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JUGEND/059: Migration - Abschied auf ungewisse Zeit (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 124/Juni 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Abschied auf ungewisse Zeit
Viele Gastarbeiter mussten Kinder zurücklassen - zu deren Schaden

Von Rahim Hajji


Die Jugendmigrationsforschung in Deutschland hat dem Thema transnationale Familien bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei sind sehr viele Migrantenkinder vom zeitweiligen Verlust eines Elternteils oder beider Eltern geprägt. Kinder entwickeln unterschiedliche Strategien, mit einem solchen Verlust umzugehen. Dieser wiederum kann schwerwiegende Folgen für die Zeit nach der Familienzusammenführung in Deutschland haben.


Kinder brauchen ihre Eltern. Geht ein Elternteil ins Ausland, um dort zu arbeiten, kann dies schlimme Folgen haben, wie ein Bericht des "International Herald Tribune" vom 12. Februar 2009 zeigt: Eine rumänische Mutter verlässt ihre Kinder, um in Italien als Haushaltshilfe zu arbeiten. Ihr Sohn Stefan kommt mit der Trennung von seiner Mutter nicht zurecht und nimmt sich das Leben. In seinem Abschiedsbrief schreibt er ihr folgende Worte: "I‹m sorry we are parting upset. [...] You don‹t have to worry about my funeral because a man owes us money for timber. My sister, you should study hard. Mom, you should take care of yourself because the world is harsh. Please take care of my puppy."

Die durch Migration bedingte Trennung, die für Kinder mit dem Wegzug von einem Elternteil oder sogar beiden Eltern verbunden ist, wurde bisher in der internationalen Migrationsforschung kaum behandelt. Eine aktuelle WZB-Studie zeigt die Entstehungsbedingungen der spezifischen Verlusterfahrungen für Kinder im Kontext der Gastarbeiteranwerbung und beleuchtet die Folgen von Trennungserfahrungen.

Seit den 1980er Jahren sinkt der Anteil durch Migration getrennter Familien in Deutschland, weil viele Gastarbeiter ihre Familien in der Zwischenzeit nach Deutschland geholt haben (siehe Abbildung). So wurde im Soziooekonomischen Panel nach 1999 nicht mehr nach der aktuellen Trennungssituation gefragt. Dennoch sind es zurzeit jährlich immer noch etwa 10.000 Kinder, die im Rahmen der Familienzusammenführung zu Vater oder Mutter nach Deutschland einreisen, die sie oft kaum kennen. Die im Herkunftsland häufig erlebte Eltern-Kind-Trennung gehört zu den biographischen Ereignissen, die prägend für den weiteren Lebensverlauf der Kinder sein können.

In Deutschland erfolgte die Anwerbung von Gastarbeitern im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aufschwung seit den 1950er Jahren, der für die Arbeitsmigranten im Ausland ein Anreiz war. In der Folge wanderten auf Grundlage bilateraler Anwerbeverträge Arbeitsmigranten aus Italien, der Türkei, Spanien, Marokko, Griechenland, Tunesien und Jugoslawien ein. Die Niederlassung von Einwandererfamilien aus Afrika (Marokko, Tunesien) und Asien (Türkei) war zu dem Zeitpunkt noch unerwünscht. Deshalb blieb beispielsweise den türkischen Gastarbeitern zu Beginn der Anwerbungsphase das Recht auf Familieneinwanderung vertraglich verwehrt.

Die kulturellen Distanzen zwischen den Herkunftsländern und dem Aufnahmeland spielen auch bei der Entstehung von transnationalen Familien eine Rolle. Unter kulturellen Distanzen sind die Unterschiede in der Lebensweise zu verstehen, die sich beispielsweise in Wertevorstellungen und Verhaltensweisen niederschlagen können. So ist anzunehmen, dass bei großen kulturellen Distanzen die Einwanderer die Arbeitsmigration als ein zeitlich begrenztes Unternehmen anlegten, um wieder in die Heimat zurückzukehren, wenn ausreichend finanzielle Mittel für eine gesicherte Existenz erwirtschaftet worden waren.

Der Mikrozensus 2005 erlaubt es erstmals, Migrationsbiographien der Befragten repräsentativ für Deutschland zu rekonstruieren. Demnach haben etwa 70 Prozent der eingewanderten Kinder aus den ehemaligen Gastarbeiterländern Trennungserfahrungen gemacht. Differenziert man nach der kontinentalen Herkunft der Kinder, zeigt sich, dass 63,8 Prozent der immigrierten Kinder europäischer Herkunft und 72,5 Prozent der immigrierten Kinder afrikanisch-asiatischer Herkunft Trennungserfahrungen gemacht haben. Die signifikanten Unterschiede können möglicherweise auf die kulturellen Distanzen und auf die rechtlichen Einreisebedingungen in Deutschland zurückgeführt werden. Für Einwanderer aus afrikanischen oder asiatischen Herkunftsländern waren die Einreisebedingungen für Familien zu Beginn der Anwerbung restriktiver als für europäische Einwanderer. Darüber hinaus ist die kulturelle Distanz zwischen Herkunfts- und Aufnahmeland für Migranten aus Afrika und Asien größer als für Einwanderer aus Europa.

Im Rahmen einer qualitativen Studie zur Untersuchung von Sozialisationsprozessen in marokkanischstämmigen Familien sind die Lebensgeschichten von acht Einzelfällen erhoben worden, die Erfahrung mit migrationsbedingtem Eltern(teil)-Verlust gemacht haben. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass der Verlust von Elternteilen häufig als einschneidendes biographisches Erlebnis wahrgenommen wird. So berichtet eine Frau, Mimount: "1979 kam meine Mutter mit meinen zwei Schwestern nach Deutschland, hat mich und meinen Bruder in Marokko gelassen und ist über Nacht gegangen. [...] Ich denke, dass dieses Erlebnis, also dieser Verlust, mich sehr lange geprägt hat. Erst der Vater - und dann ist auch die Mutter weg." Sie macht deutlich, dass sie lange Zeit mit dem Verlust des Vaters und der Mutter beschäftigt war. Ein Kind sucht nach Antworten für den Elternverlust und nach Wegen, den damit verbundenen Trennungsschmerz zu verarbeiten.

Auch Abdullah durchlebte eine Trennung: "Meine Mutter hat uns sechs Monate besucht im Jahr", berichtet er, "dann war sie sechs Monate in Deutschland. Mein Vater kam einen Monat im Jahr, also in den acht Jahren, wo ich noch in Marokko war. [...] Ich kann mich erinnern, dass ich ihn immer vermisst habe als Kind. [...] in dem einen Monat, wo er da war, konnte mich nichts von ihm trennen."

Die befragten Personen schildern sehr unterschiedliche Geschichten über die Zusammenführung der Familie in Deutschland. Dabei kommen verschiedene Formen der Verarbeitung des Trennungsschmerzes zum Ausdruck. Leila berichtet über die Wut, die sie als Mädchen empfunden hat: "Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, aber sie war nun nicht mehr meine Mutter, sondern meine Oma. Irgendwie war ich natürlich auch sauer auf meine Eltern, dass sie mich abgegeben haben. Die wussten nicht weiter mit mir. Ich war unglaublich aggressiv." Anders reagiert Mimount: "Als ich nach Deutschland kam, war ich sehr anpassungsfähig. Ich glaube, das hat damit zu tun, dass ich sie nicht noch mal verlieren wollte."

Die unterschiedlichen Verarbeitungsformen von Leila und Mimount hängen mit den Familienverhältnissen im Herkunftsland zusammen. Leila hatte Großeltern, die ein gutes Verhältnis zu ihr hatten und ihren Verlust zu kompensieren versuchten. Dies führte dazu, dass Leila die Rolle der Eltern als Erziehungsberechtigte nach der Familienzusammenführung ablehnte, was die Eltern-Kind-Beziehung folglich belastete. Dagegen hat Mimount ein ambivalentes Verhältnis zu ihren Großeltern gehabt. In ihrem Fall trat deshalb keine Identifikation mit den Großeltern ein, was zu einem sehr anpassungsorientierten Verhalten gegenüber ihren Eltern führte.

Die Verlusterfahrungen der Migrantenkinder sind nicht nur mit einem belasteten Verhältnis zu den Eltern verbunden, sondern manchmal auch mit einer schwierigen sozialen Integration. Denn Kinder, die zum Teil im Herkunftsland sozialisiert werden, fehlt es an Kenntnissen der deutschen Sprache. Diese muss erst mühsam erlernt werden, damit eine schulische und berufliche Ausbildung gelingen kann. Darüber hinaus haben die Trennungserfahrungen der Kinder der Gastarbeitergeneration zum Teil Folgen für die danach kommende Generation. Die Generation der Kinder, die Erfahrung mit Trennung von den Eltern gemacht haben, entwickelt heute zwei unterschiedliche Erziehungsstrategien, wenn sie selbst Eltern geworden sind: Entweder sie tendieren dazu - bedingt durch die eigenen Trennung von den Eltern -, ihren Kindern zu viel Liebe und Aufmerksamkeit zu schenken und dabei erzieherische Aufgaben zu vernachlässigen, oder sie erziehen ihre Kinder ohne große persönliche Anteilnahme, was sich ebenfalls auf die fehlende Erfahrung von Zuneigung seitens der eigenen Eltern zurückführen lässt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Eltern(teil)-Verlust für die betroffenen Kinder unweigerlich Fragen nach den Gründen hierfür aufwirft. Der Trennungsschmerz kann durch die "Ersatzeltern", also beispielsweise die Großeltern, kompensiert werden. Doch eine zu enge Beziehung zwischen ihnen und dem Kind kann dazu führen, dass die spätere Familienzusammenführung konfliktbelastet verläuft. Hinzu kommen für das eingewanderte Kind die fehlenden Sprachkenntnisse, die eine schulische und berufliche Eingliederung in Deutschland erschweren. Darüber hinaus zeigt sich, dass das Bindungsverhalten von Erwachsenen, die in der Kindheit Trennungserfahrungen gemacht haben, nicht ausgeglichen ist. Denn bei der Erziehung ihrer eigenen Kinder tendieren sie entweder dazu, diese zu stark an sich zu binden, oder sie verhalten sich ihnen gegenüber eher gleichgültig.


Rahim Hajji, geboren 1977, war bis April 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der WZB-Abteilung "Migration, Integration und Transnationalisierung". Er studierte und promovierte in Soziologie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der Islam- sowie in der Jugend- und Familienmigrationsforschung.
hajji@svr-migration.de


Literatur

Rahim Hajji, Transnationale Familien. Zur Entstehung, zum Ausmaß und zu den Konsequenzen der migrationsbedingten Eltern-Kind-Trennung in Familien aus den klassischen Gastarbeiterländern in Deutschland, 41 S. (WZB-Bestellnummer SP IV 2008-705)


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Grafik: Anteil an transnationalen Familien bei in Deutschland tätigen Gastarbeitern


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 124, Juni 2009, Seite 37 - 39
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2009