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BERICHT/034: Migrationswissenschaftliche Fragen - Primat der Familie ... (SB)


Unverstandenes Leid

Unbegleitete Kinder und Jugendliche am Ziel einer langen Flucht

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) "Migration und Rassismus. Politik der Menschenfeindlichkeit" vom 3. bis 6. März 2016 in Berlin


Sie sind vor Krieg oder Terror geflohen, vor Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten, vor Armut und Hunger, vor einem Leben, das ohne Hoffnung schien. 60.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche sind seit 2014 mit dem Strom der Flüchtlinge auf verschiedenen Routen nach Deutschland gekommen. Dass vor allem die männlichen muslimischen Jugendlichen von vielen Menschen in Deutschland als Bedrohung empfunden werden, wissen sie bereits nach ein paar Wochen.

Jussuf und Karim leben in einem Berliner Flüchtlingsheim. Sie spüren die Vorbehalte in der U-Bahn, wenn der Platz neben ihnen leer bleibt, wenn Leute von ihnen abrücken oder ihre Taschen fest an die Brust drücken. Auch wenn sie noch kein Deutsch können, spüren sie am Ton, dass sie manchmal beschimpft werden. Aber das wäre alles halb so schlimm, wenn man danach nach Hause gehen könnte, zu Eltern und Geschwistern.

Insgesamt weiß die Wissenschaft noch wenig über die spezielle Situation dieser Fortgeschickten. Denn sie sind nicht aus Abenteuerlust nach Europa aufgebrochen, sondern wurden in den meisten Fällen von ihren Eltern geschickt. Was sind das für Eltern, mag sich mancher fragen, die ihren Kindern eine solche Flucht zumuten, ihnen eine Trennung verordnen, deren Ende völlig unabsehbar ist? Es sind Eltern, die ihren Kindern nichts mehr wünschen als ein Leben in Sicherheit, eine gute Ausbildung, Arbeit und irgendwann Frau und Kinder, in denen die Familiengeschichte weiterlebt. Sie vermissen ihre Kinder nicht weniger als europäische Eltern es täten, so Prof. Elisabeth Rohr, aber sie handeln aus Verzweiflung und unterliegen einer Fehleinschätzung des Risikos. "Eltern, die ihre Kinder auf die Flucht nach Deutschland schicken, können sich nicht vorstellen, dass es ihnen hier eventuell nicht gut geht, dass sie sich in der Fremde verloren fühlen und die Trennung von den Eltern und ihrer gewohnten Umgeben emotional sehr belastend ist."

Elisabeth Rohr hat lange vor allem in Lateinamerika zu der unfreiwilligen Trennung von Eltern und Kindern geforscht. Beim Kongress "Migration und Rassismus" in Berlin wird sie darüber sprechen und daraus mögliche Handlungsempfehlungen für den Umgang mit dieser Flüchtlingsgruppe in Deutschland ableiten.

Soviel ist ihren Erkenntnissen zufolge sicher: Es spielt keine Rolle, ob Kinder von den migrierenden Eltern zurückgelassen werden wie in Lateinamerika oder ob sie auf die Reise in die Fremde geschickt werden. Es ist in keinem Fall die Entscheidung der Kinder; sie sind nicht die Akteure. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob die Kinder die Gründe für das Handeln der Eltern verstehen. "Die Gründe können die Kinder nachvollziehen. Sie begreifen, dass die Eltern ihr Bestes wollen. Aber das ändert nichts an der emotionalen Situation." Nicht zufällig sei die Suizidrate von zurückgelassenen Kindern in Lateinamerika höher als im Durchschnitt der Generation. "Die Trennungssituation ist für viele Kinder und Jugendliche eine todesähnliche Erfahrung. Emotional sterben die Eltern für sie."

Für Trauer existieren auf der Flucht keine Zeit und kein Raum. Die Flucht ist kein Abenteuer, sondern Überlebenskampf auf unbekanntem Terrain. Auch am Ziel angekommen können sie nicht trauern. Die Eltern erwarten sehnsüchtig Nachricht, dass sie wohlbehalten in Deutschland angekommen sind und es ihnen gut geht. "Ich kann ihnen doch unmöglich sagen, dass hier alles ganz anders ist, als sie es sich vorgestellt haben, und meine Chancen, rasch auf eigenen Beinen zu stehen, denkbar schlecht sind", beschreibt Yussuf seine Lage. Auch von anderen im Heim, die versuchen, so oft wie möglich mit den Eltern über Smartphone Kontakt aufzunehmen, höre ich, dass sie ihr Leben hier in Berlin sehr positiv schildern. "Alles andere wäre undankbar gegenüber meinen Eltern, die viel Geld für meine Flucht ausgegeben haben", so Yussuf. "Ein bisschen Dankbarkeit dürfen sie da schon erwarten."

Dankbarkeit erwarten auch andere - manche der Angestellten im Heim z.B. Ein Fehler aus Sicht von Elisabeth Rohr. "Diese Jugendlichen sollen nach allen Seiten dankbar sein, fühlen sich im Innern aber nur mies. Auf diese Dankbarkeit sollten wir als Gesellschaft, sollte aber auch jeder einzelne Betreuer verzichten, sie nicht einfordern. Die Geflüchteten brauchen Zeit, brauchen unsere Geduld und nicht sofort gebündelte Aktivität - von Sport bis Therapie. Als Angebot - ja, als verordnete Maßnahme - nein. Wenn ihre Trauer unterbunden, nicht erlaubt oder nicht akzeptiert wird, kann Integration nur schwer gelingen."

Die aktuellen Nachrichten, z.B. über das Asylpaket II, erreichen auch das Heim. Die im Gesetzentwurf enthaltene Passage zum Familiennachzug betrifft einige der Flüchtlinge, manche denken auch nur, sie könnten betroffen sein. Insbesondere die Kinder und Jugendlichen empfinden sie als Katastrophe. Zig mal haben sie sich in ihren Träumen vorgestellt, die Eltern würden ihnen folgen können. Gemeinsam könnte man es schaffen, das neue Leben hier. Aber so? "Die Ungewissheit, ob die Eltern nachkommen dürfen und nachkommen können, ist beängstigend nicht nur für die Kleineren", weiß Elisabeth Rohr aus Erfahrung. Sie weiß auch um die Gefahr, dass Familien an einer langen Zeit der Trennung zerbrechen.

Migrationsforscher akzeptieren den Unterschied zwischen Flüchtlingen aus Kriegsgebieten und jungen Europäern, die ihren Lebensmittelpunkt von einem in ein anderes europäisches Land verlagern. Und doch sprechen einige von ihnen bereits von einem transnationalen sozialen Raum; Migration wird für sie in der globalisierten Welt zunehmend zu einer mehr oder weniger belastungsfreien Normalität. Elisabeth Rohr teilt diese Auffassung nicht. Die transnationale Familie ist aus ihrer Sicht nicht bloß eine weitere Variante der traditionellen Großfamilie. "Das klingt für mich wie ein utopisches Versprechen von Freiheit und der virtuellen Überwindung nationaler Grenzen und Zeiten; als ließe mütterliche Liebe sich im Skype-Format übertragen und als sei die Sehnsucht der Kinder in den globalen Chatrooms gut aufgehoben. Dieses Verständnis von Transnationalität trägt dazu bei, dass der mit jeder Migration verbundene Trennungsschmerz und die damit verbundene Trauer als eine Fiktion erscheinen. Das sind sie nicht."

26. Februar 2016


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