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GESELLSCHAFT/349: Mauer in den Köpfen? Wie Ost- und Westdeutsche fast 30 Jahre nach Wiedervereinigung ticken (idw)


Universität Passau - 08.07.2019

Mauer in den Köpfen? Wie Ost- und Westdeutsche fast 30 Jahre nach Wiedervereinigung ticken


Prof. Dr. Stefan Bauernschuster, Inhaber des Lehrstuhls für Public Economics an der Universität Passau, hat mit Kollegen des ifo Instituts München in einer Studie für das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie untersucht, wie Ost- und Westdeutsche ticken. Auf der ifo Jahresversammlung in München wurde dieses Projekt nun als bestes Drittmittelprojekt des ifo Instituts des vergangenen Jahres ausgezeichnet. Für Stefan Bauernschuster ist es die dritte Auszeichnung dieser Art: Er erhielt den Preis bereits für zwei Studien für das Bundesministerium der Finanzen sowie das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Wächst zusammen, was zusammengehört? Wie blicken Ost- und Westdeutsche knapp drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung auf ihr Land und ihre Gesellschaft? Um diese Frage zu beantworten, durchforsteten die Forscher gleich mehrere große Datensätze und werteten diese systematisch aus. Dabei betrachteten sie diverse Einstellungen und Werte aus vier unterschiedlichen Lebensbereichen, der sozialen Sphäre, der politischen Sphäre, der familialen Sphäre und der wirtschaftlichen Sphäre - und erkannten ein Hauptmuster: In den meisten Bereichen sind die Ost-West-Unterschiede unter jüngeren Menschen teils erheblich kleiner als unter älteren Menschen. "Die Erfahrungen mit zwei unterschiedlichen polit-ökonomischen Systemen in den beiden Landesteilen sind allerdings fast in allen Einstellungsfragen immer noch erkennbar", sagt Stefan Bauernschuster.

Frauen an den Herd?

Zu besonders auffälligen Befunden kommt es unter anderem bei den Einstellungen zur Rolle von Mann und Frau in der Gesellschaft. Während immer noch mehr als ein Viertel aller Westdeutschen der Meinung sind, dass es viel besser sei, wenn der Mann voll im Berufsleben stehe und die Frau zu Hause bleibe, liegt die Zustimmung zu dieser Aussage in Ostdeutschland bei lediglich 14 Prozent. "Diese Einstellungsunterschiede spiegeln sich in unterschiedlichem Verhalten am Arbeitsmarkt wider", erläutert Bauernschuster. "Mütter in Ostdeutschland haben nach wie vor eine deutlich ausgeprägtere Arbeitsmarktbeteiligung als Mütter in Westdeutschland." In einer früheren Studie zeigte Stefan Bauernschuster mit seinem Ko-Autor Helmut Rainer (LMU München) bereits, dass diese unterschiedlichen Rollenbilder nicht zuletzt auf historische Unterschiede in den polit-ökonomischen Regimen Ost- und Westdeutschlands zurückzuführen sind.

Politik: Interesse, aber auch Unzufriedenheit

Bezüglich der politischen Sphäre können die Wissenschaftler zeigen, dass das Interesse der Menschen für Politik in den letzten Jahren stark angestiegen ist und es hier kaum Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen gibt. Trotzdem ist die tatsächliche Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen in Westdeutschland konstant höher als in Ostdeutschland. Die Demokratie wird von den allermeisten Menschen in Ost- und Westdeutschland als die beste Staatsform angesehen und die Zufriedenheit mit der Demokratie ist in Deutschland in den letzten Jahren angestiegen. Beim Urteil über das Funktionieren der Demokratie sind die Menschen in Ostdeutschland dagegen deutlich kritischer eingestellt als in Westdeutschland: Während 72 Prozent der Westdeutschen mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland zufrieden sind, gilt dies nur für 44 Prozent der Ostdeutschen. Ähnliche Unterschiede findet man in der Zufriedenheit mit der nationalen Regierung und dem Vertrauen in den Deutschen Bundestag, in Parteien und Politiker.

Migration: Zwischen Hilfsbereitschaft und Gewalt

Ein besonderes Interesse der Forscher galt dem Thema Migration: "Hier zeigt sich, dass die allgemeine Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen hoch ist; doch sprechen sich Ostdeutsche öfter als Westdeutsche für eine Begrenzung und Unterbindung sowohl des Zuzugs von Flüchtlingen als auch des Zuzugs von EU-Arbeitnehmern aus", fasst Bauernschuster zusammen. "Flüchtlinge und auch andere in Deutschland lebende Ausländer werden in Ostdeutschland häufiger als Risiko wahrgenommen als in Westdeutschland. Zieht man zu den Einstellungen die Verhaltensweisen im Extremismusbereich hinzu, so bestätigen sich die Ost-West-Unterschiede: In Relation zur Einwohnerzahl werden in Ostdeutschland häufiger fremdenfeindlich motivierte Straf- und Gewalttaten verübt als in Westdeutschland."

Hohe Zufriedenheit mit der Wirtschaftslage

Nahezu einig sind sich die Befragten hingegen darüber, dass die Wirtschaftslage Deutschlands heute deutlich besser ist als noch im Jahr 2005. Gefragt nach ihrer privaten Wirtschaftssituation, beurteilen 70 Prozent der Befragten in Westdeutschland und 65 Prozent derjenigen in Ostdeutschland ihre Lage als gut bis sehr gut. Die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation und den Arbeitsplatz nahmen seit 2005 deutlich ab; die Zufriedenheit mit dem eigenen Einkommen, dem Haushaltseinkommen, der Arbeit und die allgemeine Lebenszufriedenheit stieg in beiden Landesteilen substantiell. Nichtsdestotrotz gibt es noch größere Unterschiede, wenn man Fragen über Verteilungsgerechtigkeit stellt: Knapp 70 Prozent im Westen, aber nur knapp 50 Prozent im Osten gaben zuletzt an, ihren gerechten Anteil oder sogar mehr als ihren gerechten Anteil im Vergleich zu anderen in Deutschland Lebenden zu erhalten.


Weitere Informationen unter:
http://www.ifo.de/DocDL/ifo_Forschungsberichte_96_2018_Rainer_etal_Deutschland2017.pdf
- Originalstudie

http://www.ifo.de/DocDL/sd-2018-21-rainer-etal-ostdeutsche-westdeutsche-2018-11-08.pdf
- Kurze Zusammenfassung (ifo Schnelldienst)

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution79

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Passau, 08.07.2019
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2019

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