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MELDUNG/1762: Risikoscheu ins Abseits gedriftet (SB)



Adonis Stevenson hat sich Tommy Karpency ausgesucht

Adonis Stevenson verteidigt den WBC-Titel im Halbschwergewicht eigenen Angaben zufolge am 11. September in Toronto freiwillig gegen Tommy Karpency. Während für den 38jährigen Weltmeister 26 gewonnene Kämpfe und ein verlorener Auftritt zu Buche stehen, hat der an Nummer neun der WBC-Rangliste geführte Herausforderer 25 Siege, vier Niederlagen sowie ein Unentschieden vorzuweisen. Bei seinem letzten Auftritt hatte der Champion im April Sakio Bika, der früher WBC-Weltmeister im Supermittelgewicht gewesen war, einstimmig nach Punkten besiegt.

Sollte es zu dem angekündigten Kampf gegen Karpency kommen, ist Stevenson harsche Kritik gewiß. Wenngleich der Kanadier noch immer die Vorherrschaft im Halbschwergewicht für sich reklamiert, bleibt er den Beweis für diesen Anspruch seit geraumer Zeit schuldig. Statt sich mit den gefährlichsten Konkurrenten zu messen, zieht er mittelmäßige Gegner vor. Daher verfestigt sich der Eindruck, er habe seit seinem Titelgewinn im Jahr 2013, als er den damals noch hoch gehandelten Chad Dawson bereits in der ersten Runde auf die Bretter schickte, nur noch im Sinn gehabt, den Gürtel durch eine Auswahl risikoarmer Kontrahenten zu behalten.

Wenngleich Tavoris Cloud, Tony Bellew, Andrzej Fonfara, Dimitri Suchotski und zuletzt Sakio Bika keine ausgesprochen schwachen Herausforderer waren, stünden doch mit Sergej Kowaljow, Artur Beterbijew, Bernard Hopkins, Eleider Alvarez, Sullivan Barrera und Yunieski Gonzalez diverse stärker einzuschätzende Rivalen bereit, denen Stevenson aus dem Weg gegangen ist.

Tommy Karpency ist ein weiterer enttäuschender Kandidat in der Sammlung des Kanadiers, da der Herausforderer in seiner Karriere wenig geleistet hat, was diese Titelchance rechtfertigen würde. Im Jahr 2010 wurde er von Karo Murat und 2012 von dem damaligen WBO-Weltmeister Nathan Cleverly sowie Andrzej Fonfara besiegt. Zwar setzte er sich im Oktober 2014 knapp nach Punkten gegen Chad Dawson durch, der sich jedoch in der vierten Runde an der Hand verletzt hatte und dennoch den restlichen Kampf einhändig boxend fast gewonnen hätte. Seither hat Karpency nur noch den weithin unbekannten Rayco Saunders besiegt.

Adonis Stevenson hätte durchaus das Potential, ebenso hochklassige wie lukrative Kämpfe zu bestreiten, könnten er und sein Berater Al Haymon sich dazu durchringen, gegen Sergej Kowaljow anzutreten. Der Russe ist Superchampion der WBA sowie Weltmeister der IBF und WBO, was ihn nicht nur auf dem Papier zum besten Akteur seiner Gewichtsklasse macht. Kowaljow hat Bernard Hopkins eindrucksvoll besiegt und auch sonst keinen gefährlichen Gegner gescheut, was zahllose Signale an die Adresse Stevensons einschloß, die Führungsposition im Halbschwergewicht ein für allemal zu klären.

Offenbar denkt Al Haymon nicht im Traum daran, Stevenson einem Risiko wie Kowaljow auszusetzen, sondern macht weiter das, was er am besten kann. Er steuert seinen Boxer weit an allen Klippen und Untiefen vorbei, womit er dafür sorgt, daß der Kanadier möglichst lange Weltmeister bleibt und zum beiderseitigen Nutzen Geld verdient. Daher wird man Stevenson wohl auch in Zukunft gegen mittelmäßige Herausforderer gewinnen sehen. [1]

Viel interessanter wäre natürlich ein Kampf gegen seinen Landsmann Jean Pascal, der sich gerade in einem hochklassigen Gefecht gegen Yunieski Gonzalez durchgesetzt hat. Dabei machte auch der Kubaner eine so gute Figur, daß man ihn trotz der Niederlage als möglichen Gegner Kowaljows ins Gespräch brachte. Pascal hat gegen den Russen verloren und soll im Frühjahr 2016 Gelegenheit zur Revanche bekommen. Der aufstrebende Artur Beterbijew schickt seine Gegner reihenweise zu Boden und nimmt seinen prominenteren Landsmann ins Visier, den er zu Amateurzeiten besiegt hat. Da sich Sergej Kowaljow jedoch seither erheblich verbessert hat, läßt die bloße Aussicht auf ein künftiges Duell der beiden schlaggewaltigen Russen Fans und Experten schon jetzt das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Bezeichnenderweise kreisen alle Spekulationen und Diskussionen um Sergej Kowaljow und dessen gefährlichste Rivalen, nicht jedoch um Adonis Stevenson, der sich diesbezüglich ins sichere und relativ einträgliche, aber langweilige Abseits manövriert hat. Der Kanadier hatte den Russen einst als irrelevanten Aufsteiger abgetan, der sich seine Sporen erst noch verdienen müsse. Als Kowaljow nicht zu bremsen war, Nathan Cleverly in Wales leichterdings den WBO-Titel abnahm, und alle Welt das Gipfeltreffen mit Stevenson forderte, wechselte dieser von HBO zu Showtime, worauf er aufgrund des erbitterten Konkurrenzkampfs der Sender plötzlich unerreichbar für den Russen war.

Das mutmaßliche Kalkül des Kanadiers, dank dieses Schachzugs zugleich einen lukrativen Kampf gegen Bernard Hopkins zu bekommen, erfüllte sich nicht. Dieser trat statt dessen gegen Sergej Kowaljow an, der den mit 49 Jahren ältesten Weltmeister in der Geschichte des Boxsports besiegte und damit seinem WBO-Gürtel die Trophäen der WBA und IBF hinzufügte. Heute ist der Russe in aller Munde und gilt in seiner Gewichtsregion fast schon als unbesiegbar, während Stevensons Name automatisch mit ausgesucht schwachen Gegnern assoziiert wird.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/07/adonis-stevenson-im-fighting-tommy-karpency-on-september-11th-in-toronto/#more-196853

30. Juli 2015


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