Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

GESELLSCHAFT/191: Oskar Negt - Demokratie als Lebensform (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2008

Demokratie als Lebensform

Von Oskar Negt


1968 ist der Aufbruch zu einer Demokratisierung vieler Lebensbereiche. Mitbestimmung und Bildungsidee standen damals im Zentrum. Sie entscheiden auch heute über die Zukunft unserer Gesellschaftsordnung.


Wo ist der Anfang zu machen, wenn man sich ernsthaft darauf einlassen wollte, in dem mittlerweile verwilderten Landschaftsgelände "68", das mit jedem mediengesteuerten Rückerinnerungsdatum zusätzlich verdreht, perspektivisch verzerrt und retuschiert wird, einige Linien zu ziehen, die den Proportionen der damaligen Ideen und den heutigen Bewegungsabläufen zugleich gerecht werden? Ich werde den Verdacht nicht los, dass es bei der Kritik an den 68ern, ob Götz Alys Totalitarismusvorwurf oder der von Bernhard Bueb bemängelten fehlenden Disziplin, um Aufklärung über das, was die sogenannten 68er bewirkt haben, was sie wollten, diskutierten, was sie provokativ in die Öffentlichkeit brachten, überhaupt nicht geht. Deshalb ist das Aufklärungspathos nicht auf den Zusammenhang dieser Zeitverhältnisse, den Zustand der Gesellschaft, die internationalen Aspekte, den Generationskonflikt gerichtet, sondern 68 wird als eine Art Folie, als Projektionsfläche benutzt, auf die jeder im politischen Raum abladen kann, was seine enttäuschten Hoffnungen und seine ungelösten Lebensprobleme ausmacht. Das passt gut in eine reaktionäre Ordnungspolitik, die zurzeit einen hohen Legitimationsbedarf hat. Wer Ordnung will, muss vorher Chaosängste schüren.

Das ist aber nicht hinreichend, um die ungeheure Attraktivität dieses Jubiläumsjahrs zu erklären. Irgendetwas wird nach wie vor als Provokation empfunden, als Herausforderung an die etablierten Mächte, die spüren, dass in dieser Bewegung auch ein Wahrheitsgehalt, etwas Plausibles und Richtiges enthalten ist.

So ist es an dieser Stelle sinnvoll, einige bestimmende Aspekte dieser Bewegung noch einmal zu vergegenwärtigen. Sie bezeichnen nicht primär ein Generationenproblem, vielmehr geht es um ein demokratisches Gemeinwesen, das Basisdemokratie zum Wesensgehalt hat. Das Jahr 68 öffnet die Geschichte für Augenblicke; es ist ein in jeder Hinsicht politisch anstößiges Jahr, das Anfänge und Hoffnungen setzt. Aber auch die Niederlagen und die enttäuschten Erwartungen gehen in jenes kollektive Gedächtnis ein, das, je entfernter die Originalereignisse liegen, desto straffer im Sinne der gegenwärtigen Realitätsanpassung zurechtgestutzt wird. So ist die Frage legitim: Was bleibt? Was soll gemacht werden, und was ist unter allen Umständen zu vermeiden? Welche Anstöße dieses anstößigen Jahres wirken weiter, welche Ideen und Ansätze sind unausgetragen, unabgegolten? Es ist ja keineswegs, was häufig vergessen wird, eine lediglich aus der deutschen Geschichte erklärbare und ausschließlich in ihr gewachsene Bewegung. Alle Faschismusanalogien sind Produkt eines borniert deutschen Blicks. In Paris sammeln sich im Mai 1968 eine Million Menschen, praktisch aus allen Schichten der Gesellschaft, die gegen das etablierte System aufstehen und die Veränderung der Gesellschaft fordern. In der Tschechoslowakei entwickelt sich eine der letzten möglichen Reformen des Sozialismus, die sich aus der Kraft sozialistischer Utopien nährt. Die Tet-Offensive leitet das allmähliche Scheitern der amerikanischen Interventionspolitik ein. Antikriegskampagnen und Bürgerrechtsbewegungen der Vereinigten Staaten verschmelzen mit dieser Rebellion von Studenten und Jugendlichen, die in Berkeley ihren Ausgang nimmt.

68 ist weder schwärende Wunde noch ein revolutionärer Umbruch, wie die Französische Revolution von 1789. Es ist ein beziehungsreicher, die Offenheit eines Prozesses gewinnender Anfang. Bei allen Irrtümern im Denken und Irrwegen im Handeln, die sich konkret benennen lassen, müssen zwei Handlungsfelder hervorgehoben werden, in denen mit Ernst und Ausdauer über Veränderungen nachgedacht und sinnvolle praktische Experimente gemacht wurden. Das wird den heutigen Ordnungspolitikern aller politischen Schattierungen nicht gefallen, denn gerade darüber schütten sie ihre ironischen Entwertungen: Ich meine das Gebiet der Erziehung und Bildung, wie vor allem aber die entschiedene Neubewertung von Teilhabe und Demokratie. Beides sind wesentlich politische Probleme.


Was bleibt?

Gewiss, die Frage: Was bleibt? ist schwer zu beantworten; Argumente für eine positive Antwort gibt es aber durchaus. Nie zuvor in der deutschen Bildungsgeschichte waren Reflexionen auf die Bedürfnisse des Kindes und des Jugendlichen so ins Zentrum des schulischen Geschehens gerückt, wie in der Kinderladen-Bewegung oder in der Alternativschul-Bewegung Anfang der 70er Jahre. Lernprojekte über Lernprojekte wurden entwickelt, stets war das Kind oder der Jugendliche im Zentrum von Überlegungen, wie Neugiermotive des Lernens befestigt und emotionale und soziale Reifung stattfinden kann. Ein Grundprinzip, das übrigens in den großen Bildungsratsgutachten der sozialliberalen Reform vorgedacht ist, bestimmt die pädagogische Arbeit dieser Zeit: Nie darf der Leistungsbegriff auf bloße kognitive Operationen reduziert werden. Vielmehr gibt es drei gleichgeordnete, wenn auch in den Zeitmaßen sehr differenzierte Leistungsbegriffe: die emotionale Leistung, die soziale Leistung und die kognitive Leistung. Wo diese Leistungsarten auseinander gebrochen werden, gibt es Störungen in den individuellen Lernprozessen und im Verhalten der Jugendlichen und der Kinder. Es ist schon bemerkenswert, im Sinne des pädagogischen Erbes der 68er, dass der Begriff der Selbstregulierung, zentral für die antiautoritären Bildungsideen, in den PISA-Studien mit positiver Bewertung auftaucht; dass der Erwerb kognitiver Kompetenzen von der emotionalen Entwicklung der Selbstwertgefühle und der sozialen Kompetenz abhängt, ist eine durchgängige Botschaft dieser internationalen Vergleichsstudien. Umso erstaunlicher die deutsche Lesart der PISA-Studien, die bloß kognitiven Lernprozesse zu verstärken. Das mag damit zu tun haben, dass die Abwehr der pädagogischen Fantasie der 68er so zum kompakten Vorurteil geronnen ist, dass vom Fantasierohstoff, den Träumen und Bedürfnissen der Kinder, nur noch Irritierungen im Lehrangebot ausgehen.

Der reaktionären Wende in den Erziehungs- und Bildungsfragen, die ohnmächtige Reaktionen auf die wirkliche Misere des ganzen Bildungssystems signalisieren, entspricht die zunehmende Tendenz des Abbaus von Mitbestimmungsrechten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Das war ja ein Grundzug der 68er, Mitbestimmungsrechte über den Wissenschaftsprozess, über Lehre und Erziehung zu sichern; zum ersten Mal hat es in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft eine diskutierende Öffentlichkeit in den Universitäten und Schulen gegeben, in der die Mitbestimmungsforderungen eine ganz neue Dimension angenommen haben, nämlich ihre Erweiterung auf Demokratie als Lebensform.


Demokratische Selbstbestimmung

Mitbestimmung wird nicht mehr ausschließlich verstanden als symbolisches Mitspracherecht, sondern mit demokratischer Selbstbestimmung verknüpft. Es ist das Verdienst der Bewegung von 68, die Wundmale einer parlamentarischen Demokratie öffentlich erkennbar gemacht zu haben. Und zwei Elemente gehören zu dieser Art Basis-Demokratisierung: Zum einen ist es die Politisierung der Interessen und Bedürfnisse der Menschen, so dass sie in einer kritischen Öffentlichkeit in den Prozess politischer Urteilsbildung einbezogen sind. Zum anderen betrifft die Demokratisierung der Gesellschaft, wenn man von Basisdemokratie spricht, die Bereiche konkreten Lebens, welche die alltäglichen Erfahrungen der Menschen bestimmen: in den Betrieben, Büros, Schulen, Universitäten.

Es war eine gewiss utopische, aber die Realitäten immer wieder herausfordernde Idee, dass es eine demokratische Gesellschaft ohne Demokraten nicht geben kann. Wenn die Menschen nicht in ihren Alltagsangelegenheiten Mitbestimmungsrechte haben, dann werden die besten demokratischen Institutionen ausgehöhlt. Wenn die Menschen also in ihren Alltagserfahrungen keine Kontrolle und Mitbestimmungsrechte haben, werden sie langfristig auch in den politischen Bereichen nur Objekte von manipulierenden Eliten sein. Die zunehmende Wahlmüdigkeit ist ein bedrohliches Symptom jeder repräsentativen Demokratie.

Aber die Selbstbestimmung am Arbeitsplatz, die praktische Erziehung zur Selbstständigkeit und zu kritischer Urteilsfähigkeit ist nicht eine Forderung, die von außen an die hochindustrialisierten Gesellschaften herangetragen wird; sie entspricht der industriellen Entwicklung in ihren differenzierten und komplexen Strukturen selbst. Mit wachsender Vernetzung und Globalisierung der Wirtschaft nimmt der Aktionsspielraum von relativ autonomen Einheiten zu, in denen sich neuartige Kooperationsverhältnisse entwickeln. Befehlsverhältnisse werden selbst unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten unproduktiv; wie nie zuvor ist die Ausbildung von politischer und soziologischer Fantasie notwendig.

In diesem Sinne ist Mitbestimmung, wie sie 68 gefordert wurde, ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur Selbstbestimmung und der konkreten Verwirklichung von Teilhaberechten, die sich auf den Alltagszusammenhang der Menschen beziehen. Wenn ich dieses demokratische Element des antiautoritären Protestes hier in den Vordergrund rücke, dann darf jedoch nicht übersehen werden, dass in den Zerfallsprozessen der 68er-Bewegung sehr schnell auch ganz andere Tendenzen sichtbar wurden. Manche gingen mit proletenhaftem Habitus in die Betriebe, um das Proletariat für den Klassenkampf wachzurütteln. Die meisten taten das in gutem Glauben, mussten aber sehr schnell erkennen, dass selbst die spontan aufbrechenden wilden Streiks das eher reformistische Bewusstsein, wie es von diesen Studenten beklagt wurde, nicht aufzubrechen vermochten; sie scheiterten. Andere wiederum sahen in Deutschland ein Land des "offenen Faschismus" und griffen zur Waffe, um auf diese Weise das Volk aufzurütteln. Auch diese Form des Terrors, mit Wiederbelebung von Kommandostrukturen in den eigenen Reihen, hinterließ ein verödetes Feld sinnloser Opfer und beförderte Tendenzen, die den Sicherheitsstaat erweiterten, aber die Autonomiespielräume der Menschen weiter verengten.

Wenn man also 68 mit der politischen Substanz der Basisdemokratie so eng verknüpft, wie ich das tue, darf man das Unterscheidungsvermögen nicht ausblenden. Dieses anstößige, symbolträchtige Jahr ist offensichtlich nach wie vor für viele, die ein gespaltenes Bewusstsein im Blick auf Demokratie haben, ein fortwirkendes großes Ärgernis. Und die substanzielle Leitidee, die dieses Ärgernis auslöst, ist das umfassende Mitbestimmungsmodell der Demokratie. So hatte es ja Willy Brandt verstehen wollen, als er die Parole formulierte: Mehr Demokratie wagen.

Kant spricht davon, dass Autonomie, Selbstdenken, Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung Grundlage der menschlichen Würde sind. Wo Menschen zu bloßen Mitteln für Zwecke anderer werden, da verlieren sie ihr eigentliches Unterscheidungsmerkmal von allen anderen Lebewesen dieser Welt. Demokratie und Würde in diesem umfassenden Sinne sind daher untrennbar und Grundlage eines friedensfähigen und nach Gerechtigkeitsprinzipien eingerichteten Gemeinwesens. So steht es auch im Grundgesetz: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."


Demokratie will gelernt sein

Nun haftet der Demokratie als einer gesellschaftlichen Gesamtverfassung ein Makel an; sie funktioniert nicht aus sich heraus, auch nicht, wenn man über die besten Institutionen und rechtlichen Regelungen verfügt. Das Schicksal einer demokratischen Gesellschaftsordnung, die mit Leben erfüllt ist, hängt davon ab, in welchem Maße die Menschen dafür Sorge tragen, dass das Gemeinwesen nicht beschädigt wird und der politische Faden zum Wohlergehen des Ganzen nicht reißt.

Und vor allem eines war im öffentlichen Diskussionszusammenhang der 68er, in dem sich viele Problemstellungen um das Verhältnis von Politik, Moral und Macht gruppierten, Debattenthema: Demokratie ist die einzige politisch verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss - nicht ein für allemal, so als könnte man sich einen gesicherten Regelbestand anlegen, der für das ganze Leben ausreicht, sondern immer wieder, in tagtäglicher Anstrengung und bis ins hohe Alter hinein. Und solch ein Lernprozess ist ohne praktische Übung in solidarischer und kooperativer Mitbestimmung nicht möglich. Nimmt man also das höchst strapazierte Wort vom lebenbegleitenden Lernen in den Mund, dann ist zunächst Nachdenken darüber erforderlich, worin diese Dimension politischen Lernens besteht, bevor man sich den marktbezogenen individuellen Qualifikationsanforderungen zuwendet.

Demokratie macht Lernen notwendig; ohne Mitbestimmung in allen Lebensbereichen, die wichtige Angelegenheiten der Menschen regulieren, ist demokratisches Lernen nicht möglich. 68 ist wahrlich ein anstößiges Jahr - insbesondere für eine Gesellschaft, die wieder dabei ist, auf Prämien für Tugenden des leistungsbewussten Mitläufers zu setzen.


Oskar Negt (*1934) war bis zu seiner Emeritierung 2002 Professor für Soziologie an der Universität Hannover.


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2008, S. 37-41
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 93 58-19, -20, -21
Telefax: 030/26 93 58-55
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NF/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2 und
7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2008