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BUCHTIP/057: Der allmähliche Rückzug des Sozialstaats (idw)


Friedrich-Schiller-Universität Jena - 31.08.2010

Der allmähliche Rückzug des Sozialstaats

"Überfluss und Ausgrenzung": Soziologe der Universität Jena gibt Buch über "Tafeln" heraus


Jena (31.08.10) Auf den ersten Blick ist die Idee der "Tafel" faszinierend: Viele freiwillige Helfer verteilen überschüssige Lebensmittel an Bedürftige. Den sozial Benachteiligten wird so geholfen, die Lebensmittel müssen nicht entsorgt werden. Der Soziologe Dr. Stephan Lorenz von der Universität Jena hat jedoch einen zweiten Blick auf die Idee der Tafel geworfen und kritische Befunde erhalten.

"Die Frage steht im Raum, ob die Tafeln Teil der Lösung oder nicht eher Symptom des Problems einer zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung sind", sagt Lorenz. Beweist ihre Arbeit doch das Vorhandensein massenhafter Überschüsse. Aber eben auch, dass viele Menschen sehr weitgehend von Arbeit und Konsum ausgeschlossen sind. Menschen, die in der Überflussgesellschaft im täglichen Überlebenskampf stehen. Zudem bestehe die Gefahr eines weitergehenden Rückzuges des Sozialstaats: "Die Tafeln übernehmen faktisch sozialstaatliche Aufgaben, ohne dass ein Rechtsanspruch auf ihre Leistungen besteht."

Die Idee der Tafeln kommt aus den USA. Dort entstanden die ersten Initiativen in den 1960er Jahren. Seit Mitte der 1980er Jahre fasste die Idee in Europa Fuß: Die ersten "Food Banks" wurden in Frankreich gegründet. In Deutschland gibt es Tafeln seit 1993, als die erste in Berlin ihre Arbeit aufnahm. "Inzwischen gibt es bundesweit ungefähr 900 Tafeln und ungezählte ähnliche Initiativen", sagt Lorenz. Zum Stammpublikum der Tafeln zählen Empfänger von Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld II, meist verkürzt als Hartz IV-Empfänger bezeichnet. Ungefähr eine Million Menschen nutzen in Deutschland die Angebote der Tafeln regelmäßig.

Mit den Änderungen der Arbeitsmarktpolitik im Zuge der Agenda 2010 sei die Verantwortung für Arbeitslosigkeit verstärkt den Einzelnen selbst zugeschrieben worden, konstatiert Stephan Lorenz. "Obwohl schlicht die Stellen fehlen, wirft man Arbeitslosen jetzt eher Leistungsverweigerung oder fehlende Motivation vor", sagt der Soziologe von der Universität Jena. Um den Erwerbslosen Anreize zu bieten, sich wieder um eine Anstellung zu bemühen, wurden die sogenannten Ein-Euro-Jobs geschaffen. So kommt es sogar zu der kuriosen Situation, dass Ein-Euro-Jobber inzwischen vielerorts helfen, den reibungslosen Betrieb der Tafeln aufrecht zu erhalten.

Gemeinsam mit zahlreichen Autoren und Jenaer Kolleginnen hat Stephan Lorenz jetzt das Buch "TafelGesellschaft. Vom neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung" vorgelegt. Es vereint Aufsätze von Wissenschaftlern mit Statements aus Politik, Kirche, Gewerkschaft und sozialer Bewegung.

Stephan Lorenz hat zwei Jahre lang mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft über Konsum, Überfluss und Ausgrenzung geforscht. Mit dem Buch möchte er eine möglichst breite gesellschaftliche Debatte über die Tafeln anstoßen. Das zivilgesellschaftliche Engagement der Ehrenamtlichen wird eigentlich von allen anerkannt. Aber es ist nur eine Seite der Medaille.


Bibliographische Angaben:
Stephan Lorenz (Hg.): "TafelGesellschaft. Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung"
transcript Verlag, Bielefeld 2010, 240 Seiten, Preis: 22,80 Euro, ISBN: 978-3-8376-154-3

Weitere Informationen unter:
http://www.uni-jena.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution23


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Stephan Laudien, 31.08.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. September 2010