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GESELLSCHAFT/240: Die Evolution und Jägerinnen (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 117, 3/11

Die Evolution und Jägerinnen
Ist die nichtpatriarchale Gesellschaft Utopie, oder gibt es sie wirklich?

Von Barbara Bohn


Frauen wurden in patriarchalen Gesellschaften als in einer ständigen Situation der Abhängigkeit ergeben dargestellt. In einer patriarchalen Gesellschaft - so das gängige Bild - scheinen es stets die Männer zu sein, die die Subsistenzarbeit verrichten, während Frauen allein für die Reproduktion zuständig sind. Frauen werden dadurch als abhängig von den Männern gezeigt, die ihnen Nahrungsmittel bringen. Dieser Argumentation folgend, sei also das Geschlecht der Person entscheidend für ihre Position und Aufgabe in der Gesellschaft.


Die Frage, ob es unter den frühen Hominidinnen und Hominiden Jägerinnen gab, ist nicht nur eine Frage nach dem Berücksichtigen von objektiver Forschung. Es handelt sich zudem um die Frage nach den Machthaberinnen und Machthabern unserer Vorzeit. Waren tatsächlich immer nur die Männer auf der Jagd? Haben die Frauen, die anscheinend meist schwanger waren oder Kleinkinder zu pflegen hatten, stets in der Höhle auf die Männer gewartet? Ist dieses Bild nicht vielleicht ein Konstrukt der vorwiegend männlichen Forscher des 19. Jahrhunderts, die ein damals idealisiertes Bild der bürgerlichen monogamen Kleinfamilie vor Augen hatten?

Bei den so genannten geschlechtssymmetrischen Gesellschaften haben alle Mitglieder einer Gesellschaft die gleichen Rechte und Pflichten. Es gibt keine Bevorzugung und keine Person, die alleine Entscheidungen trifft. In den patriarchalen Gesellschaften hingegen sind es die Männer, die mehr Macht und damit mehr Chancen und Zugang zu Gütern und Ressourcen oder aber die Entscheidungsgewalt darüber haben. Die in geschlechtssymmetrischen Gesellschaften vorgefundene Gleichberechtigung aller Mitglieder der Gesellschaft, unabhängig von ihrem Geschlecht, lässt uns die Frage nach der Macht der Geschlechter und der Hierarchiebildungen neu stellen.


Jagen Frauen?

In der Wissenschaft war und ist teilweise immer noch die Meinung vorherrschend, dass Frauen aufgrund ihrer körperlichen Konstitution und ihrer fehlenden Aggressivität nicht als Jägerinnen geeignet sind. Die Biologie der Frau ist teilweise immer noch als Argument akzeptiert und wird erst seit kurzem auch in wissenschaftlichen Kreisen kontrovers diskutiert.

Obwohl die Jagdtheorie eine hoch spekulative ist und sich nicht auf Fakten, sondern auf Analogiebildungen stützt, erreicht sie eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft. Warum aber? Die Jagdtheorie ist unseren kulturellen Rollenbildern angepasst und entspricht daher den immer noch geltenden Stereotypen. Bei Analogiebildungen mit ethnographisch beschriebenen Gesellschaften wurde die Existenz von Jägerinnen nicht wahrgenommen oder nicht hinterfragt. Ja, Frauen jagen! Als Beispiel soll nun eine Gesellschaft beschrieben werden, die heute im Luzongebiet der Philippinen lebt: die Agta. Bei den Agta jagen die Frauen ebenso wie die Männer. In dieser Gesellschaft haben die Frauen einen sehr großen Anteil an der Subsistenzarbeit ihrer Familie. Sie sind gleichberechtigte Entscheidungsträgerinnen bezüglich Familienangelegenheiten und sind ebenso wie die Männer ihrer Familie an der Jagd und am Fischen beteiligt. Frauen sind also durchaus zur Jagd fähig, und Frauen und Männer sind als gleichberechtigte Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen aktiv an der Subsistenzarbeit beteiligt.


Die Agta (Philippinen)

Die Agta sind in Familien, genannt pisán, organisiert, die meist aus zwei bis fünf Kernfamilien bestehen. Die Familienorganisation der Agta ist weitestgehend unabhängig von der Kategorie gender. Die älteren und erfahreneren Mitglieder der Gesellschaft werden unabhängig von der Tatsache, ob sie Frauen oder Männer sind, zu Entscheidungen befragt. Bei den Agta ist dementsprechend nicht die Kategorie gender die entscheidende, sondern die Kategorie age. In Zusammenhang mit Erfahrung verleiht sie den Mitgliedern einer pisán Handlungsmacht, Autorität und bringt ihnen Respekt der anderen Gruppenmitglieder. Das bürgerliche Familienideal des 19. Jahrhunderts, das Männer als Alleinverdiener und Frauen als Mütter vorsieht, ist somit als rein kulturelles Konstrukt entlarvt.


Geschlechtliche Arbeitsteilung bei den Agta?

Frauen und Männer sind bei den Agta gleichermaßen an der Subsistenzarbeit beteiligt. Frauen handeln ebenso mit den Bauern und jagen genauso Wild. Es gibt keine strikte Rollenverteilung. Eine sexuelle Arbeitsteilung ist aber dennoch vorhanden, wenn auch nur in geringem Ausmaß. In einigen Regionen, in denen die Agta beheimatet sind, sind Frauen für das Ausbilden der Hunde, die bei der Jagd helfen, bekannt.

Die Argumentation, dass Frauen nicht jagen können, weil sie Kinder gebären und diese versorgen müssen, wird von den Agtafrauen widerlegt. Auch während der Menstruation gehen sie zur Jagd. Erst bei einer weit fortgeschrittenen Schwangerschaft unterbrechen sie für kurze Zeit die Jagd. Nach der Geburt tragen sie ihre Kinder bis zu einem Jahr während der Jagd in einer Schlinge und stillen sie, wenn nötig. Später passen ältere Geschwister oder Verwandte auf die Kleinkinder auf, wenn die Mütter zur Jagd gehen.


Schlussfolgerungen und Ausblick

Es kann als gesichert erachtet werden, dass Frauen als ebenso an der kulturellen Evolution beteiligt gewesen sein könnten wie Männer als Jäger. Es liegt daher noch viel Arbeit vor den Forscherinnen und Forschern, eventuell subjektiv gedeutetes ethnographisches Material erneut zu sichten. Es stellt sich zum Abschluss eine meiner Meinung nach entscheidend wichtige Frage: Wie können die neuen Erkenntnisse in Bezug auf die bereits seit vielen Jahrzehnten als gesichert geltenden Theorien publik gemacht werden? Wie kann nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Allgemeinbildung auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht werden?

Das Vorfinden von geschlechtssymmetrischen Gesellschaften beweist, dass Geschlechtergleichheit möglich ist. Durch deren weitere Analyse und Publikation wird hoffentlich ein Umdenken und eine Gesellschaft möglich, die gender nicht mehr als Kategorie der Unterordnung versteht.


Literaturtipps:

Estioko-Griffin, Agnes; Griffin, P. Bion:
Woman the Hunter: The Agta. In: Rafferty, Kevin; Chinwe Ukaegbu, Dorothy: Faces of Anthropology: A Reader for the 21st century. (Pearson, 2007)

Kästner, Sibylle:
Mit Nadel, Schlinge, Keule oder Pfeil und Bogen - Jägerinnen im ethnohistorischen und archäologischen Kontext. In: Jud, Peter; Kaenel, Gilbert: Lebensbilder - Scenes de vie. Actes du colloques de Zoug. (2001)

Lenz, Ilse; Luig, Ute:
Frauenmacht ohne Herrschaft. Geschlechterverhältnisse in nichtpatriarchalischen Gesellschaften. (Fischer. 1995)


Zur Autorin:
Barbara Bohn studierte Hispanistik sowie Französistik und begann ein Dissertationsstudium der Romanistik. Um ihren Forschungsschwerpunkt Gender vertiefen zu können, engagierte sie sich zusätzlich im Masterstudium Gender Studies an der Universität Wien.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 117, 3/2011, S. 24-25
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2011