verlieren und in den Kern stürzen, einfach wegzubehaupten: Genau das dürfe und würde deshalb auch nicht passieren! [7]

Angesichts der großen theoretisch-physikalischen Gebäude wie die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie, die daraus entstanden und eigentlich offene Räume voller ungeklärten Materials sind, muß man sich doch fragen, zu welchen unentdeckten Universen und unbekannten Räumen die Arbeit von Louise Horvath, Julia Grillmayr und Tanja Traxler noch führen könnte.

Weit, weit weg von bodenständiger Kritik, ist zu befürchten, denn durch die Vereinigung von Absolutem und Relativem verliert man nicht nur jeden Zugriff, sondern möglicherweise den Blick für die Gefahren, die aus dem Universum virtueller Datenkommunikation entstehen könnten. Denn, und das wurde auf der Tagung nicht angesprochen, eigentlich erübrigt sich der reale und absolute Raum in diesem hier beschriebenen Spannungsfeld eines Internets der Dinge - um wieder auf den eingangs erwähnten "Space"begriff zurückzukommen.

Der Raum schafft sich quasi selbst ab, da Entfernungen zu Zeiten des Internet ihre Bedeutung verlieren. Im tiefsten Bayerischen Wald kann man englische Seifenopern des BBC hören, mit Menschen in den USA chatten, virtuelle Reisen unternehmen oder engste Freundschaften und unmittelbare Nähe mit Personen und Dingen herstellen, die räumlich weit von einem selbst getrennt sind. Gleichzeitig lassen sich in größter räumlicher Enge Bibliotheken von Wissen anhäufen, für die man normalerweise ungeheuer viel Platz bräuchte.

Computerbildschirm und Smartphone-Display eröffnen den Zugang zu umfangreichen Bibliotheken - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die unendlichen Weiten des Internet auf immer kleinerem Raum
Foto: © 2012 by Schattenblick

Doch auch der virtuelle oder relative Raum, der sich laut Horvath, Grillmayr und Traxler durch die darin Handelnden "aufspannt", würde ebenfalls sofort zusammenbrechen und unvorhersagbares Chaos auf allen Ebenen verbreiten, wenn beispielsweise nur die Stromversorgung versagt. In diesem Sinne führte auch der Kommentar von Daniela Gottschlich, die die Nachwuchsgruppe "PoNa - Politiken der Naturgestaltung. Ländliche Entwicklung und Agro-Gentechnik zwischen Kritik und Vision" an der Leuphana Univerisität Lüneburg leitet, aus der Technikphilosphie auf den soliden Boden der Tatsachen zurück.

Sie gab zu bedenken, daß auch mit dem Verschwinden von Grenzen die Begriffe von Subjekt und Objekt nicht deckungsgleich werden könnten. Es blieben letztlich Hybride, da auch blinkende Schuhe und nichtstartende Autos noch nicht als selbstbestimmt handelnde Subjekte betrachtet werden. Und sie brachte auch schließlich eine sich aus dem Vortrag logisch ergebende Frage zum Ausdruck: Was heißt es denn, Dinge als Akteure im menschlichen Alltag ernst zu nehmen? Was folgt daraus? Und wer übernimmt eigentlich die moralische Verantwortung für diese moralisch handelnden Hybride, wenn ein Auto selbständig bremst und dabei vielleicht einen Unfall herbeiführt, statt ihn zu verhindern, oder wenn ein Kühlschrank, der versehentlich mit der Waschmaschine kommuniziert, dieser ein artfremdes Update verpaßt, oder wenn all die kleinen und größeren Systemfehler, die einen Computer hin und wieder lahmlegen oder ein Programm instabil machen, schließlich auf den virtuellen Raum der Objekte zurückschlagen?

(wird fortgesetzt)

Fußnoten:

[1]‍ ‍"Ambient-Intelligence" - Dabei verwendet man Intelligence eigentlich im angelsächsischen Verständnis von "Information/Wissen" als ein Datensammlungs- und Weitergabesystem. Denn mehr passiert im Grunde nicht. Horvath, Grillmayr und Traxler verstehen darunter jedoch eine Einbettung von Technologien in den Alltag, die dann nicht mehr davon zu unterscheiden sind.

[2]‍ ‍Die gemeinsame Frühjahrstagung der Sektion "Wissenschafts- und Technikforschung" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), der Arbeitskreis "Politik, Wissenschaft und Technik" der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und die Arbeitsgruppe Arbeit-Gender-Technik der TU Hamburg-Harburg (TUHH) fand am 23./24. März an der TUHH unter dem Titel: "(Un-)Sicherheit, (Bio-)Macht und (Cyber-)Kämpfe: Kritische Theorieperspektiven auf Technologien als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung" statt.

[3]‍ ‍"augmented reality" = engl. "erweiterte, vergrößerte, angereicherte Realität". Damit wurde ursprünglich eine erweiterte computergestützte Wahrnehmung gemeint, z.B. mittels sogenannter Datenbrillen, bei der sich reale und virtuelle Welt vermischen.

[4]‍ ‍Bruno Latour (* 22. Juni 1947 in Beaune, Frankreich) ist ein französischer Soziologe und Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Wissenschafts- und Techniksoziologie, er ist einer der Begründer der Akteur-Netzwerk-Theorie. Heute leitet er die wissenschaftliche Recherche in Sciences Po Paris.

[5]‍ ‍Professor Peter-Paul Verbeek lehrt Technologiephilosophie an der Universität Twente, Enschede (Niederlande). Zu seinen bekanntesten Schriften gehört "Moralizing Technology: Understanding and Designing the Morality of Things (University of Chicago Press 2011)" und "What Things Do: Philosophical Reflections on Technology, Agency and Design (Penn State University Press 2005)".

[6]‍ ‍Mark Weiser (geb. 23. Juli 1952 in Harvey, Illinois, USA; gestorben 27. April 1999) war ein US-amerikanischer Wissenschaftler im Bereich der Informatik. Weiser studierte Informatik und Kommunikationswissenschaften an der University of Michigan (M.A. 1977, Ph.D. 1979). Er dozierte an der University of Maryland, College Park. Bis zu seinem Tod war er am Forschungszentrum von Xerox in Palo Alto, Kalifornien, beschäftigt. Bekannt wurde er durch seinen Aufsatz "The Computer for the 21st Century" aus dem Jahr 1991, in dem er beschreibt, wie er sich die Welt der Computer als technologische Landschaft ohne sichtbare PCs in der Mitte oder am Ende des 21. Jahrhunderts vorstellt. Auf ihn geht vermutlich auch der Begriff "Ubiquitous Computing" zurück.

[7]‍ ‍Das Rutherford'sche Modell stieß auf die Kritik der damaligen Physiker, weil eine solche Anordnung einen oszillierenden Dipol darstellt, der nach den Gesetzen der klassischen Elektrodynamik Energie in Form von elektromagnetischer Strahlung aussenden würde. Das Elektron würde so ständig an kinetischer Energie verlieren und schließlich in den Kern stürzen (Strahlungskatastrophe des Rutherford'schen Atommodells). Deshalb wurden von Bohr diese Befürchtungen schlichtweg wegpostuliert, so daß die Elektronen nicht mehr auf kontinuierlichen Bahnen kreisen konnten, sondern als Quanten auftreten mußten. Die Quantenmechanik betrifft jedoch nur kleine Größenordnungen (und nur, wenn Elementarteilchen als Teilchen und nicht als Welle auftreten).

Veranstaltungsort TU-Harburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Raum, der mehr ist, als die Summe seiner Teile
Foto: © 2012 by Schattenblick

7.‍ ‍April 2012