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FORSCHUNG/053: Die Abschaffung der Arbeitslosen (mundo - Universität Dortmund)


mundo - Das Magazin der Universität Dortmund Nr. 7/07

Die Abschaffung der Arbeitslosen
Forscher fordern Freiheit statt Vollbeschäftigung

Von Katrin Pinetzki


Eine Zukunft ohne Arbeitslose? Nichts leichter als das. Am Dortmunder Lehrstuhl "Arbeitssoziologie" kennt man einen Weg dahin. "Wir können Arbeitslosigkeit beseitigen", behauptet Ute Fischer und schaut ihr Gegenüber entschlossen an. Sie meint es tatsächlich ernst.

Das sollte sie auch, schließlich ist Ute Fischer keine Politikerin, sondern Wissenschaftlerin. Sie macht keinen Wahlkampf, sondern erforscht Bedingungen, unter denen die Gesellschaft deutlich entspannter in die Zukunft sehen könnte. Denn wie es bislang aussieht, wird auf unabsehbare Zeit eine große Zahl von Menschen keine Anstellung finden - Arbeitslosigkeit bleibt als strukturelles Problem erhalten. Ginge es nach Ute Fischer und ihren Mitstreitern - Kollegen, mit denen sie die Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung" gegründet hat - könnten Arbeitslose von diesem Stigma befreit werden.

Denn die promovierte Soziologin will die Strukturen ändern: Sie plädiert für ein Grundeinkommen, das jeder Bürger von Geburt an bis zu seinem Tod bedingungslos erhält. Wer eine Arbeitsstelle hat, kann sein Grundeinkommen mit Erwerbseinkommen aufstocken. Alle anderen wären zwar ohne weiteres Einkommen, aber sie wären nicht arbeitslos nach heutiger Definition: vergeblich Arbeit suchend und auf Ersatzleistungen angewiesen. Mit einem Grundeinkommen hätten die Arbeitslosen von heute die Freiheit, sich eine Beschäftigung zu suchen, die zu ihnen passt. Niemand würde sie zwingen, irgendeine Arbeit anzunehmen - oder, wie Ute Fischer formuliert, "die Hosen runter zu lassen, um Transferleistungen zu erhalten" - eine Regelung, die nach Meinung der Soziologin menschenunwürdig ist. "Wenn sich das Grundeinkommen durchsetzt" so die Forscherin, "dann wird Arbeit wieder anders definiert."

Professor Hartmut Neuendorff nickt. Vor anderthalb Jahren hatte sich der Lehrstuhlinhaber mit einer Vorlesung über "Kapitalismus und Kapitalismuskritik" von der Universität verabschiedet, anschließend gab es eine Diskussion mit dem Titel "Freiheit statt Vollbeschäftigung?" Für Neuendorff ist es keine Frage, dass sich Politik und Gesellschaft vom Ziel der Vollbeschäftigung verabschieden müssen. Ein Grundeinkommen für alle sieht er als logische Konsequenz aus der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik. "Seit Beginn des Kapitalismus ist die Produktivität immer nur gestiegen. Das Arbeitsvolumen, das man dazu braucht, nimmt aber mehr und mehr ab, trotz Wachstum und Investitionen", sagt Neuendorff. Gleichzeitig er, fordere der durchschnittliche Lebensstandard in Deutschland Löhne, die für niedrig qualifizierte Arbeit kaum mehr gezahlt werden können. "Produktivitätssteigerung vernichtet Arbeitsplätze oder verlagert sie in Länder mit niedrigeren Lebensstandards", fasst Neuendorff zusammen, "und ein Grundeinkommen ist genau ein Weg, dieses Dilemma zu lösen."

Die Idee ist alt. Das erste Mal kam sie während der Französischen Revolution auf, als das Volk darüber diskutierte, wie es in Zukunft leben möchte. Ein Grundeinkommen war eine der Ideen zur Neuordnung der Gesellschaft. Verwirklicht wurde sie jedoch nie - die Zeit war noch nicht gekommen. Ist sie es jetzt? Die Wissenschaftler um Hartmut Neuendorff sind zumindest nicht die Einzigen, die sich des Themas angenommen haben. Prominentester Fürsprecher ist zurzeit der Chef der Drogeriemarkt-Kette dm, Götz Werner, der für das Grundeinkommen in Vorträgen wirbt und sogar eine Anzeigenkampagne startete. Auch die politischen Parteien haben das Feld nun, nach langem Zögern, besetzt. Allerdings haben die Vorstellungen der Politiker oftmals nicht mehr viel mit dem gemein, wofür sich Ute Fischer in der Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung" einsetzt. Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus etwa spricht von einem Grundeinkommen von 800 Euro, von dem noch 200 Euro für den Gesundheitsfonds abgehen würden. Bleiben 600 Euro übrig - zu wenig, um davon zu leben.

"Es ist gut, dass die Politik überhaupt davon spricht", findet Fischer, "unsere Aufgabe ist nun, genau hinzugucken: Wir wollen ein bedingungsloses Grundeinkommen, das dem Einzelnen tatsächlich freie Entscheidungen ermöglicht - und keine Sparvariante bisheriger Sozialausgaben." Mehr als bloße Existenzsicherung soll das Grundeinkommen sein: "Es soll an kulturellen Gütern teilhaben lassen", fordert Fischer.

Seit Jahren fahren sie und ihre Mitstreiter durchs Land, halten Vorträge, diskutieren mit den Menschen und kennen mittler weile jeden denkbaren Einwand auf ihr Modell. "Manche halten uns für neoliberal, andere für kommunistische Spinner", sagt Ute Fischer und lacht. Eine parteipolitische Verortung sei jedoch unmöglich: Es gibt in allen Lagern Befürwortung und Ablehnung. Dabei sei nicht immer vorherzusehen, wo im Publikum die Interessierten und wo die Gegner sitzen, sagt Ute Fischer: "Ich habe alles erlebt: Alt-Linke, die das Modell vom Tisch fegen, und gut-bürgerliche Früh-Rentner, die hoch interessiert sind." In vermeintlich konservativen Kreisen gebe es eine größere Offenheit - wohl, weil die Familie beim Grundeinkommen eine Aufwertung erlebt. Die Zustimmung zu dem Modell hänge stark von der eigenen Bindung an die Arbeit ab, sagt Fischer: "Leistungsaufsteiger, die sich aus dem Arbeitermilieu hochgearbeitet haben, sehen das häufig überhaupt nicht ein: Jetzt haben sie sich 20 Jahre lang qualifiziert und durchgeboxt, und plötzlich wird das - in ihrer Wahrnehmung - entwertet, weil jeder auch ohne Gegenleistung Geld erhält." Häufig versuchen Gegner mit vermeintlich harten Fakten, jede Diskussion zu blockieren: "Und wer soll das bezahlen?" laute dann der erste Einwand. Schade findet die Wissenschaftlerin das, denn es zeigt ihr, dass derjenige sich überhaupt nicht auf das Gedankenspiel einlässt: Was bedeutete eine Gesellschaft ohne Zwang zur Erwerbsarbeit?

Was es tatsächlich bedeutet, das kann man nur ahnen. Würden sich nicht die meisten Menschen in die Hängematte legen und nichts tun? "Prima", hat Drogeriemarkt-Chef Götz Werner auf dieses Argument einmal geantwortet, "dann würde ich Ihnen raten: Verkaufen Sie Hängematten!" Ute Fischer lacht. Sie ist sich sicher, dass sich die Menschen trotz Grundeinkommen eine Beschäftigung suchen werden. "Die Selbstständigkeit wird sich stark erhöhen", prognostiziert sie. Denn die Kriterien für die Berufswahl werden sich dramatisch ändern. Statt danach zu gehen, welche Branche sicher ist und welcher Beruf die Familie ernährt, wird es heißen: Was kann ich? Was will ich? "Auch wenn ich geringer qualifiziert bin oder über Fähigkeiten verfüge, die auf den ersten Blick gar nicht marktgängig sind, werde ich mich ins Gemeinwesen einbringen können, und es würde auch anerkannt", so Fischer.

Neue Jobs könnten entstehen, gleichzeitig müssten bislang ungeliebte Arbeiten, die nur wenige freiwillig machen wollen, besser honoriert werden. Tausende Möglichkeiten gibt es, sich in der Gesellschaft nützlich zu machen - niemand wird ohne Beschäftigung bleiben müssen, prognostiziert Fischer. Die Agentur für Arbeit könnte sich darauf beschränken, Stellen zu vermitteln und Berufsberatung anzubieten. Ändern würde sich auch das Klima in den Betrieben, glaubt Hartmut Neuendorff: "Das Grundeinkommen macht Arbeitnehmer weniger abhängig von ihren Arbeitgebern. Und das gibt ihnen die Freiheit und den Mut, Ideen einzubringen und Missstände zu kritisieren."

Befreite, glückliche Menschen, die sich durch ihre Arbeit selbst verwirklichen und in der Gesellschaft nützlich machen - das klingt zu schön, um wahr zu sein. Sitzen die Dortmunder Soziologen da nicht einer idealisierten Idee auf - einer Utopie gar? Braucht es für eine solche Gesellschaftsform nicht auch eine neue Gesellschaft? Oder anders gefragt: Sind wir überhaupt reif dafür? Ute Fischer lächelt. Auch diesen Einwand kennt sie. "In den Diskussionen wird häufig geargwöhnt, dass "die anderen" dann nichts mehr mit sich anzufangen wüssten - nach dem Motto: Die Arbeit strukturiert dem "Mann von der Straße" den Tag. Ich denke, heute ist ein größerer Teil in der Lage, mit dieser Freiheit auch umzugehen." Schließlich ist die Zeit vorbei, da Familientraditionen Lebenswege vorzeichneten und man auf eine lebenslange Arbeitsstelle bauen konnte. Natürlich sei diese radikale Freiheit eine Herausforderung, bestätigt sie. "Wir sind stärker auf uns zurückgeworfen. Wir bekommen Geld und müssen damit etwas anfangen - nämlich das eigene Leben gestalten." Dennoch ist sie optimistisch, dass das gelingt. "Der Mensch ist von Natur aus neugierig, er will wachsen und lernen, so wie das Kleinkind vom Krabbeln ins Gehen kommt. Das ist kein Bild von einem Menschen, wie wir ihn gerne hätten, das kann man beobachten", sagt Ute Fischer. Wenn man ihn nur lasse und fördere, tue der Mensch genau das, was seinen Fähigkeiten und Neigungen entspreche, ist sie überzeugt.

In den vergangenen Jahren waren genau diese Fragen Forschungsgegenstand der Dortmunder Soziologen. Was treibt Menschen zur Arbeit an? Welche Leistungsethik bindet den Einzelnen an seinen Beruf? Was sucht und findet er im Job? Was hält eine Gesellschaft zusammen? Die Ergebnisse lassen Ute Fischer hoffen. "Die Bindung an berufliche Leistung ist hoch, ganz unabhängig vom Qualifikationsniveau." Wie leistungsbereit jemand ist, hängt demnach stark von der eigenen Bildungsgeschichte ab und davon, welche Wertschätzung er als Person erfahren hat. "Das Grundeinkommen kann darauf aufbauen und die Möglichkeiten entfesseln", glaubt sie. Ein gutes Beispiel sei der Arbeitsplatz Universität selbst: Obwohl niemand mit der Stechuhr hinter den wissenschaftlich Beschäftigen stehe, werde lieber ein Buch mehr als weniger gelesen.

Schon in Kindergarten und Schule müsse sich allerdings etwas ändern, wenn ein Grundeinkommen ein späteres Berufsleben nach Neigung erlaube, fügt Neuendorff hinzu. Noch werden neugierige und wissbegierige Kinder dort in gewisse Bahnen gelenkt, kritisiert er: "Die Schule ist ein Disziplinierungsinstrument, das den Schülern das, was eigentlich entfaltet werden soll, eher austreibt. Was klassisch unter Bildung verstanden wird, kommt in der Schule bislang kaum zustande." Pädagogen, aber auch Eltern müssen demnach stärker als heute zur Eigenverantwortung erziehen. Schließlich soll auch schon jedes Kind sein Grundeinkommen bekommen - wenn auch vielleicht noch nicht so viel wie ein Erwachsener.

Und was ist nun mit der Finanzierbarkeit? Die Wirtschaftswissenschaftler Wolfgang Strengmann-Kuhn und Michael Opielka, die in der Studie "Das Solidarische Bürgergeld" die Finanzierung des Modells von Dieter Althaus für die Konrad-Adenauer-Stiftung untersucht haben, kommen zu einem positiven Fazit. Das Bürgergeld wäre finanzierbar.

Das Althaus-Modell mit einem Grundeinkommen von 800 Euro pro Monat ist nach Ansicht der Dortmunder Grundeinkommens-Lobbyisten viel zu wenig. Aber wie hoch sollte es denn sein? Eine spannende Frage, auf die die Dortmunder Soziologen keine Antwort geben wollen. "Wir berechnen das durchaus", sagt Fischer, "ich beschäftige mich seit drei Jahren intensiv mit der Finanzierbarkeit. Seriöse Ökonomen sagen allerdings auch, dass die mit dem Grundeinkommen einhergehenden Veränderungen letztlich unberechenbar sind."

Ändern, so die Forscherin, werde sich vieles: Arbeitsangebot und -nachfrage, Preis- und Lohnniveaus, die Selbstständigenquote, ganze Branchen. Auch die Zahl der Geburten könne steigen, prognostiziert sie. "Das Grundeinkommen macht Mut zur Familiengründung. Und es ist keine Idee vom Elfenbeinturm", fasst Ute Fischer zusammen, "wir haben die Wertschöpfung in unserem Land, die es möglich macht."

Große Sympathie hat Ute Fischer für die Idee, das Grundeinkommen mit einer Konsumsteuer zu finanzieren. "Finanzwissenschaftlich gesehen ist das wohl die konsequenteste Umsetzung, weil es der Idee der Freiheit am nächsten kommt: Man belastet nicht mehr die Leistung der Bürger mit Steuern und Abgaben, sondern den Konsum." Eine Konsumsteuer könnte zu einem kritisch-reflektierteren Umgang mit Konsum und Lebensstandards überhaupt führen, hofft Hartmut Neuendorff. Eine solche System-Umstellung kann allerdings Jahrzehnte dauern, vermutet Fischer. Eine schnellere Alternative hat sie zusammen mit Professor Helmut Pelzer vom Zentrum für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung der Universität Ulm entwickelt: das so genannte Transfergrenzenmodell, das Ute Fischer auch "die kleine Lösung" nennt. "Mit diesem Modell könnte man ganz allmählich in die Konsumsteuer hinein wachsen, indem man andere Steuern immer mehr abbaut und die Konsumsteuer immer weiter erhöht - ein evolutionäres Modell."

Und ein ziemlich revolutionäres dazu. Was Ute Fischer und Hartmut Neuendorff proklamieren, ist nichts weniger als eine Jahrhundertreform. "Ich fühle durchaus die Verantwortung und frage mich manchmal, ob wir das wirklich schultern können", sagt Fischer. "Das Modell gibt der Gesellschaft einen Vertrauensvorschuss, der natürlich auch enttäuscht werden kann. Das bringt mich nicht davon ab - aber manchmal erzittere ich schon vor meiner eigenen Courage."

Zur Person:

Dass die Diskussion um das Grundeinkommen sein Lebensthema ist, wäre wohl übertrieben - doch Prof. Dr. Hartmut Neuendorff, 2006 emeritierter Inhaber des Lehrstuhls "Arbeitssoziologie", war schon als Student ein Verfechter des Modells. "Damals waren wir im Sozialistischen Deutschen Studentenbund der Meinung, jeder Student solle ein studienund existenzsicherndes Einkommen bekommen. Wir fanden, es sei Aufgabe der Gesellschaft, das zu ermöglichen." Anders als heute lautete 1961 allerdings die Begründung. "Wir brauchen gut ausgebildete Leute, damit die Wirtschaft weiter wachsen kann", hieß es damals. "Da waren wir dem traditionellen Arbeitsbegriff noch ganz verhaftet", sagt der Soziologe. Seine heutige Argumentation ist insofern fundamentaler und radikaler. Dabei ist Hartmut Neuendorff, der seit 1975 die Soziologie in Dortmund vertrat, nicht einmal der Gründervater der Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung": "Das haben meine Mitarbeiter in Eigeninitiative entwickelt. Ich habe das erst mitgekriegt, als es die erste Plakataktion gab."

"Er hat sich unserer Initiative gegenüber kritisch-solidarisch verhalten", sagt seine Mitarbeiterin Dr. Ute Luise Fischer (Jahrgang 1965). Die an der Universität Dortmund diplomierte Volkswirtin und promovierte Soziologin ist über ihre wissenschaftliche Arbeit auf das Thema "Grundeinkommen" gestoßen. Mit Kolleginnen und Kollegen versucht sie in der Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung", die These ins Land zu tragen. Komplexe Sachverhalte kurz und pointiert formulieren kann sie dabei gut: Das Thema ihrer Habilitation etwa beschreibt sie selbst so: "Es geht um den Sinn des Lebens aus der Geschlechterperspektive."


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Quelle:
mundo - das Magazin der Universität Dortmund, Nr. 7/07, S. 30-33
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
E-Mail: redaktion.mundo@uni-dortmund.de
Internet: www.uni-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2008