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BERICHT/041: Überraschung inbegriffen - Grenzgänger ... (SB)


Arbeitsplatzverlust als Bestandteil der Lebensplanung
Soziologin Natalie Grimm über das Leben der prekär Beschäftigten in der Zwischenzone

Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) vom 9. bis 12. März 2017 in Berlin: "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit"


Der Mitte Februar veröffentliche Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs (BuWiN) lieferte neue beunruhigende Zahlen: 13 von 14 Wissenschaftlern unter 45 Jahren verfügen nur über einen befristeten Arbeitsvertrag. Viele von ihnen müssen die Familiengründung aufschieben oder bleiben in der am Ende vergeblichen Hoffnung auf eine sichere Stelle kinderlos. Die Prekarisierung ist eine direkte Folge der Abhängigkeit von Drittmitteln. Aber auch 75 Prozent der grundfinanzierten Stellen in der Wissenschaft sind inzwischen befristet.

Dr. Natalie Grimm vom Soziologischen Forschungsinstitut der Universität Göttingen (SOFI) beschäftigt sich seit Jahren mit prekärer Beschäftigung und das nicht beschränkt auf Akademiker. Über einen Zeitraum von fünf Jahren hat die Diplom-Sozialwirtin Menschen befragt, die sich regelmäßig zwischen Minijobs und Leiharbeit, Praktika, befristeten Tätigkeiten und staatlicher Grundsicherung bewegen. Ihr Fazit beim Kongress "Gesellschaftliche Spaltungen - Erfahrung von Ungleichheit und Ungerechtigkeit" der Neuen Gesellschaft für Psychologie in Berlin im März: Eine Zone der Instabilität, die von Hyperaktivität und Unsicherheit geprägt ist, verfestigt sich. Sie spricht von einer Zwischenzone der Arbeitswelt, der abhängig von den angelegten Kriterien inzwischen 30 bis 40 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung angehören.

Manche von ihnen haben ein eigenes Zwischenzonenbewusstsein entwickelt und den Arbeitsplatzverlust zum Bestandteil der Lebensplanung gemacht. Seit fünf bis neun Jahren pendeln sie zwischen Job haben und nicht haben. Ihre Lage haben sie umgedeutet und dadurch für sich besser erträglich gemacht: Die Welt bzw. der Arbeitsmarkt ist nun mal so; es ist nicht meine Schuld. Ich muss den Kampf, den Marathon, den Hürdenlauf - so die Begriffe, die sie gegenüber Natalie Grimm zur Beschreibung ihrer Lage verwendet haben - nur gut überstehen. "Arbeitsphasen sind für diese Gruppe Ruhephasen, in denen sie nicht kämpfen müssen. Erst kurz vor Vertragsende beginnt der Kampf erneut, mit neuen Bewerbungen, der Entwicklung neuer Strategien, neuer Wettkampfplanung", so die Sozialwirtin. Vor allem für diese Gruppe hat sie den Begriff Statusakrobaten geprägt.


Aus dem Anspruch wird ein Wunschtraum

"Zwischenzonenbewusstsein ist eine Anspruchsreduktion auf Seiten der prekär Beschäftigten. Sie haben es zum Teil aufgegeben, je wieder im ursprünglich erlernten Beruf Arbeit zu finden; sie haben ihre Einkommensvorstellungen herabgesetzt, ihre Konsumansprüche heruntergeschraubt und sind in kleinere, billigere Wohnungen gezogen. Manche leisten sich die Mitgliedschaft in einem Verein oder Fitness-Studio nicht mehr, sehen fern statt ins Kino zu gehen und reduzieren ihre sozialen Kontakte." Konkrete Pläne für die Zukunft würden weitgehend aufgegeben. Die Zeit, als sie noch an ein Recht auf Arbeit und ein ihrer Ausbildung und Zusatzqualifikationen angemessenes Einkommen glaubten, sei vorbei. Aus dem Anspruch ist ein Wunsch geworden - der Wunsch, irgendwann wieder eine unbefristete Stelle zu haben. "Sie wünschen sich das, wie andere eine große Reise an einen Ort ihrer Träume, im Innern wissend, dass es dazu vermutlich nie kommen wird", erklärt Grimm und fügt hinzu: "Nicht alle Menschen in der Zwischenzone denken so."


Psychische Folgen treffen besonders jüngere Akademiker

Eine große Gruppe empfinde ihre prekäre Situation permanent als Bedrohung und leide sehr darunter. Zu ihr gehören Natalie Grimm zufolge vor allem relativ junge Hochschulabsolventen, die trotz Diplom schon seit Jahren in der Zwischenzone leben. "Sie verfallen in Selbstausbeutung, verausgaben sich, gehen Risiken ein, ziehen wegen einer Stelle um, verzichten auf Familie und schuften nur noch in der Hoffnung, dadurch irgendwann herauszuragen und für eine Festanstellung in Betracht gezogen zu werden." Die Entgrenzung zwischen Arbeit und Leben ist nach Grimms Worten bei dieser Gruppe besonders weit fortgeschritten. Wenn sie scheitern, suchten sie die Schuld bei sich selbst oder einem speziellen Arbeitgeber, nie beim System, nicht bei der Arbeitsmarktlage. Das mache sie besonders anfällig für psychische Folgen ihrer prekären Beschäftigung. Beobachtet wurden Grimm zufolge Autounfälle unter Stress, Fälle von Burnout, Vereinsamung, Rückzug bis zur Depression. Darunter litten dann häufig Kinder, die von den Eltern angehalten werden in der Schule nicht zu sagen, dass diese arbeitslos sind, und unter den Lügen selbst starke Stresssymptome zeigten.

Die Harz-IV-Gesetzgebung habe diese Entwicklung enorm beschleunigt durch die viel geringere und kürzere soziale Absicherung in Form von Versicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit. Genauso, wie diese Gesetzgebung damals bewusst umgesetzt wurde, wäre eine Korrektur heute möglich, ist Grimm überzeugt. "Der Absturz in die Zwischenzone für Millionen Menschen ist kein Schicksal, sondern politisch gewollt. Mehr staatliche Regulierung und Kontrolle in Bezug auf Leiharbeit, Werkverträge und Minijobs sind möglich, wenn die Regierung sich nicht zum Handlanger der Wirtschaft macht. Das gleiche gilt für eine stärkere Absicherung." Sie sei politisch machbar und würde verhindern, dass Menschen unter enormem Druck immer schlechtere und schlechter bezahlte für immer kürzere Zeit annehmen. So wie es jetzt läuft, schafften sie es irgendwann nicht mehr, einen Anspruch auf Arbeitslosengeld überhaupt wieder zu erwirtschaften und fielen beim nächsten Jobverlust gleich in ALG II und damit in ein tiefes Loch.


Zunehmendes Konkurrenzdenken spaltet die Betroffenen

Nach der Ursache für den schwachen Widerstand gegen diese prekäre Situation und ihre Folgen gefragt verweist Natalie Grimm zum einen auf die Entsolidarisierung selbst innerhalb der Zwischenzone. "Das Konkurrenzdenken hat stark zugenommen, seit der totale Absturz auch für die näher rückt, die sich momentan noch sicher fühlen. Das führt zu Abgrenzung statt zum Zusammenschluss." Die für sich im Moment noch einen Umgang mit der Lage gefunden haben, die Hürdenläufer unter den prekär Beschäftigen, hätten ein starkes Bedürfnis, sich von den anderen, den Langzeit-Hartz-IV-Empfängern abzugrenzen. Sie betonen die eigene Aktivität, den eigenen Kampfgeist, der sie von den anderen unterscheide und ihnen deshalb auch immer wieder verdient Chancen böte. "Ich bin nicht faul", diesen Satz hat Natalie Grimm sie in ihren vielen Interviews oft sagen hören.

Ihr Fazit nach all diesen Gesprächen: "Wir brauchen keine aktivierende Arbeitsmarktpolitik; die große Mehrheit der Leute ist sehr aktiv." Sorge bereitet ihr, dass etwas, was lange als Grundrecht angesehen wurde - der Anspruch auf einen Arbeitsplatz und ein auskömmliches Einkommen -, plötzlich als Belohnung des Individuums für die eigene Selbstausbeutung gilt. Ob allein die Dauer der prekären Lage das Rechtsbewusstsein und die Normalitätsvorstellungen so verändert hat oder auch noch andere manipulative Einflüsse wirkten, vermag sie nicht zu sagen.

14. März 2017


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