Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE


GESELLSCHAFT/293: Bildungshemmnis - Religion, zu Unrecht verdächtigt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 147/März 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Religion - zu Unrecht verdächtigt

Das wahre Bildungshemmnis ist die soziale Herkunft

von Marcel Helbig


Kurz gefasst: Lange galten in Deutschlands Bildungssystem Katholiken als benachteiligte Gruppe. Heute schneiden Kinder muslimischen Glaubens schlecht ab. Damals wie heute entscheidet aber nicht die Religion über den Bildungserfolg, sondern die soziale Herkunft. Katholiken in Deutschland gehörten seit der Reformation zu den niedrigen sozialen Schichten. Dieses gesellschaftliche Ungleichgewicht wurde von einer Generation zur nächsten bis ins 20. Jahrhundert reproduziert. Heute haben in Deutschland muslimische Zuwanderer oft einen niedrigen sozialen Status. Das Bildungssystem trägt nichts dazu bei, diese Zuordnung aufzubrechen.


Das "katholische Arbeitermädchen vom Lande" war die Kunstfigur, der die Soziologen Hansgert Peisert und Ralf Dahrendorf Ende der 1960er Jahre alle Gründe für Benachteiligung anhängten, die das westdeutsche Bildungssystem jener Zeit bereithielt: Konfession, soziale Schicht, Geschlecht, ländliche Herkunft. Wie diese Hypotheken zusammenhingen, konnten sie mit ihren Analysen jedoch nicht zeigen. Wirkte es sich tatsächlich negativ aus, wenn jemand katholisch war, oder waren Katholiken nur besonders häufig in der Arbeiterschaft und auf dem Lande anzutreffen? Peisert vermutete Letzteres: Katholiken würden deshalb in den südlichen Bundesländern (nur dort waren sie benachteiligt) niedrigere Bildungsergebnisse aufweisen, weil sie überproportional niedrigeren sozialen Schichten angehörten oder häufiger auf dem Land lebten. Andere Autoren hingegen sahen im Katholizismus selbst ein Bildungshemmnis. Gemeinsam mit Thorsten Schneider optiere ich in einer neuen Studie für Peiserts Deutung: Wir können zeigen, dass die Benachteiligung der Katholiken zu jener Zeit vollständig auf ihre niedrigere soziale Herkunft zurückzuführen ist. Das katholische Arbeitermädchen vom Lande war also vor allem ein Arbeitermädchen vom Lande.

Wie kommt es aber, dass Katholiken in der Anfangszeit der Bundesrepublik und noch deutlicher im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts seltener hohen sozialen Schichten angehörten und deshalb seltener Gymnasium und Universität besuchten? Nach Max Weber liegen die Ursachen dieser Ungleichheit in Deutschland bereits im 16. Jahrhundert. Vor allem die entwickelten Gebiete und die reichen Städte haben sich damals dem Protestantismus zugewandt. So wurde der Grundstein dafür gelegt, dass noch am Anfang des 20. Jahrhunderts Protestanten überragend am Kapitalbesitz und an der Leitung der obersten Stufen der Arbeit beteiligt waren, erklärt Peisert. Nicht zuletzt das vielbeachtete Buch von Thomas Piketty, "Das Kapital im 21. Jahrhundert", weist darauf hin, dass es in Europa bis zum Ersten Weltkrieg ein historisch einmaliges Ausmaß an sozialer Ungleichheit und eine exorbitante Kapitalakkumulation der höchsten Schichten gegeben hat. Soziale Mobilität durch Bildung war nahezu ausgeschlossen. Zudem war Katholiken beispielsweise in Preußen bis 1918 der Zugang zu höheren Beamtenposten verwehrt.

Es ist zu dieser Zeit davon auszugehen, dass vor allem die Kinder der protestantischen Eliten in den höheren Schulen und an den Universitäten zu finden waren. Ursache dafür ist aber nicht direkt ihre Konfession, sondern ihre soziale Stellung. Mit anderen Worten vererbten Protestanten seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten die höheren Bildungsergebnisse von einer Generation zur nächsten weiter. Überdies widmete sich ein Großteil der katholischen Studenten im ausgehenden 19. Jahrhundert dem Theologiestudium. Von den katholischen Abiturienten Badens etwa nahmen zwischen 1891 und 1893 rund 42 Prozent ein geistliches Studium auf. Damit hatte "fast die Hälfte der katholischen Abiturienten [...] keine legitimen Nachkommen zu erwarten, die eine gehobene elterliche Bildungstradition hätten weiterführen können", schreibt Peisert.

Erst in der Folge der Krisen und Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zu einer beginnenden Auflösung tradierter Ungleichheiten und damit zu einer sozialen Angleichung der Kinder in den christlichen Konfessionsgruppen. Dennoch stammten katholische Kinder in Bayern und Baden-Württemberg auch 1970 noch aus sozial ungünstigeren Familienverhältnissen als evangelische Kinder. Dies führte nach wie vor zu einer geringeren Gymnasialbeteiligung der katholischen Kinder, wofür aber die soziale Lage und nicht die Konfession entscheidend war. Auf der anderen Seite hatten 1970 katholische Kinder in Schleswig-Holstein, Hamburg und Berlin - also in stark protestantisch geprägten Bundesländern - einen größeren Bildungserfolg als protestantische Kinder. Hier kamen die wenigen katholischen Kinder eher aus sozial besseren Verhältnissen. Hier wie dort ist die Konfession nur ein sekundäres Merkmal von Bildungserfolg; ausschlaggebend ist die soziale Herkunft.

Und heute? Vergleicht man die verschiedenen Religions- beziehungsweise Konfessionsgruppen in Westdeutschland miteinander, so zeigt sich, dass Kinder aus konfessionslosen Familien häufiger auf dem Gymnasium zu finden sind als jene aus katholischen und evangelischen Familien (rund 8 Prozentpunkte höhere Gymnasialquote) und deutlich häufiger als Kinder aus muslimischen Familien (33 Prozentpunkte). Aber auch hier gilt, dass diese Unterschiede sozial und nicht religiös bedingt sind. Bei gleicher Bildung, beruflichem Status, Einkommen und Kinderzahl zeigen sich nämlich keinerlei Differenzen beim Gymnasialbesuch zwischen den genannten Gruppen. Kinder aus konfessionslosen Familien kommen heute aus leicht besseren sozialen Verhältnissen als Kinder aus katholischen und evangelischen Familien. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass höher gebildete Personen eher aus der Kirche austreten als niedrig gebildete. Kinder aus konfessionslosen, katholischen oder evangelischen Familien wiederum kommen aus deutlich besseren sozialen Verhältnissen als Kinder aus muslimischen Familien.

Für muslimische Familien konnten wir diesen Befund für eine Reihe weiterer westeuropäischer Länder bestätigen. Muslimische Kinder haben in Österreich, Belgien, Dänemark, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen und der Schweiz niedrigere schulische Kompetenzen in der 8. Klasse. Bei gleicher sozialer Lage der Kinder (gemessen an Bildung und beruflichem Status der Eltern) zeigen sich in fast allen dieser Länder keine Kompetenzdefizite muslimischer Kinder mehr. (Einzig in Norwegen und Belgien geht der religionsbezogene Nachteil nicht ganz in der sozialen Zuordnung auf; für die Diskussion dieser Ausnahmefälle sei an dieser Stelle auf unser Buch verwiesen.)

Für Muslime wie für Christen gilt also: Die ausgeübte Religion und damit verbundene Wertvorstellungen oder Weltanschauungen haben kaum Einfluss auf die Bildungswege von Kindern. Was zählt, ist vielmehr der ungleiche Zugang verschiedener Religionsgemeinschaften zu sozialen (Netzwerke), kulturellen (Bildung) oder ökonomischen Gütern. Diese Ungleichheit verfestigt sich durch die hohe Selektivität des Bildungssystems über Generationen hinweg: Bereits im 18. Jahrhundert ist die Versorgung mit weiterführenden Schulen in protestantischen Regionen besser als in katholischen. Insgesamt sind Katholiken aber noch bis zum Ersten Weltkrieg regional (Schulstandorte), kulturell (Bildung der Eltern) und ökonomisch schlechtergestellt als Protestanten.

Auch die Bildungsbenachteiligung muslimischer Kinder in Deutschland und Westeuropa hat sozialhistorische Gründe. Beginnend mit dem Anwerbeabkommen der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei im Jahr 1961 sind Muslime in größerer Zahl eingewandert. Sie kamen aus eher benachteiligten Bevölkerungsschichten ihrer Herkunftsländer und übernahmen hier überwiegend un- und angelernte Tätigkeiten in der Industrie. Auch wenn sich Angehörige der muslimischen Gemeinschaft in den folgenden Einwanderungswellen weniger von der Sozialstruktur der deutschen Bevölkerung unterschieden haben mögen, stammen muslimische Kinder auch heute noch verstärkt aus unteren sozialen Schichten. Dies ist nicht zuletzt ein Resultat des sozial hochselektiven deutschen Schulsystems. So befinden sich Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund, der Hauptbevölkerungsgruppe muslimischen Glaubens in Deutschland, dreimal seltener direkt nach der Grundschule auf dem Gymnasium als Kinder ohne türkischen Migrationshintergrund. Wenn man jedoch Kinder mit gleicher Bildung der Eltern vergleicht, so finden sich keinerlei Unterschiede dieser beiden Gruppen wieder (das ergeben eigene Berechnungen mit Daten aus dem Mikrozensus 2008). Türkische Kinder führen also nur die Bildungskarrieren ihrer Elterngeneration fort.

Unterschiede zwischen religiösen und ethnischen Gruppen können über soziale Merkmale erklärt werden. Dies ist allerdings alles andere als ein beruhigender Befund. Schließlich sind die Katholiken des 19. oder die Muslime des 21. Jahrhunderts kein bisschen weniger benachteiligt, wenn wir ihr Bildungsdefizit über ihre soziale Herkunft erklären können. Diese Gruppen halten uns das Bildungsdefizit bestimmter Bevölkerungsschichten nur deutlicher vor Augen, als das Messungen mit elaborierten sozialwissenschaftlichen Skalen zur sozialen Herkunft tun können. Sie illustrieren die ungleichen Bildungschancen in Deutschland. Die Benachteiligung der Katholiken dauerte mindestens 200 Jahre an, bis sie in den massiven sozialen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts eher nebenbei unterging. Muslimische Kinder werden es im deutschen Schul- und Bildungssystem so lange schwer haben, wie die soziale Herkunft über den Bildungserfolg entscheidet. Werden sie schneller aufholen als seinerzeit die Katholiken? Das deutsche Schulsystem bietet wenig Anlass zu Hoffnung.


Marcel Helbig, Jahrgang 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Projektgruppe der Präsidentin. Als Bildungssoziologe untersucht er Fragen der Ungleichheit, der Schulsysteme und der Schulpolitik.
marcel.helbig@wzb.eu


Literatur

Helbig, Marcel / Schneider, Thorsten: Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande. Religion und Bildungserfolg im regionalen, historischen und internationalen Vergleich. Wiesbaden: Springer VS 2014.

Peisert, Hansgert: Soziale Lage und Bildungschancen in Deutschland. München: Piper 1967.

Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2014.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 147, März 2015, Seite 22-24
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 491-0, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang