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GESELLSCHAFT/298: Arbeitslose sind sozial isolierter (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 149/September 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Arbeitslose sind sozial isolierter

Ländervergleich zeigt große Unterschiede beim Ausmaß der Benachteiligung

von Martina Dieckhoff


Kurz gefasst: Soziale Partizipation ist für den gesellschaftlichen Zusammenhalt unentbehrlich. Arbeitslose nehmen jedoch weniger am sozialen Leben teil als vergleichbare Erwerbstätige. Es gibt aber deutliche Länderunterschiede im Ausmaß dieses Teilnahmedefizits. So ist der Unterschied in der Partizipation von Arbeitslosen und Erwerbstätigen in Ländern, in denen Arbeitslosigkeit mit einem geringeren Armutsrisiko verbunden ist, kleiner als in Ländern, in denen Arbeitslosigkeit mit einem höheren Armutsrisiko einhergeht. Auch gesellschaftliche Gerechtigkeitseinstellungen spielen eine Rolle: In egalitäreren Gesellschaften ist die soziale Partizipation der Arbeitslosen höher.


Soziale Partizipation ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Bestimmte Gruppen nehmen nur eingeschränkt am sozialen Leben teil. Dazu gehören Arbeitslose, die sich nach dem Jobverlust seltener mit Freunden treffen und in Vereinen engagieren. Das hat nicht nur Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Gesellschaft, sondern auch für die Arbeitslosen negative Konsequenzen: Menschen, die sich sozial ausgeschlossen fühlen, haben eine schlechtere psychische Gesundheit und eine geringere Lebenszufriedenheit als solche, die sich sozial integriert fühlen.

Auch für den individuellen Arbeitsmarkterfolg ist soziale Partizipation relevant. Der amerikanische Soziologe Mark Granovetter geht nach der "The Strength of Weak Ties"-These davon aus, dass schwache soziale Beziehungen - wie etwa flüchtige Bekanntschaften - für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt wichtiger sind als starke soziale Beziehungen (enge Freundschaften). Die flüchtigeren Beziehungen liefern nämlich eher Zugang zu neuen Informationsquellen. Wer sozial weniger teilnimmt, hat daher Schwierigkeiten, einen neuen Job zu finden, denn soziale Kontakte, die den (Wieder-)Einstieg in Beschäftigung begünstigen könnten, fehlen.

Warum geht Arbeitslosigkeit mit reduzierter sozialer Partizipation einher? Als wichtiger Grund werden zum einen fehlende finanzielle Ressourcen angeführt, da soziale Partizipation oft mit Kosten verbunden ist. Viele Freizeitaktivitäten sind nicht umsonst, und Reziprozitätserwartungen in Freundschaften können dazu führen, dass finanzielle Einschnitte Freundschaften gefährden. Arbeitslosigkeit ist zudem häufig mit einem Stigma behaftet. Wenn Arbeitslose sich stigmatisiert fühlen, führt dies zum sozialen Rückzug. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und geringerer sozialer Partizipation wurde in bisherigen Studien bereits nachgewiesen. Wenig bekannt waren dagegen die institutionellen, strukturellen und kulturellen Faktoren, die eine soziale Partizipation arbeitsloser Menschen begünstigen oder erschweren.

In einer gemeinsamen Studie mit Vanessa Gash (City University London) habe ich Survey-Daten der European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) ausgewertet, um den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und sozialer Teilhabe in 23 EU-Ländern in den Blick zu nehmen. Ein solcher Ländervergleich gibt Auskunft darüber, wie das Ausmaß der Benachteiligung zwischen Ländern variiert. Es ging darum herauszufinden, welche Variablen auf der Länderebene (Makroebene) sich auf die soziale Teilhabe von Arbeitslosen (Mikroebene) auswirken. Dazu haben wir Mehrebenenmodelle verwendet - ein Analyseverfahren, das es möglich macht, den Einfluss institutioneller und struktureller Faktoren auf Mikroprozesse zu messen. Untersucht wurden Menschen, die mindestens sechs Monate arbeitslos waren.

Die formelle soziale Partizipation wird in unserer Studie durch die Mitgliedschaft in Vereinen, Organisationen oder Verbänden erfasst. Für die informelle soziale Partizipation haben wir drei weitere Indikatoren verwendet: die Anzahl von Freizeitaktivitäten (zum Beispiel von Konzertbesuchen), die Häufigkeit von Kontakten mit Freunden oder Bekannten sowie die subjektive Wahrnehmung der Befragten, ob sie Familienmitglieder, Freunde oder Nachbarn um Hilfe bitten können.

In allen 23 Ländern nehmen Arbeitslose weniger am sozialen Leben teil als Erwerbstätige. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der sozialen Partizipation. Ein negativer Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und der Häufigkeit von Freizeitaktivitäten (zum Beispiel Konzert- oder Kinobesuch) ist ausnahmslos in jedem Land zu finden. Bei der formellen sozialen Beteiligung weisen Arbeitslose mit nur einer Ausnahme (nämlich den Niederlanden) eine signifikant geringere soziale Beteiligung auf als vergleichbare Erwerbstätige. Auch in den Analysen zur Kontakthäufigkeit mit Freunden und zur Möglichkeit, andere um Hilfe zu bitten, sind Arbeitslose in der Mehrzahl der untersuchten Länder klar benachteiligt. Allerdings gibt es bei diesen Dimensionen der sozialen Partizipation auch einige Länder, in denen Arbeitslosigkeit zu keinem signifikanten Nachteil führte oder gar zu vermehrtem Kontakt mit Freunden.

Trotz dieser Unterschiede ist der Befund eindeutig: In der Summe sind Arbeitslose im Vergleich zu Erwerbstätigen in jedem dieser europäischen Länder benachteiligt. Das Ausmaß der Benachteiligung variiert aber deutlich im Ländervergleich. Wie lassen sich diese Länderunterschiede erklären? Welche Faktoren mildern den Einfluss von Arbeitslosigkeit auf soziale Teilhabe? Wir haben folgende Faktoren untersucht: die ökonomische Unsicherheit von Arbeitslosigkeit, die Arbeitslosenquote und Einstellungen zu Gerechtigkeit und Solidarität. Die ökonomische Unsicherheit wird als Armutsrisiko der Arbeitslosen gemessen. Die Einstellung zur Gerechtigkeit wird über die Zustimmung zu der Aussage "die Regierung sollte Ungleichheiten in Einkommen reduzieren" abgefragt.

Unsere Untersuchungen zeigen: In Ländern, in denen Arbeitslosigkeit seltener mit ökonomischer Unsicherheit einhergeht (zum Beispiel in den Niederlanden und Frankreich), sind die Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen in der formellen sozialen Beteiligung, also bei den Mitgliedschaften in Vereinen, Verbänden und Organisationen, deutlich geringer oder nicht signifikant. Am größten fällt das Partizipationsdefizit der Arbeitslosen in den Ländern aus, in denen Arbeitslose das größte Armutsrisiko haben (zum Beispiel Estland und Lettland). Deutschland liegt hier im Mittelfeld. Auch bei den Analysen zur Häufigkeit von Freizeitaktivitäten finden wir, dass Partizipationsunterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen in den Ländern am stärksten ausfallen, in denen Arbeitslosigkeit mit großer finanzieller Unsicherheit einhergeht.

Auch gesellschaftliche Einstellungen zur Gerechtigkeit spielen eine Rolle. In Ländern, in denen egalitäre Gerechtigkeitseinstellungen dominieren, sind die Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen kleiner als in weniger egalitären Ländern. Hier können Menschen trotz ihrer Arbeitslosigkeit den Kontakt mit Freunden und Bekannten in höherem Maße aufrechterhalten und reduzieren ihre Teilnahme an Freizeitaktivitäten weniger. Wir gehen davon aus, dass Arbeitslosigkeit in diesen Ländern weniger stigmatisierend ist, da Menschen mit egalitären Gerechtigkeitseinstellungen in der Regel nicht davon ausgehen, dass Lebensrisiken und Lebenschancen gerecht verteilt sind, und daher nicht annehmen, dass Arbeitslosigkeit selbst verschuldet ist.

Unsere Erwartung, dass eine hohe Arbeitslosenquote die Stigmatisierung von Arbeitslosen mindert und zu einem schwächeren Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und sozialer Teilhabe führt, bestätigte sich dagegen kaum. Überraschend ist auch, dass finanzielle Ressourcen für die Häufigkeit von Kontakten mit Freunden keine Rolle zu spielen scheinen.

Diese Befunde sind auch arbeitsmarkt- und sozialpolitisch relevant. Sie zeigen, dass die ökonomische Unsicherheit von Arbeitslosen ein wichtiger Erklärungsfaktor für den Rückzug der Arbeitslosen aus dem sozialen Leben ist. Adäquate Sozialleistungen, die das Armutsrisiko arbeitsloser Menschen reduzieren, können somit dazu beitragen, dass diese weiter am sozialen Leben teilhaben können. Dies ist nicht nur wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch für das psychische Wohlergehen und den zukünftigen Arbeitsmarkterfolg der Arbeitslosen. Ökonomische Unsicherheit wirkt sich besonders negativ auf die formelle soziale Partizipation aus. Gerade hier werden aber soziale Beziehungen geknüpft, die eine zentrale Rolle für die Arbeitsplatzsuche spielen.


Martina Dieckhoff ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Ausbildung und Arbeitsmarkt. Sie forscht über Bildung und Arbeitsmarkt, Geschlecht sowie über Wohlfahrtsstaat und soziale Ungleichheit.
martina.dieckhoff@wzb.eu


Literatur

Brand, Jennie E. / Burgard, Sarah A.: "Job Displacement and Social Participation over the Lifecourse: Findings for a Cohort of Joiners". In: Social Forces, 2008, Vol. 87, No. 1, pp. 211-242.

Brandt, Martina: "Soziale Kontakte als Weg aus der Erwerbslosigkeit". In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2006, Jg. 58, H. 3, S. 468-488.

Dieckhoff, Martina / Gash, Vanessa: "Unemployed and Alone? Unemployment and Social Participation in Europe". In: International Journal of Sociology and Social Policy, 2015, Vol. 35, Nos. 1/2, pp. 7-90.

Granovetter, Mark S.: "The Strength of Weak Ties". In: American Journal of Sociology, 1973, Vol. 78, No. 6, pp. 1360-1380.

Putnam, Robert: Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York, NY: Simon and Schuster 2000.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 149, September 2015, Seite 21-23
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2015

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