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BERICHT/032: Warum schweigen die Lämmer? - weil die Aufklärung schluchzt ... (SB)


Laß die Lämmer bei die Schafe

Vortrag zum Thema "Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement" von Prof. Dr. Rainer Mausfeld am 22. Juni 2015 im Norbert Gansel-Hörsaal der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel



Zwei Lämmer auf grüner Wiese - Foto: By Jotpe (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Welches Lamm könnte ahnen, wie Menschen ihr Schweigen deuten?
Foto: By Jotpe (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Schweigen Lämmer überhaupt? Wer sich im Frühjahr in der noch kargen Landschaft der nordfriesischen Küste in das den hier freilaufenden Schafen und ihren Jungtieren vorbehaltene Deichvorland wagt, wird da nicht ohne Zweifel bleiben. Rainer Mausfeld, Professor für Allgemeine Psychologie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, benutzte diese Metapher im Titel eines Vortrags "Warum schweigen die Lämmer? Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement" offenbar, um die Bereitschaft des Menschen, sich beherrschen bzw. täuschen zu lassen, zu versinnbildlichen. Welcher Zusammenhang - wenn überhaupt - bei diesem Thema zu schweigenden Lämmern bestehen mag, gehörte nicht zu den Fragen, denen sich der Referent und die rund 300 Zuhörenden in der Alten Mensa der Universität Kiel an diesem Abend widmeten.

Die wenn auch lose Aneinanderreihung der Begriffe Demokratie, Psychologie und Empörungsmanagement hat offenbar, wie sich an dem bis auf den letzten Platz gefüllten Hörsaal ablesen ließ, großes Interesse hervorgerufen. Ein erster Anhaltspunkt dazu, was Demokratie mit Psychologie bzw. einem seinerseits erklärungsbedürftigen Empörungsmanagement zu tun haben könnte, ließ sich einer von einem Kieler Antikriegsbündnis im Rahmen der Proteste gegen die NATO-Präsenz bei der Kieler Woche veröffentlichten Ankündigung entnehmen. [1] Darin hieß es, Prof. Mausfeld würde sich dem als Paradoxon der Demokratie bezeichneten Spannungsverhältnis zwischen Volk und Eliten widmen. Schon Aristoteles habe davor gewarnt, daß "die Armen, weil sie die Mehrheit bilden, das Vermögen der Reichen unter sich aufteilen" könnten. Demokratien seien eigentlich Oligarchien, in denen die öffentliche Meinung zwecks Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse gelenkt werde.


Demokratie - ein uneinlösbares Versprechen?

Prof. Mausfeld ist zugute zu halten, daß er hinter den Begriff Demokratie ein großes Fragezeichen gesetzt hat. Seine These, daß die abendländische Ideengeschichte von einer tiefen Demokratieskepsis, wenn nicht -feindlichkeit durchzogen ist, belegte er mit Zitaten aus der griechischen Antike. So habe beispielsweise Thukydides, der von 454 bis 399 vor unserer Zeitrechnung lebte, erklärt, daß die Masse eine Neigung zu Affekten und Leidenschaften hätte auf Kosten der Vernunft. Jede gute Organisationsform der Gesellschaft müsse diesen Schwachstellen der menschlichen Natur Rechnung tragen. Eine Demokratie könne dies nicht, weshalb Thukydides eine Herrschaft der Ersten Mannes vorgeschlagen habe, die nur dem Namen nach als Demokratie ausgewiesen werden sollte.

Durchaus im Einklang mit Aristoteles, der mit der Timokratie eine Herrschaft angesehener Besitzender konzipiert hatte, stünde die amerikanische Verfassung, in die der Vorschlag des 4. US-Präsidenten James Madison, daß die Minorität der Reichen gegen die Majorität der Armen geschützt werden müsse, aufgenommen worden war. Ab dem 19. Jahrhundert habe die Demokratie jedoch auch, wie Prof. Mausfeld ausführte, eine immer größere Rolle in der politischen Propaganda gespielt. Sie war nicht nur eine von vielen möglichen Herrschaftsformen, sondern galt als die einzige, die politische Macht legitimieren könne.

Nach heutigem Dafürhalten, wie zu ergänzen wäre. Denn wer könnte schon ausschließen, ob es nicht in anderen Kulturen und Epochen der Menschheitsgeschichte Herrschaftsformen gegeben haben könnte, die die Frage ihrer Legitimation auf gänzlich andere Weise, doch nicht minder effizient, gelöst haben? Hätte sich beispielsweise eine Hochkultur wie die des alten Chinas so entwickeln können, wenn das Kaiserreich nicht auch, auf welchen Wegen auch immer, für seine Akzeptanz gesorgt hätte? Kurzum, so einfach, wie der Referent sie verstanden wissen möchte, liegen die Verhältnisse womöglich nicht.


Der Referent in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Prof. Rainer Mausfeld
Foto: © 2015 by Schattenblick

Nun ist Prof. Mausfeld weder Politologe, Philosoph oder Historiker. An der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat er den Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie II inne, der die Bereiche Wahrnehmungs- und Kognitionspsychologie beinhaltet. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt unter anderem bei der visuellen Wahrnehmung der Eigenschaften von Oberflächen und hierbei insbesondere bei der Farbwahrnehmung. Wie Dr. Jürgen Golz vom Institut für Psychologie zu Beginn der Veranstaltung erläuterte, hat sich Prof. Mausfeld jedoch auch Themen gewidmet, die man eher der politischen Psychologie zuordnen könnte. Dabei habe er sich stets um ein allgemeines Verständnis grundsätzlicher Fragen bemüht und sei international beispielsweise durch seine Recherchen und Publikationen zu der unrühmlichen Beteiligung von Psychologen an der Weißen Folter bekannt geworden. [2]


Von der Kognitionsforschung zur Bürgerkritik

Prof. Mausfeld sagte eingangs, daß das Thema des Abends zu unserem gesellschaftlichen Erlebnisalltag gehöre, weshalb hier kein Spezialistenwissen erforderlich sei. Wir alle seien als Citoyen (also Bürger) mit einem natürlichen Erkenntnisvermögen ausgestattet, einem "Licht der Vernunft" oder "Lumen naturale", wie man dies in der Aufklärung nannte, so seine Behauptung. Die eigentlich naheliegende Frage, ob die Idee einer solchen Vernunft oder eines derartigen Erkenntnisvermögens nicht ihrerseits Bestandteil eines Täuschungsmanövers sein könnte, durch das Menschen aufgrund des ihnen vermittelten Glaubens, Bescheid zu wissen und die gesellschaftlichen Verhältnisse mitgestalten zu können, beherrschbar gehalten werden, wurde weder vom Referenten noch aus dem Publikum gestellt.


Dunkle Schnipsel in verschiedenen Formen über eine helle Fläche verteilt - Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld

Hätten Sie's gewußt?
Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld

Mausfeld unternahm einen kleinen Exkurs in sein eigentliches Spezialgebiet, indem er den Anwesenden ein Wahrnehmungsphänomen präsentierte. Zwei optische Darstellungen zeigen für Betrachter, die derartige, Psychologen sicherlich wohlvertraute Deutungsmuster nicht kennen, schwer zu interpretierende Formen oder Klecksereien. Das erste Bild unterschied sich vom zweiten für Uneingeweihte vor allem dadurch, daß auf ihm weniger Kleckse zu sehen sind. Doch der Referent half nach. Demnach sehen wir im ersten Bild etwas, das wir "vermutlich als Fragmente von etwas wahrnehmen, ohne daß wir jedoch tatsächlich einen Bedeutungszusammenhang dieser Fragmente erkennen". Mit etwas Glück stellt sich ein Aha-Effekt ein, wenn man beim zweiten Bild erkennt, daß es lauter R's, also Buchstaben, enthält, die beim ersten weggelassen wurden, wodurch dessen insofern fragmentarische Formen entstanden sind.


Schwarze Klecksereien, unterlegt von fünf R-Buchstaben auf hellem Grund - Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld

Des Rätsels Lösung
Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld

Dieses Phänomen illustriere, wie Prof. Mausfeld erläuterte, tiefe Prinzipien unseres Wahrnehmungssystems und unseres Geistes, die natürlich auch im Bereich des Gesellschaftlich-Politischen gelten. Von dem präsentierten Beispiel, das genaugenommen nicht viel besagt, verallgemeinerte er die sogenannte Fragmentierung, ohne dies näher zu begründen, auf die menschliche Wahrnehmung insgesamt und den - was auch immer darunter zu verstehen ist - menschlichen Geist.


Fragmentierung - ein neues Wort für Altbekanntes?

Als zentrales Thema des Abends wies Prof. Mausfeld die Fragestellung aus, wie und warum durch Fragmentierung Sachverhalte unsichtbar gemacht werden können. Inwiefern dieser, anhand der beiden Klecksbilder demonstrierte Vorgang zu anderen Ergebnissen führen könnte als eine Medienkritik, die sich mit dem gezielten Einsatz sogenannter Informationen im weiten Feld der Täuschungen befaßt, blieb offen. Um zu erklären, warum im politischen Bereich Sachverhalte unsichtbar gemacht werden, führte Prof. Mausfeld das Paradoxon der Demokratie an - nicht nur mit Zitaten aus der Antike.

Heute könne man schon in Zeitungen wie der Washington Post nachlesen, daß die Demokratie in den USA keine mehr ist. Arend Oetker, Unternehmer und Vizepräsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, habe gesagt, daß die USA von 200 Familien regiert werden; in der Süddeutschen Zeitung stünde, daß 300 Unternehmer die Wahlen in den USA entscheiden. Wissenschaftlich ließe sich dies auch belegen beispielsweise durch eine Studie von Gilens und Page aus dem Jahre 2014 [3], derzufolge der Einfluß der durchschnittlichen Amerikaner auf die von der Politik getroffenen Entscheidungen bei null liegt, was auf 70 Prozent der US-Bevölkerung zuträfe. Dies sähe in Europa nicht anders aus, so die Einschätzung des Referenten unter Verweis auf das Wallstreet Journal, das geschrieben habe, das neoliberale Programm sei praktisch nicht mehr demokratisch abwählbar. [4]

Überraschend sei dies alles nicht, so Mausfeld, weil Neoliberalismus und Demokratie tatsächlich miteinander unvereinbar seien. Milton Friedman, einer der Gründerväter des Neoliberalismus, habe schon 1990 erklärt, daß eine demokratische Gesellschaft, ist sie erst einmal etabliert, die freie Wirtschaft zerstört. Aus Sicht multinationaler Konzerne stelle die Demokratie nichts anderes als ein Geschäftsrisiko dar. Die in der Trilateralen Kommission [5] vertretenen Eliten hätten in einer Mausfeld zufolge sehr einflußreichen Schrift, dem 1975 erstellten Bericht zur Krise der Demokratie, festgestellt, daß die Demokratie an einem Übermaß an Demokratie erkrankt sei, weshalb ein Demokratieabbau, Bürokratieabbau genannt, vorgeschlagen wurde. Soviel zu dem Warum der Fragmentierung gesellschaftspolitischer Sachverhalte, dem das Wie auf dem Fuße folgte.


Foto von Schafherde, darüber Schriftzug 'Warum schweigen die Lämmer?' und Hinweise auf Studien zum Thema - Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld

Auf jede Frage gibt es eine Antwort - es sind Apathieinduktionstechniken
Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld


Man erzeuge Apathie...

Gegenüber einer Diktatur böte eine Demokratie viele Vorteile, nicht zuletzt den, daß ihre Kontrolltechniken kostengünstiger seien als Gewalt, Bestechung etc. Da zur Stabilisierung der politischen Herrschaft die Aufrechterhaltung der Illusion einer Demokratie erforderlich sei, müsse eine weitgehend entpolitisierte Bevölkerung erzeugt werden. Dies geschähe durch Apathieinduktionstechniken, worunter Maßnahmen des Meinungs- und Empörungsmanagements zu verstehen seien. Massenmedien dienten längst als soziale Narkotika, wobei die Erzeugung von Angst ein wichtiger Aspekt sei. Als Beispiel für die sogenannte affektive Kontrolle zeigte der Referent ein Bild des früheren US-Außenministers Colin Powell, wie er am 5. Februar 2003 dem UN-Sicherheitsrat einen gefälschten Beweis für die angeblich im Irak unter Saddam Hussein entwickelten Massenvernichtungswaffen präsentierte.

Wichtiger noch als die Manipulation der Gefühle seien jedoch Techniken, mit denen Meinungen gesteuert werden könnten, was - ganz ohne Psychologie - das Standardgeschäft der Medien sei. Fakten werden als Meinungen deklariert, durch Fragmentierung aus dem Zusammenhang gerissen und als isolierte Einzelfälle dargestellt (Dekontextualisierung) und in einen neuen Kontext eingebettet (Rekontextualisierung), durch den sie endgültig ihren eigentlichen Sinnzusammenhang verlieren.


Je öfter, desto Wahrheit

An dieser Stelle brachte der Referent die Psychologie ins Spiel. Sie habe "eine Fülle von Einsichten in die Natur unserer Entscheidungs- und Meinungsbildung gewonnen", wofür er zwei Fälle anführte. Erstens hätten Studien gezeigt, daß der gefühlte Wahrheitsgehalt einer Aussage steige, je häufiger sie präsentiert wird. Prof. Mausfeld wörtlich: "Das läuft automatisch ab. Wir können uns nicht dagegen wehren. Man kann die Versuchsperson auch vorher darüber aufklären, das hilft nichts." Als Beispiele benannte er das in deutschen Medien vorherrschende Narrativ der reformunwilligen und -unfähigen Griechen, aber auch die weitverbreitete Fehlannahme, Rußland habe die Krim annektiert. [6] Daß offenbar viele Medienkonsumenten diese erzeugten Inhalte als Wahrheiten akzeptieren, stellt jedoch nicht unbedingt eine Bestätigung der angeblich auf spezifischen psychologischen Erkenntnissen beruhenden Manipulationstechniken dar. Ließe sich nicht die Zunahme der Bereitschaft, bestimmte Aussagen anzunehmen, auch ohne Zuhilfenahme solcher Spezialkenntnisse mit der gesellschaftlichen Überlebensstrategie erklären, sich stets dem Stärkeren zu beugen und deshalb auch dessen Wahrheiten zu übernehmen?

Die zweite Manipulationstechnik beruht Mausfeld zufolge auf der Neigung, Extreme zu vermeiden. Wenn uns verschiedene Meinungen präsentiert werden, neigten wir dazu, sie in ein zu diesem Zweck angebotenes Spektrum zu integrieren und zu vermuten, daß irgendwo in der Mitte die Wahrheit läge. Das politisch zulässige Meinungsspektrum zu definieren, sei also eine ganz wichtige Technik im politischen Geschäft. Wer die äußersten Ränder des Akzeptablen definiert, habe einen großen Teil des Meinungsmanagements schon erreicht. In Demokratien sei dies vor allem am linken Rand des Spektrums wichtig, so sei Jürgen Habermas hier das Äußerste, was akzeptiert werde.

Auch bei diesem Beispiel ist nicht unbedingt nachzuvollziehen, wie hier Einsichten in die Natur unserer Entscheidungs- und Meinungsbildung, die die Psychologie gewonnen haben will, zum Tragen gekommen sein sollen. Wer gesellschaftlich vorgegebene Grenzen der Kritik akzeptiert, könnte dafür Gründe haben, die keiner psychologischen Erklärung bedürfen. Den gesellschaftlichen Status und die mit ihm verbundene Vorteilslage - mag sie auch relativ sein - bei aller Kritik an Staat und Kapitalismus nicht ernsthaft zu gefährden, ist nicht unbedingt rätselhaft.


Bosch-Gemälde mit Zauberer, der Tricks zeigt, ein Helfer zieht einem Zuschauer einen Beutel aus der Tasche - Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld

Hieronymus Bosch gibt posthum Hilfestellungen
Foto: © 2015 by Schattenblick, Tafel Rainer Mausfeld


Psychologische Einsichten auf den Markt geworfen

Zur Illustration der "Zauberkunst des Unsichtbarmachens", also des Aufmerksamkeitsmanagements, präsentierte der Referent ein Gemälde von Hieronymus Bosch, das einen Zauberer zeigt, der die Bevölkerung hypnotisiere, damit ein Gehilfe ihr das Geld aus der Tasche ziehen könne. Das potentielle Opfer abzulenken, um ihm das Portemonnaie zu entwenden, könnte auch aus dem Kleinen Einmaleins des Trickdiebstahls stammen. Mausfeld führt dazu aus, daß Staaten mit Billigung der Mehrzahl ihrer Bürger schlimmste Verbrechen inklusive Folter, Massen- und Völkermord begehen und die meisten Menschen dennoch der Ansicht wären, dies sei moralisch nicht verwerflich.

Es gäbe eine moralische Sensibilität und ein natürliches Unrechtsempfinden des Menschen, die offenbar aussetzen, woraus der Referent schlußfolgerte, daß die negativen Folgen dieser Taten moralisch unsichtbar gemacht worden seien. Es ginge nicht um die Frage, warum die jeweils herrschenden Regierungen die Verbrechen begangen hätten, sondern darum, warum wir, also das Volk, nicht mit moralischer Empörung reagierten. Mausfeld zeigte zur Veranschaulichung des Zaubertricks des Unsichtbarmachens ein Bild des jungen David Copperfield, wie er zwei Tauben verschwinden läßt...


Abstrakte Weltbank und konkrete Folter

Es gehe also darum, Fakten verschwinden zu lassen, die moralisch nicht auffallen, worunter abstrakte Dinge und strukturelle Gewalt, die unsere natürliche moralische Sensitivität unterläuft, zu verstehen seien. Als Beispiel nannte der Referent die Weltbank, die, wie vor kurzum der Tagespresse zu entnehmen war [7], weltweit die Menschenrechte verletze, was uns moralisch nicht so richtig träfe. Die Weltbank sei eine abstrakte Finanzorganisation, der es nicht schaden würde, wenn in Tageszeitungen offen über ihre Menschenrechtsverletzungen berichtet werde.

Anders verhalte es sich bei konkreten Dingen wie Folter, weil es dabei immer einen Täter gäbe, der unser natürliches moralisches Empörungsvermögen anspricht. Zeugt nicht der Versuch, ein solch repressives Herrschaftsinstrument auf die individualisierte, strafrechtlich dem Einzeltäter zuzuordnende Schuld herunterzubrechen, von einem nur schwach entwickelten kritischen Standpunkt, weil zwar das Roß, nicht aber der Reiter genannt wird? Als Fallbeispiel führte der Referent das ferne Usbekistan an, laut amnesty international einer der schlimmsten Folterstaaten. Von den dort verübten Massaker wüßten wir nichts, sie werden auch von der deutschen Bundesregierung ignoriert. Zwar habe die EU verlangt, Sanktionen gegen Taschkent zu verhängen, doch Steinmeier habe sich dagegen ausgesprochen, weil Sanktionen die dortige Regierung nur vor den Kopf stoßen würden. Diese "Taube" war also so klein, so Mausfelds Einschätzung, daß man sie leicht zum Verschwinden bringen konnte...

Was aber ist mit Fällen in einer Größenordnung, in der dies nicht so einfach möglich wäre? Dieser Problemstellung widmete sich der Referent anhand der Frage, wieviele Zivilisten von den USA seit dem Zweiten Weltkrieg in Kriegen getötet wurden. In den letzten 15 Jahren seien über eine Million Muslime durch die westliche Wertegemeinschaft im sogenannten Krieg gegen den Terror getötet worden, wozu der IPPNW kürzlich eine Studie veröffentlicht hat. [8] Auch gäbe es eine ganze Reihe von Studien, aus denen hervorgehe, daß in den Kriegen in Vietnam und Korea 10 bis 15 Millionen zivile Opfer ums Leben kamen und in weiteren Interventionen westlicher Staaten noch einmal 9 bis 14 Millionen. Durch Angriffe auf andere Länder seien die USA seit dem Zweiten Weltkrieg für den Tod von 20 bis 30 Millionen Menschen verantwortlich, so Mausfeld. Wie können bekannte Fakten solch monströser Dimensionen für die Bevölkerungen unsichtbar gemacht werden? Dazu ein Zitat des Literaturnobelpreisträgers Harold Pinter vom 7. Dezember 2005:

... It never happened. Nothing ever happened. Even while it was happening it was'nt happening. It didn't matter. It was of no interest...
(zu deutsch in etwa: Es ist nie geschehen. Nichts ist je geschehen. Sogar während es geschah, fand es nicht statt. Es spielte keine Rolle. Es war nicht von Interesse.)


Empörung - moralische Erregung oder Aufruhr wider Staat und Gesellschaft?

Der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld habe gesagt, der gefährlichste Feind einer Regierung sei die öffentliche Meinung. Nicht die vielen getöteten Zivilisten seien ein Problem, sondern ihre Wahrnehmung durch die Bevölkerung. Regierungen bräuchten deshalb nicht nur ein Meinungs-, sondern auch ein Empörungsmanagement. Kommt es bei der Manipulation der öffentlichen Meinung zu einem Mißgeschick wie im Vietnamkrieg oder durch die Folterbilder von Abu Ghuraib, müßten sehr schnelle und effektive Maßnahmen ergriffen werden, um die aufflammende Empörung einzudämmen.

Zum Empörungsmanagement gehörten zwei Komponenten je nachdem, ob sich der aufkommende Unmut gegen die eigene oder eine befreundete Regierung richtet, worauf mit militärischen Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung reagiert werde, oder ob sich die Aufständischen, nun Freiheitskämpfer genannt, gegen eine verfeindete Regierung wenden. In dem Fall sind Empörungsreaktionen der Bevölkerung erwünscht und werden, auch finanziell, unterstützt und verstärkt wie bei den sogenannten Farbrevolutionen. Ein Großteil dieser Managementaufgaben, die ehedem im Aufgabenbereich der CIA lagen, wurde inzwischen privatisiert und "outgesourct", wofür der Referent das bekannte Beispiel der Brutkastenlüge erwähnte, mit der sich bekanntlich die USA den Weg in den Irakkrieg gebahnt hatten. Die Privatisierung dieses Managements sei inzwischen so weit fortgeschritten, daß man sich eine künstliche Graswurzelbewegung für jeden beliebigen Zweck kaufen könne, wofür sich der Begriff "Astroturfing" (Kunstrasenbewegung) eingebürgert habe. [9]

Kurz vor Ende seines Vortrags merkte Prof. Mausfeld an, man könne in einem alten, inzwischen freigegebenen CIA-Handbuch nachlesen, daß die Psychologie eine Fülle weitaus subtilerer Techniken als die von ihm beschriebene Fragmentierung, Dekontextualisierung etc. bereitgestellt habe. In der Psychologie wisse man heute sehr viel mehr darüber, wie Menschen tickten und welche Verletzlichkeiten es im geistigen Bereich gäbe. Da sei es nicht überraschend, daß zahlreiche Psychologen der US-Regierung dabei halfen, dieses Wissen zu nutzen, was zumeist auf sehr verdeckte Weise geschehen sei.


R. Mausfeld während seines Vortrags, links das Bosch-Bild - Foto: © 2015 by Schattenblick

Wehe dem Unbewußten ...
Foto: © 2015 by Schattenblick


Psychologen in geheimdienstlicher Tätigkeit

Durch die Snowden-Papiere sei auch ein Handbuch des britischen Geheimdienstes bekannt geworden, in dem akribisch aufgelistet wurde, was die Psychologie alles bereitstelle und wie es gelingen könne, Menschen so sehr zu täuschen, daß sie nicht einmal merkten, daß sie getäuscht werden. Auf die Details ging der Referent nicht ein. Für die Fachleute im Publikum würden die eingeblendeten Stichworte genügen, um ihnen klarzumachen, daß es sich um hochkarätige psychologische Forschung handelt, die hier zu Täuschungszwecken verwendet wird.

Prof. Mausfeld zog nun folgendes Fazit: Das Interessante an diesen Techniken sei, daß wir nicht gegen sie gefeit sind, selbst wenn wir wüßten, wie sie funktionieren. Diese Dinge liefen unbewußt und für uns selbst unsichtbar ab, weshalb wir es nicht schafften, ihnen zu entgehen. Von Natur aus habe unser Geist gewisse Gesetzmäßigkeiten, Schwachstellen, durch die ohne Schwierigkeiten bestimmte Effekte erzielt werden könnten. Wir dürften uns nicht einbilden, dagegen gewappnet zu sein, nur weil wir jetzt um diese Dinge wüßten.

Im nächsten Atemzug widersprach der Referent sich selbst: Die gute Nachricht sei, daß unser Geist gleichermaßen Möglichkeiten bereitstellt, uns gegen diese Dinge zu schützen. Wir müßten die Mechanismen aufdecken. Wenn wir uns dessen bewußt seien, daß wir uns in einem Manipulationszusammenhang befinden, könnten wir diesen Kontext aktiv vermeiden. Von Natur aus hätte unser Verstand ein reiches Repertoire an Möglichkeiten, mit diesen Dingen umzugehen, so auch ein natürliches Immunsystem gegen Manipulation. Wenn wir uns nicht mehr mit den vielen Illusionen (der Informiertheit, der Demokratie, der Freiheit etc.) zufriedengeben, hätten wir eine Chance, den Manipulationstechniken zu entgehen, die Entscheidung läge bei uns.

Wer dem Rechnung tragen will und das, was mit Verstand wohl gemeint sein könnte, an Ort und Stelle einzusetzen beginnt, wird wohl nicht umhinkommen festzustellen, daß Aussage A (gegen hochkarätige psychologische Manipulationstechniken sind wir selbst dann nicht gefeit, wenn wir wissen, wie sie funktionieren) und Aussage B (wenn wir die Mechanismen aufdecken und das Immunsystem unseres Verstandes benutzen, können wir den Manipulationstechniken entgehen) einander im Kern widersprechen. Sich nun zu fragen, ob einem A oder B besser gefällt und dementsprechend entweder die eine oder andere Wahrheit anzuerkennnen, kann getrost vernachlässigt werden, weil mit Ansätzen dieser Art ohnehin kein Blumentopf zu gewinnen ist, setzen sie doch die Akzeptanz der Expertise einer Wissenschaftsdisziplin voraus, die sich offenbar ganz in den Dienst der Herrschaftssicherung gestellt hat.


Werbebanner Kritische Psychologie?

Das scheint auch für den sich selbst als kritisch bezeichnenden Teilbereich der Psychologie zu gelten, dessen Protagonisten sich allem Anschein nach berufen fühlen, durch gesellschaftspolitisch kritisch anmutende Erklärungen das widerständige Potential einer Bevölkerung anzusprechen, ihm Verständnis entgegenzubringen und schließlich zirkelschlüssige Lösungsangebote anzubieten. Wenn wie am Ende eines solchen Vortrags nichts anderes übrigbleibt als der wohlgemeinte Rat, sich von Medien und Informationen fernzuhalten, weil sie einen Manipulationskontext darstellten, kommt dies der klassischen Vogel-Strauß-Politik gleich.

Ein solcher Standpunkt hat keine Berührungsflächen mit einer Widerständigkeit, an deren Anfang ein konsequentes Nein und die Nichtakzeptanz des Bestehenden steht, wozu selbstverständlich auch die Axiomatik einer Wissenschaftsdisziplin gehört, die das Prinzip gesellschaftlicher Herrschaft in den sattsam bekannten Modellen, die das Bewußte, Vorbewußte und Unbewußte postulieren, bestenfalls reproduzieren, aber keineswegs auflösen oder auch nur perforieren. Die eingangs gestellte Frage, warum Menschen sich beherrschen lassen, ist es gleichwohl wert, weiterverfolgt und -qualifiziert zu werden gerade dann, wenn sich wahrnehmungsphänomenologisch oder kognitionstheoretisch gestützte Konzepte als fatalistisch und damit kontraproduktiv erwiesen haben.


Fußnoten:

[1] https://warstartsherekiel.noblogs.org/

[2] Foltern für das Vaterland. Über die Beiträge der Psychologie zur Entwicklung von Techniken der 'weißen Folter'. Von Prof. Dr. Rainer Mausfeld, April 2009.
Im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE: BERICHT/076: Foltern für das Vaterland (Rainer Mausfeld)
http://schattenblick.de/infopool/sozial/psychol/spber076.html

[3] Die US-amerikanischen Politikwissenschaftler Martin Gilens an der Princeton University und Benjamin Page von der Northwestern Universiy haben 2014 in ihrer Studie "Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens" herausgefunden, daß die überwiegende Mehrheit der US-amerikanischen Bevölkerung nur einen geringen Einfluß auf politische Entscheidungen der Regierung hat.
Quelle: Is America an Oligarchy? Von John Cassidy. The New Yorker, 18.04.2014
http://www.newyorker.com/news/john-cassidy/is-america-an-oligarchy

[4] Europe's Institutions Pose Counterweight to Voters' Wishes. Von Matthew Dalton. Wallstreet Journal, 28.02.2013
http://www.wsj.com/articles/SB10001424127887324662404578332292730125024

[5] Die Trilaterale Kommission ist eine 1973 von David Rockefeller initiierte Einrichtung privater Politikberatung, in der sich rund 400 einflußreiche Mitglieder aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft aus den USA, Europa und Japan zur besseren Koordinierung ihrer Interessen zusammengeschlossen haben. Ihr gehörten namhafte US-Globalstrategen wie Zbigniew Brzezinski und Henry Kissinger an. Zu ihren Kritikern gehört u.a. der US-Politologe Stephen Gill, der den Trilaterismus als ein Projekt zur Entwicklung einer dauerhaften Allianz zwischen den größten kapitalistischen Staaten, um eine mit Blick auf die in ihnen dominierenden Interessen stabile Welt(wirtschafts)ordnung zu gewährleisten, definiert.

[6] Prof. Dr. jur. Reinhard Merkel, Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, legte im April 2014 dar, daß die Behauptung, Rußland habe die Krim annektiert, völkerrechtlich falsch sei.
Quelle: Regierungsamtliche Vokative. German Foreign Policy, 10.04.2014
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58843

[7] Wie in der "Zeit" am 16. April 2015 berichtet, haben Menschenrechtler die Weltbank zu Beginn ihrer Sitzung kritisiert, weil sie, anstatt Armut zu bekämpfen, wie es eigentlich ihre Aufgabe sei, Millionen Menschen ihrer Lebensgrundlagen beraubt habe. Die "Süddeutsche Zeitung" berichtete zur selben Zeit, daß durch Projekte der Weltbank in den zurückliegenden zehn Jahren 3,4 Millionen Menschen ihr Land oder einen Teil ihrer Lebensgrundlage verloren hätten.
Quellen: http://www.zeit.de/wirtschaft/2015-04/entwicklungshilfe-weltbank-projekte-verletzen-menschenrechte
http://www.sueddeutsche.de/politik/vertreibung-und-verfolgung-wie-weltbank-projekte-den-aermsten-schaden-1.2437465

[8] Am 20. März 2015 stellten die "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW) anläßlich des 12. Jahrestages des "Krieges gegen den Terror" eine Studie vor, derzufolge die tatsächliche Zahl der Todesopfer fast zehnmal so groß sei wie bislang angenommen. In der Studie unter dem Titel "BodyCount" wird die Gesamtzahl der Todesopfer der Kriege in Afghanistan, Pakistan und dem Irak auf weit über eine Million Menschen beziffert.
http://wort-meldungen.de/?p=10763

[9] Astroturfing ist ein im amerikanischen Sprachraum entwickelter Begriff für Kunstrasenbewegung, entstanden aus Astro Turf, einem Markennamen für Kunstrasen. Gemeint ist damit, zu politischen oder Werbezwecken eine dem Eindruck nach spontane Graswurzelbewegung vorzutäuschen.

28. August 2015


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