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JUGEND/076: Erste Schritte in die Selbstständigkeit (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99

Erste Schritte in die Selbstständigkeit

Wie sich die gemeinsamen Freizeitaktivitäten von Eltern und Jugendlichen zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr verändern

von Christine Entleitner und Waltraud Cornelißen



Zu den zentralen Herausforderungen, die Jugendliche bewältigen müssen und meist auch bewältigen wollen, gehört es, sich von den Eltern zu lösen. Dieser Prozess mündet in der Regel in den Auszug aus dem Elternhaus. Wie wird er vorbereitet? Verändert sich das Leben von Jugendlichen in ihren Familien, bevor sie ausziehen? In diesem Beitrag soll dargestellt werden, wie sich die gemeinsame Freizeit von Eltern und ihren Kindern während deren 13. und 17. Lebensjahr wandelt. Grundlage ist der 2009 erhobene DJI-Survey AID:A (Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten), in dem Jugendliche über Aspekte ihres Familienalltags Auskunft geben sowie darüber, wie wichtig ihnen Familienmitglieder und bestimmte Lebensbereiche sind - etwa Freunde, Schule oder Ausbildung. Die Stichprobe der 13- bis 17-Jährigen umfasste 2.829 Jugendliche, die im Rahmen von Telefoninterviews befragt wurden.


Weniger Zeit für die Familie

Ein Indikator dafür, dass sich Jugendliche vom Elternhaus ablösen, ist der Rückzug der Jugendlichen von Unternehmungen mit der Familie. Die AID:A-Daten zeigen, dass gemeinsame Aktivitäten zwischen dem 13. und dem 17. Lebensjahr systematisch abnehmen. So geben von den 13-Jährigen etwa 67 Prozent an, häufig oder zumindest ein- bis zweimal pro Woche etwas mit der Familie zu unternehmen. Von den 17-Jährigen stimmen dem nur etwa 52 Prozent zu. Dennoch bleibt der Anteil derer, die regelmäßig ihre Freizeit mit ihren Eltern oder Geschwistern verbringen, mit mehr als 50 Prozent hoch. Noch höher allerdings ist in der gesamten Altersphase der 13- bis 17-Jährigen der Anteil derer, die sich häufig oder zumindest ein- bis zweimal pro Woche mit Freunden treffen: nämlich über 90 Prozent.

Der Rückzug aus gemeinsamen Unternehmungen mit der Familie verläuft anscheinend geschlechtsspezifisch: 13- bis 15-jährige Mädchen und Jungen geben noch zu gleichen Anteilen an, sich regelmäßig an Freizeitaktivitäten mit der Familie zu beteiligen. Von den 16- bis 17-jährigen Jungen hingegen unternimmt nur noch etwa die Hälfte regelmäßig etwas mit ihren Eltern oder Geschwistern - und damit deutlich weniger als die gleichaltrigen Mädchen (etwa 59 Prozent, siehe Abbildung).


Brave Mädchen, coole Jungs?

Der auffällige Unterschied zwischen den Geschlechtern bei den 16- bis 17-Jährigen könnte auf eine anhaltend engere emotionale Bindung zwischen Töchtern und ihren Eltern hindeuten. Dabei bleibt allerdings ungeklärt, ob die Mädchen sich stärker gebunden fühlen, oder ob die Eltern ihre heranwachsenden Töchter schlechter loslassen können, sie also häufiger als ihre gleichaltrigen Söhne bei Unternehmungen in ihrer Nähe oder vielleicht sogar unter ihrer Kontrolle wissen wollen. Möglich ist auch, dass die Töchter häufiger als die Söhne bereit sind, entsprechenden Erwartungen ihrer Eltern entgegenzukommen, ähnlich wie sie auch häufiger als die Jungen bereit sind, Hausarbeit zu übernehmen (Cornelißen/Blanke 2004).

Ob die Töchter von sich aus länger mehr Gemeinsamkeit mit den Eltern wollen, bleibt offen. Schwierig einzuschätzen ist letztlich auch, ob sich die Jungen wirklich seltener an Unternehmungen mit der Familie beteiligen oder ob sie mit ihren Antworten im Survey lediglich ihrer männlichen Identität Ausdruck verleihen und deshalb eine stärkere Ablösung von den Eltern als Zeichen ihrer Coolness präsentieren. Ein Hinweis darauf zeigt sich in der Milieustudie »Wie ticken Jugendliche « des Heidelberger Sinus-Instituts. 11 Prozent der Jugendlichen in Deutschland gehören demnach dem konsum-materialistischen Milieu an. Sie sind der Ansicht, dass Mädchen »brav« sein sollten, Jungs dagegen »cool und stark« (Wippermann/Calmbach 2008).


Zeit für Gespräche

Wie wichtig sind Eltern für Jugendliche? Mädchen schätzen ihre Eltern nicht wichtiger ein als Jungen. Töchter finden ihre Mütter ebenso wichtig wie Söhne, ihre Väter sind den Mädchen sogar etwas weniger wichtig als den Jungen. Dies könnte gegen die These einer stärkeren Bindung der Mädchen an ihre Eltern sprechen. Wenn Jugendliche nach der Wichtigkeit von nahestehenden Personen wie Mutter oder Vater gefragt werden, antworten sie zwischen 13 und 17 Jahren erstaunlich einheitlich: Auf einer Skala von eins (»sehr unwichtig«) bis sechs (»sehr wichtig«) bewerten beide Geschlechter die Wichtigkeit der Mutter mit durchschnittlich 5,7 Punkten sehr hoch. Die Bedeutung der Mutter sinkt bei Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren kaum: im Mittel gerade einmal von 5,8 auf 5,7 Punkte. Die Wichtigkeit der Väter sinkt etwas stärker von 5,7 auf 5,4 Punkte.

Im AID:A-Survey werden die Jugendlichen auch nach ihrer Beziehung zu Vater und Mutter gefragt. Interessant ist dabei, dass mit dem Alter der Jugendlichen die Gespräche mit den Müttern zunehmen. 42,3 Prozent der 13- bis 15-jährigen Jugendlichen sprechen sehr häufig über Erlebtes mit ihrer Mutter, für 16- bis 17-Jährige gilt dies mit 49,7 Prozent noch häufiger. Allerdings zeigen sich auch hier geschlechtsspezifische Unterschiede: Mädchen geben viel häufiger als Jungen an (50,9 Prozent gegenüber 39,5 Prozent), »sehr oft« mit ihrer Mutter über ihre Erlebnisse zu reden.

Mit dem Vater sprechen Jungen und Mädchen in etwa gleich häufig. Generell ist der Vater seltener Gesprächspartner: Nur 18 Prozent der Jugendlichen beider Altersgruppen sprechen mit ihrem Vater »sehr oft« über das, was sie erlebt haben. Die Mutter scheint als Zuhörerin und Beraterin von Mädchen und Jungen mit deren zunehmenden Alter dagegen noch wichtiger zu werden. Dies könnte damit erklärt werden, dass Jugendliche, obwohl sie sich langsam von der Familie abgrenzen, immer noch fixe Vertrauenspersonen brauchen, die sie mit Rat und Tat unterstützen. Jugendliche zwischen 16 und 17 Jahren stehen oftmals vor wichtigen Entscheidungen (zum Beispiel der Berufswahl) und greifen vor allem deshalb vermehrt auf Gesprächspartner innerhalb der Familie zurück, besonders auf die Mutter.


Wer wird früher selbstständig, wer später?

Die Bildung der Eltern spielt für gemeinsame Familienaktivitäten eine untergeordnete Rolle: Zwar antworten 13- bis 15-Jährige, deren Eltern eine niedrige Bildung haben, etwas seltener, dass sie viel mit ihrer Familie unternehmen, als 13- bis 15-jährige Jugendliche aus einem Elternhaus mit hoher Bildung (56 Prozent gegenüber 62 Prozent). In der älteren Altersgruppe verhält es sich aber genau umgekehrt: 16- bis 17-jährige Jugendliche mit niedriger gebildeten Eltern geben geringfügig häufiger gemeinsame Familienaktivitäten an (54 Prozent) als die Vergleichsgruppe mit höher gebildeten Eltern (52 Prozent). Es wäre voreilig, daraus zu schließen, dass höher gebildete Eltern ihren Kindern früher Selbstständigkeit ermöglichen oder niedriger gebildete Eltern weniger mit ihren Kindern unternehmen. In multivariaten Verfahren, bei denen mehrere Variablen gleichzeitig in die Analyse einbezogen werden, zeigt sich kein bedeutender Einfluss der Bildung der Eltern auf die Häufigkeit gemeinsamer Familienaktivitäten. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, wer von den Eltern arbeitet oder ob die Kinder bei einem alleinerziehenden Elternteil oder in einer Paarfamilie aufwachsen.

Auf gemeinsame Unternehmungen in der Familie wirken sich andere Faktoren positiv aus: beispielsweise die von den Jugendlichen geäußerte Bereitschaft, gerne Verantwortung zu übernehmen sowie eigene Entscheidungen unabhängig von anderen zu treffen und durchzusetzen. Jugendliche, die sich als selbstständiger einschätzen, unternehmen mehr mit den Eltern. Dieser Befund muss sicher noch weiter untersucht werden. Die höhere Selbstständigkeit von Jugendlichen könnte Folge einer guten Beziehung zwischen Eltern und Jugendlichen sein, sodass gemeinsame Unternehmungen von den Jugendlichen als bereichernd gesehen werden. Denn die Ergebnisse zeigen außerdem: Schätzen Kinder ihre Eltern als sehr wichtig ein, unternehmen sie auch mehr mit ihnen.


In gegenseitigem Einvernehmen

Die AID:A-Daten zeigen, dass gemeinsame Unternehmungen mit zunehmendem Alter der Jugendlichen systematisch abnehmen. Allerdings verläuft dieser Trend geschlechtsspezifisch: 16- bis 17-jährige Jungen unternehmen seltener etwas mit ihrer Familie als gleichaltrige Mädchen. Dies könnte zwar darauf hindeuten, dass Mädchen stärker emotional an die Eltern gebunden sind, doch tatsächlich messen sie ihnen keine höhere Bedeutung in ihrem Leben zu als Jungen. Dass sie ihre Freizeit öfter mit der Familie verbringen, könnte daran liegen, dass Eltern ihre jugendlichen Töchter schlechter loslassen können oder Töchter eher bereit sind, die Erwartungshaltung ihrer Eltern zu erfüllen. Generell schätzen die Jugendlichen ihre Eltern als sehr bedeutsam ein, ihre Wichtigkeit für die Jugendlichen sinkt mit deren Alter nur leicht. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Eltern für 17-Jährige nicht mehr die gleiche emotionale Bedeutung haben wie für 13-Jährige. Allerdings werden vor allem Mütter als Ansprechpartnerin und Beraterin mit zunehmendem Alter der Jugendlichen immer wichtiger. Dies zeigen auch die Ergebnisse der beiden Sozialwissenschaftlerinnen Martina Gille und Anne Berngruber (2012). Sie verweisen darauf, dass auch über 18-jährige Jugendliche die Eltern als enge Vertraute sehen und deren Wichtigkeit erst nach dem 20. Lebensjahr allmählich abnimmt.

Verselbstständigung findet häufig im wechselseitigen Einvernehmen von Eltern und Kindern und in kleinen Schritten statt. Der beobachtbare langsame Rückzug aus der gemeinsamen Freizeitgestaltung der Familie stellt dabei einen der ersten Schritte dar. Viele andere Formen der Verselbstständigung, etwa das eigenständige Wohnen und die Finanzierung des eigenen Lebensunterhaltes, setzen erst jenseits des 17. Lebensjahres ein (Hammes 2011). Für viele Jugendliche bleiben die Eltern wichtige Gesprächspartner, auch wenn sie zunehmend weniger Zeit mit ihnen verbringen.


DIE AUTORINNEN

Christine Entleitner ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Familie und Familienpolitik. Sie arbeitet an familiensoziologischen Fragestellungen mit dem DJI-Survey AID:A.
Kontakt: entleitner@dji.de

PD Dr. Waltraud Cornelißen ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Familie und Familienpolitik. Sie arbeitet an den Themen gebieten »Lebensentwürfe junger Frauen und Männer« und »Karriereverläufe von Frauen«.
Kontakt: cornelissen@dji.de


LITERATUR

BERNGRUBER, ANNE / GILLE, MARTINA (2012): Wege in die Selbstständigkeit im Geschlechtervergleich. DJI-Thema 2012/13 Im Internet verfügbar unter
www.dji.de/cgi-bin/projekte/output.php?projekt=1140 (Zugriff: 20.06.2012)

CORNELISSEN, WALTRAUD / BLANKE, KAREN (2004): Zeitverwendung von Mädchen und Jungen. In: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Alltag in Deutschland. Analysen zur Zeitverwendung. Forum Band 43, S. 160-174

HAMMES, WINFRIED (2011): Haushalte und Lebensformen der Bevölkerung. Ergebnisse des Mikrozensus 2010. In: Wirtschaft und Statistik. Statistisches Bundesamt. Wiesbaden

WIPPERMANN, CARSTEN / CALMBACH, MARC (2008): Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27, herausgegeben vom Bund der katholischen Jugend & Misereor

DJI Impulse 3/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2012 - Nr. 99, S. 15-17
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2013