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FORSCHUNG/077: Die Universität Bielefeld ist neue Eigentümerin des Luhmann-Nachlasses (Uni Bielefeld)


BI.research 38.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Die Universität ist neue Eigentümerin des Luhmann-Nachlasses

Produktives Weiterdenken statt Klassikerkult

von Dr. Hans-Martin Kruckis


Anfang 2011 war es endlich soweit: Die Universität Bielefeld erwarb den wissenschaftlichen Nachlass Niklas Luhmanns, ihres weltweit sicher berühmtesten Wissenschaftlers - gilt Luhmann doch vielen als der bedeutendste soziologische Theoretiker des 20. Jahrhunderts überhaupt. 1968 wurde er als erster Professor an die Universität Bielefeld berufen und lehrte hier bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993. Luhmanns außerordentlich anspruchsvolles wissenschaftliches Werk ist schon rein äußerlich von gewaltigen Dimensionen und umfasst rund 50 Monographien und hunderte von Aufsätzen, in denen er seine soziologische Systemtheorie umfassend entfaltete. Sie geht davon aus, dass die moderne Gesellschaft von "funktionaler Differenzierung" geprägt ist, das heißt, sehr kurz gesagt, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst oder Erziehung alle nach ihrer sehr spezifischen Eigenlogik funktionieren. Es gibt keine Hierarchie dieser Systeme, keines kann durch ein anderes ersetzt werden, keines grundlegend in ein anderes durchgreifen wie in der Vormoderne, wo etwa die Religion festlegen konnte, was wissenschaftliche Wahrheit ist (Galilei!). Das bedeutet auch, dass es keine übergeordnete Vernunft über den Systemen und keine zentrale Steuerung der Gesellschaft gibt oder geben kann - auch nicht durch die Politik, selbst wenn sie gerne den Anschein erweckt, dazu in der Lage zu sein. "Gesellschaft" besteht für Luhmann nicht aus Menschen oder Handlungen, wie in älteren soziologischen Modellen, sondern ausschließlich aus Kommunikationen. "Der Mensch" ist damit "Umwelt" der Gesellschaft. Die Zeiten, in denen Luhmann für diese Einsichten noch als "Verteidiger des Status quo" oder gar "Reaktionär" und "Zyniker" angegriffen wurde - Zuschreibungen, gegen die er sich mit guten Argumenten immer verwahrt hat -, verblassen inzwischen. Stattdessen schiebt sich ein anderes Bild von Luhmanns Theorie in den Vordergrund: eines, dessen konkurrenzlos hohes Auflösevermögen einen illusionslos-nüchternen Blick auf die Gesellschaft geradezu erzwingt. Dass dieser Blick im Einklang mit dem von Luhmann geschätzten Motto: "Guter Geist ist trocken!" nicht immer ironiefrei sein kann, versteht sich fast von selbst.

Ganz gewiss ist es nicht Zweck des Nachlass-Erwerbs, jetzt einen Klassiker-Sockel zu errichten. Dazu entfaltet Luhmanns Werk immer noch zu viel intellektuelle Sprengkraft, sind selbst viele seiner Grundgedanken noch längst nicht erschöpfend durchdiskutiert. Im Nachlass liegt daher auch die Chance, die Auseinandersetzung mit seinem einzigartigen Werk grundlegend zu beleben. 160 Umzugskisten mit Nachlassunterlagen stehen nach Angaben von Universitätsarchivar Martin Löning derzeit noch im Zentrum für interdisziplinäre Forschung und warten nun auf ihre systematische Erschließung. Dazu wird mit Hilfe der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft ein Luhmann-Archiv an der Universität Bielefeld errichtet.


Vielversprechende Manuskripte

Zur Aufarbeitung des Nachlasses gehört unter der wissenschaftlichen Leitung von Professor Dr. André Kieserling, selbst Luhmann-Schüler und zweiter Nachfolger auf Luhmanns Professur, auch die Publikation mehrerer Buchmanuskripte - einige davon in nahezu publikationsreifem Zustand, während andere noch stärkerer herausgeberischer Bearbeitung bedürfen. Es geht dabei nicht zuletzt um Arbeiten aus früheren Schaffensperioden des großen Systemtheoretikers, die aber nicht allein von historischem Interesse sind. Ganz im Gegenteil, meint Kieserling: "Es scheint, als sollte der frühe Luhmann dem späteren über den Nachlass noch erheblich Konkurrenz machen". 2010 hatte er bereits den nachgelassenen Band "Politische Soziologie" aus den 60er Jahren herausgegeben, der die großen Erwartungen an den Nachlass mehr als rechtfertigt: auch nach mehr als 40 Jahren alles andere als veraltet und obendrein noch sehr gut zu lesen.

Die Luhmannsche "Selbstkonkurrenz" bezieht sich etwa auf dessen "Studien zur soziologischen Theorie" ebenfalls aus den 60er Jahren, an denen sich besonders gut ablesen lässt, wie stark Luhmann von den Erkenntnissen des Phänomenologen Edmund Husserl geprägt wurde, oder auf ein 300-Seiten-Manuskript zum Thema "Organisation beratender Staatsorgane" - "Luhmann vor Luhmann", wie es Kieserling mit Blick auf die Tatsache formuliert, dass hier wesentliche Charakteristika der späteren Theorieentwicklung noch fehlen. Aus dem Jahr 1975 bietet der Nachlass ein zusammen mit dem Pädagogen Eberhard Schorr erarbeitetes Manuskript über Erziehung, und eines zum Thema "Recht" aus den frühen 70er Jahren ist nach Kieserlings Aussage "sofort druckbar", ähnlich wie es mit der nachgelassenen "Die Politik der Gesellschaft" bereits vor elf Jahren geschehen ist. Sehr ertragreich dürften auch die drei älteren Fassungen von "Die Gesellschaft der Gesellschaft" sein, 1997 noch zu Luhmanns Lebzeiten erschienen und von ihm selbst sicher als so etwas wie ein "Summum Opus" betrachtet. Zwischenzeitlich war der Text auf etwa 1.500 Seiten angewachsen. Dann erschien Luhmann nach einem längeren Auslandsaufenthalt wieder in Bielefeld mit dem Kommentar, er sei mit der Gesellschaftstheorie "beim Frisör" gewesen. Dass seinen radikalen Kürzungen nicht Makulatur, sondern hunderte von hochrelevanten und damit eigentlich nicht entbehrlichen Seiten zum Opfer gefallen sind, kann man sich leicht denken.


Die große Herausforderung: der Zettelkasten

"Wie ediert man ein Denkmöbel?" titelte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als im Februar bekannt geworden war, dass auch Luhmanns legendärer Zettelkasten ins Eigentum der Universität übergegangen ist und nun der Wissenschaft zugänglich gemacht werden soll - und zwar nicht nur als wissenschaftsgeschichtlicher Forschungsgegenstand, sondern auch als Grundlage zur weiteren Entwicklung der Systemtheorie (was nicht ausschließt, dass er auch seinen Status als besonders verehrter Kultgegenstand von Luhmann-Fans behält). Eines der großen Geheimnisse ist das hochkomplexe und -effektive Verweissystem zwischen den etwa 70.000 Zetteln, das an Hyper-Links erinnert - entwickelt allerdings von einem, der selbst nie einen Computer benutzte. Mit vergleichsweise wenigen, aber eben über sein Verweissystem speziell vernetzten Zetteln hatte Luhmann schnell das Grundgerüst für einen Aufsatz oder ein Buchkapitel zusammen. Hier liegt zweifellos ein Geheimnis seiner für viele unfassbaren schriftstellerischen Produktivität. Auf den Zetteln notierte er, wie er einmal in einem Interview erläuterte "im wesentlichen eigene Gedanken, manchmal auch Zitate", die dann über ein "spinnenförmiges System, das überall ansetzen kann", vernetzt wurden - übrigens eine Erfindung, die heute Bibliothekswissenschaftler als zukunftsweisendes Ordnungssystem für den Aufbau von Bibliotheken ansehen. Die Arbeit an seinem schon als Student begonnenen Zettelkasten kostete Luhmann nach eigenem Bekunden mehr Zeit als das Bücherschreiben. Für die wissenschaftliche Aufarbeitung müssten die Zettel jetzt zunächst einmal aus seiner Handschrift transkribiert werden. André Kieserling denkt nicht zuletzt an eine elektronische Form der Publikation (vielleicht sogar im Internet). Ein Vorteil wäre dabei, dass sich so das Verweissystem leicht aufrechterhalten und bequemer handhabbar machen ließe. Und nicht nur das: "Es wäre sogar denkbar, dass jemand den Zettelkasten fortführt." Voraussetzung für das alles ist allerdings: "Man braucht ein konventionelles Sachregister - sonst ist im Zettelkasten nichts zu finden".

Wer im Nachlass auch eine Flut von Aufsätzen erwartet, wird übrigens enttäuscht. Vielleicht war Luhmann an dieser Stelle weniger skrupulös, als wenn er Bücher veröffentlichte, und hielt kürzere Texte, die er an allen möglichen und auch abgelegenen Orten publizierte, weniger konsequent zurück - möglicherweise auch dann, wenn sie nicht vollständig seinem Perfektionsstreben standhalten konnten. Dafür enthält der Nachlass aber auch Vortragsmanuskripte und Vorlesungsnotizen, die von einigem Interesse für die Entwicklung seines Denkens sein dürften. Nicht allzu ergiebig scheint dagegen nach Kieserlings Einschätzung auf den ersten Blick Luhmanns wissenschaftliche Korrespondenz zu sein. Ob das wirklich so ist, lässt sich aber ebenfalls erst nach eingehender Sichtung sagen. Einen Wegweiser durch den Bestand wird es in absehbarer Zeit geben. Mit dem Nachlass dürfte es sich so ähnlich verhalten wie beim Luhmann-Lesen: Man muss immer auf Überraschungen eingestellt sein.


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Quelle:
BI.research 38.2011, Seite 8-11
Herausgeber:
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2011