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BERICHT/025: Quo vadis Sozialarbeit? - Solidarnotstand... (SB)


Kinder- und Jugendhilfe eine Frage der Definition?

Workshop des Bundeskongresses Soziale Arbeit am 14. September 2012


Blick auf den Workshop mit dem Logo des Bündnisses - Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Bündnis Kinder- und Jugendarbeit präsentiert sich auf dem Kongreß Soziale Arbeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wenn es die Soziale Arbeit nicht gäbe, sie müßte erfunden werden. Ein solcher Satz mag einleuchtend erscheinen angesichts der großen Schwierigkeiten, in denen immer mehr Menschen stecken. Doch stehen diesen Nöten nicht jene Interessengruppen gegenüber, die von Armut, Mangel, Entfremdung und gesellschaftlicher Ausgrenzung profitieren bzw. diese befördern, wenn nicht generieren durch die von ihnen dominierten Besitz-, Produktions- und Reproduktionsverhältnisse? Wer nicht zu ignorieren bereit ist, daß "wir" keineswegs "alle in einem Boot sitzen" und daß die Frage nach den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht ohne Positionierung in diesem im Kern unversöhnlichen, wenn auch häufig schön- oder weggeredetem Interessengegensatz berührt werden kann, wird nicht umhinkommen, auch die Soziale Arbeit zu fragen, auf welcher Seite der Herrschaft sie steht, ob und wenn ja inwiefern sie Teil des Problems oder seiner Überwindung ist.

Wem also wäre der Satz, die Soziale Arbeit müßte erfunden werden, am ehesten zuzuschreiben? Der Staat in seinem Selbstverständnis als Hüter und Wächter der in ihm lebenden Menschen und mehr noch der herrschenden und mit ihm aufs tiefste verwobenen gesellschaftlichen Strukturen, ob man sie nun als kapitalistische Verwertungsordnung bezeichnen möchte oder nicht, käme in Betracht. Ein solcher Satz beinhaltet eine uneingeschränkte Anerkennung der Sozialen Arbeit, deren unbedingte Nützlichkeit zu einer Selbstverständlichkeit erklärt wird, die vergessen läßt, daß diese Profession sich selbst einmal überflüssig machen wollte. Wer in seiner mehr schlecht als recht zu bewerkstelligenden Alltagsbewältigung auf die Segnungen einer solchen Disziplin und ihrer Einrichtungen angewiesen ist, wird deren Hohelied kaum anstimmen mögen, zumal die stützende Hand, der Notnagel in der Not, nicht zu trennen ist von Überwachungs-, Kontroll- und Maßregelfunktionen, wie sie auch den übrigen Bereichen staatlicher Aufgabenbewältigung (Polizei und Justiz, aber auch Bildung und Arbeitsförderung) eigen sind.

Die Soziale Arbeit bzw. ihre historischen Vorläufer hätten nicht erfunden zu werden brauchen, wenn es die ihren gesellschaftlichen Nutzwert begründenden sozialen Notlagen nicht gegeben hätte. In der Entwicklungs- und Entstehungszeit dieser Disziplin, ganz egal, wo ihr historischer Nullpunkt zu setzen wäre, gab es gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, die sich an dem unversöhnlichen Gegensatz von Kapital und Arbeit entzündet haben und in deren Verlauf die Frage nach der Berechtigung des Besitzes an Produktionsmitteln nicht ausklammert wurde, da die insofern Besitzlosen sich gezwungen sahen, ihre zur Arbeitskraft umdefinierte Lebensenergie in aus ihrer Sicht fremdbestimmten Lohnverhältnissen zu veräußern. Mit anderen Worten: Es gab Zeiten, in denen Kritik an der kapitalistisch organisierten Verwertung kein Modewort war, dessen sich auch die Verteidiger des Status Quo bedienten, um Krisen kleinzureden. Eine solche Konfrontation gesellschaftlicher Kräfte gilt heute, subsumiert unter dem Stichwort "Klassenkampf", bestenfalls noch als historische Randnotiz.

Unter den Praktizierenden der Zunft der Sozialen Arbeit ist es unterdessen ein offenes Geheimnis und ein ewiger Stachel im beruflichen Selbstverständnis: Hilfe und Solidarität für die Randständigen der Gesellschaft, mögen sie auch noch so fachlich fundiert, menschlich engagiert und von dem persönlichen Wunsch, den anderen Menschen in seiner mißlichen Lage zu unterstützen und zu stärken, getragen sein, enthalten immer auch eine Kontrollfunktion, die diese Akteure, ob sie es nun wollen oder nicht, zum verlängerten Arm der Staatsgewalt machen. Wäre die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung in der Lage, ihr ursprünglichstes Versprechen, nämlich die optimalste materielle wie auch soziale Versorgung aller Menschen auf der Basis einer privatrechtlich organisisierten Verfügung über Produktionsmittel im weitesten Sinne zu gewährleisten, einzulösen, es gäbe keinen "Bedarf" an Sozialer Arbeit.

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Matthias Heintz, Sprecher des Bündnisses Kinder- und Jugendhilfe
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Tatsächlich jedoch scheinen die "Bedarfe" ins Unermeßliche zu steigen. Wie Matthias Heintz, Sprecher des Bündnisses Kinder- und Jugendhilfe, am 14. September 2012 in einem Workshop auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg ausführte, gibt es "unverhältnismäßig hohe Bedarfe" und eine "tatsächlich in gigantischem Ausmaß" steigende Inspruchnahme der Hilfen. Auf dem Workshop mit dem Titel "Kinder- und Jugendhilfe definieren wir! Bündnis Kinder- und Jugendhilfe - für Professionalität und Parteilichkeit" war bereits im Ankündigungstext davon die Rede gewesen, daß wir uns "momentan in einer Schere zwischen wachsender sozialer Not in Bereichen der Gesellschaft einerseits und einer massiven Bremsung der Sozialen Arbeit und ihrer fachlichen Möglichkeiten andererseits" befänden, woran der Sprecher des Bündnisses, Matthias Heintz, in seiner Einleitung folgende Überlegung anknüpfte: "Wir fragen uns, was ist los in einer Gesellschaft, in der bei absolut sinkenden Kinderzahlen die Inanspruchnahme der Hilfen zur Erziehung eklatant steigt?"

Diese Frage wäre des weiteren Nachfassens allemal wert gewesen, blieb jedoch eher rhetorisch, so als wäre ohnehin klar, was gesellschaftlich im Argen liegt. Die auf dem gesamten Kongreß angesprochene und vielfach zum Gegenstand der Kritik erhobene "Bremsung" der Sozialen Arbeit erscheint angesichts der hohen gesellschaftlichen Nützlichkeit der Profession widersinnig. Warum, so hätte die Frage zugespitzt werden können, wird der Berufsstand in seinen institutionell reglementierten Arbeitsmöglichkeiten derartig behindert, wenn er doch die ihm auferlegten Kontroll- und Maßregelaufgaben zu erfüllen bereit ist? Schaufelt sich nicht die herrschende Ordnung ihr eigenes Grab, wenn sie diese mit über einer Million Berufstätigen keineswegs marginale Profession in ihrer stabilitätsfördernden Tätigkeit mehr und mehr einschränkt?

Die Diplom-Sozialpädagogin Heidi Bauer-Felbel vom Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit e.V. machte wie die drei anderen Referenten des Bündnisses, Hans Thiersch, Matthias Heintz und Klaus-Uwe Ittner, eingangs deutlich, welche persönlichen Beweggründe sie zu ihrem berufspolitischen Engagement veranlaßt haben. Sie ist bis vor kurzem im Sozialministerium von Mecklenburg-Vorpommern für die "Hilfen zur Erziehung" zuständig gewesen und hat in dieser 20jährigen Berufstätigkeit den mit der Einführung des Sozialgesetzbuchs (SGB) VIII eingeleiteten "Paradigmenwechsel", wie sie es nannte, miterleben und beobachten können. In diesem Gesetz war ein klarer Rechtsanspruch auf Erziehungshilfen verankert worden mit dem Leitmotiv, einem jungen Menschen ohne weitere Voraussetzungen oder Bedingungen die für seinen "Bedarf" notwendige und geeignete Hilfe zu gewähren. Für die Soziale Arbeit seien damit die juristischen Voraussetzungen geschaffen worden, um in einer ihrem fachlichen Standard und Berufsbild entsprechenden Weise arbeiten zu können.

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Heidi Bauer-Felbel - ein Paradigmenwechel in der Kinder- und Jugendhilfe
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Doch was dann geschah, schilderte Bauer-Felbel so: Das sei eine Weile gutgegangen, doch dann sei die Politik dahintergekommen, daß das, was sie mit diesem Gesetz geschaffen hatte, ziemlich teuer werden könne, wenn es duktusgemäß umgesetzt werde. Die wirtschaftliche Situation sowie gesellschaftliche Veränderungen taten das Ihre, um die Jugendhilfe teurer zu machen, und so wurden Instrumente ersonnen, um die "Hilfen zur Erziehung" wieder zu verändern, wobei den Verantwortlichen vor allen Dingen der keine weiteren Voraussetzungen erfordernde Rechtsanspruch ein Dorn im Auge gewesen sei. Als dann auch noch ein Papier von einer Arbeitsberatung auf Staatssekretärsebene der SPD-geführten Bundesländer, in dem stand, daß man sich darüber Gedanken machen wolle, wie dieser Rechtsanspruch abgeschafft werden könne, an die Öffentlichkeit gelangte, war dies für die Referentin der letzte Anstoß, sich in dem Bündnis Kinder- und Jugendhilfe mit anderen zusammenzuschließen, um diesen Angriff auf die Soziale Arbeit abzuwehren, das Profil der Profession zu schärfen und gegen die "Ökonomisierung" in diesem Bereich klar Stellung zu beziehen.

In diesem bundesweit organisierten offenen Bündnis sind eigentlich miteinander konkurrierende Gewerkschaften ebenso vertreten wie die Träger der öffentlichen und privaten Kinder- und Jugendhilfe, die in dieser Initiative an einem Strang ziehen. Wie Bauer-Felbel berichtete, wurden alle vorgezeichneten Wege ohne Erfolg beschritten. Die Berufspraktikerinnen und -praktiker haben vor den Sitzungen und Tagungen ihrer obersten Behörden protestiert, so beispielsweise bei der Jugendministerkonferenz, sie haben sich an die Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesfamilienbehörden gewandt. "Das alles haben wir versucht, aber es hat nichts genützt, sie haben einfach ihren Weg weiterverfolgt, und jetzt gehen wir wieder auf die Straße, streben in die Gremien und wollen dort gehört werden."

Matthias Heintz, Sprecher des Bündnisses Kinder- und Jugendarbeit, war, wie er selbst sagte, "ein netter, lieber Sozialarbeiter in der Erziehungsberatung". Seit 18 Jahren arbeitet er in Nordhessen in der Kinder- und Jugendarbeit. Seine Beschreibung seiner anfänglichen Berufspraxis kam einem Hohelied auf die Soziale Arbeit gleich, was durch den extremen Gegensatz zu den heutigen, prekarisierten Bedingungen leicht nachzuvollziehen ist. Damals habe man "supertolle Arbeitsbedingungen" gehabt, das ließe sich auch nachweisen. "Wir haben sehr stark orientiert an der Lebenswelt (nach Thiersch) der Menschen, die von uns Unterstützung gewollt und sie auch eingefordert haben, gearbeitet. Wir haben den Menschen in seiner Invidualität und im Rahmen seiner Lebenswelt in den Blick genommen und hatten die Zeit für eine Fallarbeit, die wir als intensive Begleitung und Unterstützung gestalten konnten." Die Zusammenarbeit und Vernetzung mit anderen Institutionen, die an den Kindern und Jugendlichen "dran" waren, so auch die Schulen und Kindertagesstätten, aber auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie war damals selbstverständlich.

Seit 2002/2003 sei es dann jedoch zu massiven Kürzungen gekommen. Die Etats wurden gedeckelt, was bei "stetig steigenden Bedarfen" in der Kinder- und Jugendhilfe, aber auch in anderen Fachbereichen wie beispielsweise dem Gesundheitswesen zu solchen Verwerfungen geführt habe, daß heute nur noch mit Restfragmenten dessen, was einmal gewesen war, gearbeitet werden müsse. Heintz wörtlich:

Ich sage es immer wieder laut, und ich sage es in alle Richtungen: Ich schäme mich für meine Arbeit. Das war der Punkt für mich zu sagen: Ich halt's nicht mehr aus. Wenn ich jetzt nichts tue, werde ich krank. Deswegen bin ich in die Berufspolitik gegangen, das hätte ich viel früher tun sollen.
Klaus-Uwe Ittner, Matthias Heintz und Heidi Bauer-Felbel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Klaus-Uwe Ittner, Matthias Heintz und Heidi Bauer-Felbel
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Klaus-Uwe Ittner ist gelernter Informatiker und arbeitet seit vielen Jahren in der psychiatrischen Eingliederungshilfe. Als Betriebsratsvorsitzender eines Konzerns ist er mit der Problematik vertraut und "leidet mit", wenn die Kolleginnen und Kollegen, die in der Jugendhilfe tätig sind, von der Entwicklung im Sozialwesen erzählen. Ittner versteht sich als ein "politischer Mensch". Ihn empört, wie hier versucht wird, "unsere Gesellschaft umzubauen" und nannte es einen besonders krassen Fall, wie in der Kinder- und Jugendhilfe versucht wird, Rechtsansprüche auszuhöhlen oder sogar aufzuheben und stattdessen nur noch Almosen zu setzen. Und weiter:

Ähnliches haben wir auch in Bereichen, wo plötzlich "Solidargemeinschaft" gefragt ist, wo wir Tafeln gründen und irgendwie billige Almosen abgeben sollen. Aber wehe, derjenige, der so etwas kriegt, muckt dagegen auf oder wagt ein kritisches Wort. Diese Gesellschaft, in der es um Fordern statt um Fördern geht, um "Survival of the fittest" statt solidarischem Miteinander, ist nicht meine Gesellschaft. Wer sie haben will, stellt meines Erachtens die Grundlagen unseres Grundgesetzes total in Frage.

Deutliche Worte. Die vor 20 Jahren versprochene "geistig-moralische Wende", so Ittner, sei angekommen, aber auch die Armut und Verhältnisse, die dazu führten, daß die Bedarfe immer weiter ansteigen, obwohl weniger Menschen da sind. Das Ganze laufe doch irgendwie "total auseinander", die Schere werde immer größer, und es läge an "uns" - wobei der Referent sich ausdrücklich einschloß -, ob wir das zulassen oder uns dagegen wehren. "Wir sind gefordert, aufzustehen und etwas zu tun", so Ittners Appell.

Als Vierter im Bündnis-Bunde ergriff Hans Thiersch das Wort, eine Koryphäe der Sozialen Arbeit [1]. Er blickt auf 50 Jahre miterlebte, um nicht zu sagen mitgestaltete berufliche Arbeit zurück und kann sich noch, wie er schilderte, gut daran erinnern, unter welch dramatischen Umständen die soziale Arbeit zwischen 1960 und 1980 eine Form fachlich verantworteter Arbeit gefunden habe bis hin zum Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG) [2], dem Thiersch "bis heute uneingelöste Potentiale" attestierte. Danach jedoch sei die Soziale Arbeit in die Großwetterlage einer Gesellschaft geraten, in der das Soziale gegenüber anderen, ökonomisch bestimmten Interessen eher eine Verfügungs- oder Randmasse darstelle, was bedeute, daß die soziale Arbeit in dem, was sie sich erkämpft habe, nämlich zuständig zu sein dafür, soziale Probleme zu definieren und in ihnen zu arbeiten, zunehmend an den Rand gedrängt worden sei. Das Bündnis Kinder- und Jugendarbeit sei spannend, "weil wir nicht nur sagen können, daß die Adressaten unserer Arbeit eine Stimme brauchen, um ihre Not zu artikulieren, sondern weil wir als ihre Anwälte das ebenso brauchen".

Thiersch konstatierte in der Profession allerdings auch eine weitverbreitete Stimmung, die er zwischen Resignation und einer gewissen Müdigkeit ansiedelte und in Bezug setzte zu den Arbeitsverhältnissen und in vielen Bereichen anzutreffenden Schwierigkeiten. Es sei notwendig, die Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit zu benennen und mit vielen und unterschiedlichen Stimmen das Leiden deutlich zu machen, das auf dem Wissen beruhe, nicht tun zu können, was man tun sollte. Er stellte desweiteren fest, daß die Soziale Arbeit es bislang nicht vermocht habe, in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern so etwas wie ein einheitliches Bewußtsein der Profession herzustellen und in Konkurrenz zu anderen Berufsgruppen in der Öffentlichkeit zu einer Stimme zu kommen, die dem Gewicht dessen, das der Sozialen Arbeit trotz allem in der Gesellschaft zukomme, entspräche.

Ungeachtet bestehender Differenzen und Rivalitäten benannte Thiersch es als "unser Hauptgeschäft", die Probleme unserer Adressaten, die in der Gesellschaft mit vielfältigen Argumenten und Strategien kleinzureden versucht werden, in aller Öffentlichkeit deutlich zu machen. Nähme man die unterschiedlichsten Studien zur sozialen Lage zusammen, werde klar, daß rund 20 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft große Probleme haben und unter ihnen ein harter Kern auf Soziale Arbeit und Erziehungshilfen dringend angewiesen sei, und dies dürfe nicht einfach unterdrückt werden. Das Bündnis sei kein Dachverband, sondern verstünde sich als Gremium der Koordination und Vernetzung, um die unterschiedlichsten Aktivitäten nicht nur gegenseitig zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch miteinander abstimmen zu können und um zu aktuellen Entwicklungen rasch - und nicht erst beim nächsten Bundeskongreß - Stellung nehmen zu können.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Hans Thiersch
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Im Mittelpunkt des Workshops stand dann die Präsentation eines "Diskussionspapieres zum Selbstverständnis des Bündnisses" [3], das als Verständigungsvorschlag und Arbeitspapier gedacht war, und in dessen Formulierungen und Inhalte die hier wie andernorts vorgebrachten Einwände, Kritikpunkte oder Diskussionsbeiträge noch weiter einfließen sollten. Hans Thiersch stellte dem Papier einige Anmerkungen voraus und erläuterte, warum das Bündnis den Workshop unter den Titel "Kinder- und Jugendhilfe definieren wir!" gestellt hatte. Es hätte ja auch zum Ausdruck gebracht werden können, so der Referent, daß das Bündnis gegen die Verhältnisse in der Jugendhilfe protestiert, sie verändern und neugestalten möchte. Warum aber wurde der Schwerpunkt auf die Definition bzw. Definitionsmacht gelegt?

Thiersch legte dar, daß die gegenwärtige Situation als ein Kampf um Definition verstanden werden könnte, also darum, wer das Recht habe zu definieren, was unter Begriffen wie "Not" und "Hilfsbedürftigkeit" zu verstehen ist und worin ein "notwendiger Aufwand" zur Beendigung der Hilfsbedürftigkeit bestünde. Um die Relevanz dieser Aufklärung über strenggenommen juristische Fragen zu veranschaulichen, führte der Referent das alte Soziologen-Wort an, das besagt, daß eine Situation so ist, wie sie definiert wird. Als Beispiel führte er Drogenabhängige an, von denen seit zehn bis fünfzehn Jahren gesagt werde, sie seien krank, während sie zuvor noch als kriminell galten. Homosexuelle werden nicht mehr wie noch vor 30 Jahren als "Abartige" mit unglaublichen Folgen des Leidens zum Psychiater geschickt. Wie bzw. von wem ein Problem definiert werde, entscheide also darüber, wie mit ihm umgegangen werde.

In der Jugendhilfe kommt genau dies zum Tragen. Formal gesehen kann der Titel des Rechtsanspruchs, wie er im Gesetz steht [2], in der Verwaltungspraxis nicht geändert werden. Thiersch machte jedoch deutlich, daß die faktische Zurücknahme dessen über die Auslegung der Begriffe erfolge. Der allgemeine Rechtsanspruch auf Hilfen in Erziehungsnöten sähe laut Gesetz einen Rechtsanspruch auf Erziehung und Bildung in förderlichen Verhältnissen zu einem Leben in Würde in unserer Gesellschaft vor. Doch was beinhaltet der Begriff "Hilfe zur Erziehung und Bildung"? Sind darunter Ganztagsschulen, Familienhilfe, Gruppenarbeit, Beratung oder Heimerziehung zu verstehen? Und wer entscheidet darüber, welche Maßnahmen bzw. Institutionen die gesetzlich garantierten Leistungen erbringen können und unter welchen Voraussetzungen eine Hilfsbedürftigkeit überhaupt anzunehmen ist? Es werde gesagt, so Thiersch, daß der Ermessensspielraum in der Jugendhilfe in allen diesen Fragen ungeheuer groß sei, seiner Einschätzung nach ein Charakteristikum professioneller Tätigkeit. Und weiter:

Profession ist dazu da, die Ermessensspielräume wie beispielsweise die Juristen an fachlichen Kriterien orientiert auszulegen. Insofern ist die derzeitige Situation so aufregend, denn wenn uns sozusagen die Definitionshoheit abgesprochen wird, dann versagen wir im Beruf. Dann wird der Rechtstitel wertlos. Der steht dann da, aber kann so interpretiert werden, daß es nur noch billig oder sparsam ist und die fachlichen Kriterien dabei nicht zum Tragen kommen. Insofern ist unser Titel - "Wir definieren Jugendhilfe" - eine Art Beanspruchung dessen, daß die Definitionszuständigkeit über Probleme schwieriger Kinder und Familien, also die Probleme, für die Soziale Arbeit und Erziehungshilfe zuständig sind, bei uns als den Fachleuten liegt.
Hans Thiersch während seiner Erläuterungen - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Profession ermutigen, um die Definitionshoheit zu kämpfen
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Der Referent ging noch einen Schritt weiter. Seiner Auffassung nach gehe es im Kontext von Grundgesetz und bestehenden Gesetzen um eine allgemeine Definition von sozialer Not und sozialen Schwierigkeiten. "Wir haben eine Verfassung, auf die wir pochen und die wir einklagen können", so Thiersch, wobei allerdings die von ihm zuvor angesprochene Problematik, daß bestehende Rechte auf dem Wege der Auslegung ausgehöhlt und auf kaltem Wege faktisch abgeschafft werden, unberücksichtigt blieb. Im Grundgesetz ist das Sozialstaatsprinzip verankert, das nicht minder der Interpretation und Auslegung - durch das dafür zuständige Gericht - bedarf wie die einzelnen gesetzlichen Bestimmungen. Steht so nicht zu befürchten, daß die "Unterlaufung des Selbstanspruchs unserer Gesellschaft als eines Sozialstaats", wie Thiersch es formulierte, auch in der Judikative ihre tätigen Mitstreiter findet, so wie die auf dem Bundeskongreß mit dem Schlagwort "Ökonomisierung der Sozialen Arbeit" betitelte Entwicklung auch in Politik, Verwaltung und der Profession selbst ihre Vollstrecker gefunden hat?

Auf die Eigenbeteiligung der Profession wies Thiersch auf dem Workshop ausdrücklich hin. Es gehe nicht nur darum, gesellschaftlich durchzusetzen, daß Menschen einen Anspruch auf Hilfe haben angesichts der Nöte, die die Gesellschaft ihnen antue. Mindestens ebenso wichtig sei es, daß dieser Anspruch nach fachlichen Kriterien innerhalb der Sozialen Arbeit und in den unterschiedlichsten Dienststellen durchgesetzt werde. Das sei jedoch keineswegs überall selbstverständlich. Wie Frau Seithe in ihrem Impulsreferat [4] bereits deutlich gemacht habe, so Thiersch, sei die Profession in sich völlig unterschiedlich aufgestellt. Die eine Auslegung nähme das Kinder- und Jugend-Gesetz [2] ernst und konkurriere mit Auslegungen, die sich in den Dienst sozialtechnologischer Sparsamkeitserwägungen und Einsparungen stellen ließen.

Deshalb sei es wichtig, erklärte der Referent mit Nachdruck, auch innerhalb der Profession, in den Verbänden und einzelnen Teams diese Auseinandersetzung auch zu führen. Thiersch gebührt das Verdienst, den Finger auch auf die Beteiligung der Profession an dem, was sie kritisiert bzw. zu kritisieren vorgibt, gelegt zu haben, erklärte er doch, daß "wir nicht alles auf die Gesellschaft schieben könnten" und, daß "wir uns" - womit sich wieder der Bogen zum Bündnis Kinder- und Jugendhilfe schließen ließ - "auch mit unseren eigenen Fehlern auseinandersetzen können" sollten. Das Bündnis sorge für die dafür erforderlichen Arbeitsbedingungen und -räume; schließlich könne nicht eine Definitionskraft eingefordert und in Anspruch genommen werden, wenn die Verhältnisse fehlten, in kritischer und selbstkritischer Reflexion das eigene Tun zu hinterfragen. Das wäre die Voraussetzung dafür, daß die Profession in der Öffentlichkeit gehört werde und sich durchsetzen könne, weil damit deutlich werde, daß die Aufgaben ernstgenommen und an einer Veränderung und Verbesserung der Situation, aber auch an einer Ausschärfung des Profils der Arbeit bei sich selbst gearbeitet werde.

All dies gehörte noch zu den einleitenden, die Thematik in ihrer vollen Schärfe berührenden Worte des streitbaren Wissenschaftlers, der es damit ermöglichte, unter Eingeweihten das Dilemma der Profession, nämlich an etwas beteiligt zu sein, das zugleich als zutiefst kritikwürdig und die eigenen beruflichen Absichten und Vorstellungen negierend bewertet wird, beschönigungslos zur Sprache zu bringen. Da das eigentliche Thema des Workshops jedoch die Diskussion um das Bündnis-Papier zum Selbstverständnis der Profession war, fiel die Debatte ein wenig zurück, da nun zunächst das Verständigungspapier gelesen wurde, bevor der Teilnehmerkreis den ihm zugeworfenen Ball, aktiv an der weiteren Gestaltung und Diskussion um das Papier durch eigene Beiträge und Stellungnahmen mitzuwirken, mit großem Interesse und zahlreichen Wortbeiträgen annahm. Dabei stellte sich schnell heraus, daß nicht alles, was sowohl von den Initiatoren als auch den Workshopteilnehmenden für wichtig erachtet wurde, schon aufgrund des Umfangs des fünfseitigen Papiers aufgegriffen werden konnte.

Eine Frau aus der Praxis schilderte zur Ergänzung, wie in ihrem Arbeitsbereich die Kürzungen griffen. Da sage niemand, daß benachteiligte Jugendliche keine Hilfen und Unterstützung bekommen sollten, doch es werde von den Kämmerern in den Kommunen gesagt, daß sie leider überhaupt keine finanziellen Mittel für diesen Bereich hätten. Auf Nachfrage des Schattenblick, warum, wenn doch, wie auch auf dem Kongreß vielfach zu vernehmen war, in der Sozialen Arbeit nichts ohne die Mitsprache der Betroffenen ginge, dies in dem Papier keine Berücksichtigung gefunden hätte, erklärte Thiersch zustimmend, daß die Partizipation, obwohl sie für die soziale Arbeit elementar wichtig sei, nicht ausdrücklich aufgenommen worden sei.

Ein Teilnehmer griff den Gedanken auf und stellte zur Diskussion, ob nicht, wie man am Beispiel ehemaliger Heimkinder aus den 1950er und 1960er Jahren, die heute als Betroffenenorganisation in der Öffentlichkeit ihre Stimme erheben und gehört werden, sehen könne, auch die Stimme der Sozialen Arbeit viel mächtiger wäre und in den Medien ganz anders sensibilisiert werden würde, wenn die Betroffenen, ohne das nun ausnutzen zu wollen, mit dabei wären. Er gab auch zu bedenken, daß die Profession die Gesellschaft mitproduzieren würde, denn es sei ja nicht so, daß die Soziale Arbeit von der "bösen Politik" unter Beschuß genommen werde. Der Teilnehmer fragte, was das Bündnis dazu sage, daß die Soziale Arbeit die Ökonomisierung selbst auf den Plan gerufen habe, an ihr teilhabe und sich dabei offensichtlich pudelwohl fühle?

Matthias Heintz, Klaus-Uwe Ittner, Heidi Bauer-Felbel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Soziale Arbeit hat die Ökonomisierung selbst mit auf den Plan gerufen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Bündnissprecher Matthias Heintz stimmte dem vollkommen zu. Über diesen Punkt sei im Bündnis viel diskutiert worden. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion innerhalb der Profession werde für außerordentlich wichtig erachtet. Wenn ein Gebiet wie die Soziale Arbeit okkupiert worden ist, so sein Argument, müsse man sich doch fragen, was der eigene Anteil daran ist, daß dies geschehen konnte. Über diese Selbstanteile müssen wir sehr, sehr viel nachdenken, auch im Bereich der Lehre, der Hochschulen und Fachhochschulen, so Heintz. Hans Thiersch fügte hinzu, daß der Workshop auch die Überschrift "Ermutigung der Profession" hätte haben können, das sei die eigentliche Absicht gewesen. In diesem Sinne sind sicherlich auch seine Worte zur Rolle der Profession zu verstehen: "Sie hat etwas, sie kann etwas, und dazu braucht sie Bedingungen."

Das Verständigungspapier sei nicht als Jugend- oder Sozialbericht, sondern tatsächlich dazu gedacht gewesen, zu einer Verständigung innerhalb der Sozialen Arbeit bzw. der Kinder- und Jugendhilfe zu kommen. Wie am regen Meinungs- und Erfahrungsaustausch unschwer abzulesen war, stieß dieser Ansatz, zumindest bei den in der Profession tätigen Anwesenden, auf ein großes Interesse und die Bereitschaft, die in dem Workshop angesprochenen professionsinternen Fragen und Probleme zu erörtern.


Fußnoten:

[1] Siehe im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
"Wie ein Meißel aus Seife" - Gespräch mit Prof. Dr. Hans Thiersch auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit am 14. September 2012
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0006.html

[2] Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) ist das Achte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII), das am 1. Januar 1991 in Kraft trat. Ihm liegt nach Angaben des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) "ein neues Verständnis von Kinder- und Jugendhilfe zugrunde; im Vordergrund stehen die Förderung der Entwicklung junger Menschen und die Integration in die Gesellschaft durch allgemeine Förderungsangebote und Leistungen in unterschiedlichen Lebenssituationen."
(Quelle: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gesetze,did=3278.html)
In § 1 des KJHG ist das "Recht auf Erziehung, Elternverantwortung und Jugendhilfe" gesetzlich festgelegt. Im 1. Absatz heißt es: "Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit."
(Quelle: http://www.kindex.de/pro/index~mode~gesetze~value~kjhg.aspx)

[3] Verständigungspapier. Diskussionspapier zum Selbstverständnis des Bündnisses. Auf dem Workshop vorgestellt mit Stand vom 10.09.2012
http://buendnis-jugendhilfe.de/verstandigungspapier/

[4] Siehe im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
Impulsreferat von Mechthild Seithe auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit 2012
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0018.html


Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
BERICHT/020: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 1 (SB)
BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)
BERICHT/022: Quo vadis Sozialarbeit? - Für die Starken (SB)
BERICHT/023: Quo vadis Sozialarbeit? - Kopflast (SB)
BERICHT/024: Quo vadis Sozialarbeit? - Vorbild Freiheit (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)
INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)
INTERVIEW/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Sowohl als auch (SB)
INTERVIEW/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Flicken, halten und verlieren (SB)
INTERVIEW/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Heimkehr der Theorie (SB)

24. Dezember 2012