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MELDUNG/2325: Mittelgewicht - Schuß vor den Bug ... (SB)



Jermall Charlo wäre fast über einen Außenseiter gestolpert

Als wolle er aus der Not eine Tugend machen, glaubt Jermall Charlo, daß Saul "Canelo" Alvarez und Gennadi Golowkin nach seinem letzten Auftritt eher geneigt seien, sich endlich mit ihm zu messen. Der in 28 Kämpfen ungeschlagene Interimsweltmeister des WBC im Mittelgewicht hatte jüngst unverhoffte Probleme, den Außenseiter Matt Korobow in die Schranken zu weisen. Bei ihrem Kampf im Barclays Center in Brooklyn erwies sich der 35jährige Russe, der kurzfristig als Ersatz für den ausgefallenen Willie Monroe nachnominiert worden war, als ebenso entschlossener wie unbequemer Kontrahent. Wenngleich der Punktsieg des Favoriten mit 116:112, 119:108 und 116:112 recht deutlich ausfiel, fehlte es nicht an kritischen Stimmen, die den Verlauf sehr viel enger und ausgeglichener gesehen hatten. Die Annahme, der Titelverteidiger werde mit dem als Notnagel verpflichteten Olympiateilnehmer von 2008 leichtes Spiel haben, stellte sich als Fehleinschätzung heraus. [1]

Jermall Charlo sah jedenfalls hinterher nicht wie ein Sieger aus. Von Verletzungen an der Augenpartie und Schwellungen beider Gesichtshälften gezeichnet, gab er das Bild eines Boxers ab, der gerade Prügel bezogen hatte. Wie der Titelverteidiger einräumte, sei Korobow ein starker und widerspenstiger Gegner gewesen. Der Russe habe ihm jedoch nichts anhaben können, da er selber ein Kämpfer sei und viel einstecken könne. Charlo war Runde um Runde in die Konter des Rechtsauslegers gelaufen, so daß er diesen Auftritt definitiv nicht als Spaziergang abhaken konnte. Hätte der Herausforderer Kombinationen im Stile "Canelos" geschlagen oder eine ähnliche Wucht wie Golowkin entfaltet, wäre Charlo wohl auf den Brettern gelandet. Sogleich machte denn auch die Einschätzung die Runde, daß er gegen den Mexikaner oder den Kasachen chancenlos wäre.

Die beiden glaubten jetzt wohl, daß er leicht zu besiegen sei, und wären bestimmt für einen Kampf gegen ihn zu haben, versuchte Charlo, die mißliche Situation zu seinen Gunsten auszulegen. Dabei habe er zwölf Runden gegen Korobow gekämpft, ohne auch nur das Geringste über ihn zu wissen. Er habe sich nicht einmal die Mühe gemacht, zuvor Videomaterial über den Russen zu studieren, sondern sei einfach in den Ring gestiegen und habe gekämpft. Der Bursche sei jedoch höllisch zäh gewesen gewesen und habe ihm einiges abverlangt. Sein Sieg habe indessen nie in Frage gestanden, und so kehre er erhobenen Hauptes mit seinem Gürtel nach Houston zurück.

Daß Charlo nicht etwa reumütig beichtete, er habe sich keinen Film über den kommenden Gegner angesehen, sondern dies voller Stolz berichtete, als werte es seine durchwachsene Leistung auf, könnte man ihm natürlich auch als Faulheit oder Leichtfertigkeit auslegen. Jedenfalls läßt es nicht gerade auf die disziplinierteste Arbeitseinstellung schließen, wenn er es unterläßt, einen nachnominierten Kontrahenten in den wenigen verbliebenen Tagen um so konzentrierter unter die Lupe zu nehmen. Ganz davon abgesehen, daß es die Aufgabe seines Teams und Trainers gewesen wäre, ihn möglichst gründlich vorzubereiten, kann es sich ein Boxer an der Schwelle zur Weltmeisterschaft eigentlich nicht leisten, ein derart unnötiges Risiko einzugehen. Es fehlte nicht viel, daß ihn der Russe als Überraschungssieger weit in seiner Karriere zurückgeworfen hätte.

Jermall Charlo sah an diesem Abend in Brooklyn nicht besser als sein Zwillingsbruder Jermell aus, der unmittelbar zuvor den WBC-Titel im Halbmittelgewicht an den Außenseiter Tony Harrison verloren hatte. Auch dieses Ergebnis war umstritten, aber durchaus eine vertretbare Entscheidung. Möglicherweise konnte Jermall Charlo schlichtweg von Glück reden, daß er nicht vor denselben Punktrichtern auftrat wie sein Bruder. Der Nimbus der bis dahin ungeschlagenen Charlos, niemand könne ihnen das Wasser reichen, da sie brachial unter ihren Rivalen aufräumten, ist dahin. Die Lektion, daß ein versierter, entschlossener und taktisch gut eingestellter Außenseiter ihre Stärke durchkreuzen kann, sollte als Schuß vor den Bug die Einsicht befördern, daß es auch für sie noch immer viel zu lernen gibt.

Durch den Sieg in einem vom WBC angeordneten Ausscheidungskampf war Jermall Charlo 2017 Pflichtherausforderer bei diesem Verband geworden. Als er dann im April 2018 gegen Hugo Centeno um den Interimstitel kämpfte und gewann, war dies zwar keine weitere offizielle Qualifikation, hätte ihn aber im Falle einer Niederlage seinen Status gekostet, bevorzugt gegen den Weltmeister antreten zu dürfen. Als "Canelo" schließlich Golowkin die Gürtel abgejagt hatte, stand eigentlich zu erwarten, daß Charlo endlich seine Chance bekommen müßte. Das war jedoch nicht der Fall, da der Verband WBC aus dubiosen Gründen einen Ausscheidungskampf zwischen ihm und Golowkin forderte, dessen Sieger eine Herausforderung des Mexikaners zustehen soll. Im Grunde genommen muß sich Jermall Charlo also absurderweise zum dritten Mal bewähren, um als Pflichtherausforderer legitimiert zu werden.

Wenngleich Charlo wohl nichts dagegen einzuwenden hätte, Golowkin auf diese Weise vor die Fäuste zu bekommen, macht er sich etwas vor, wenn er meint, mit seinem nicht gerade berauschenden Auftritt gegen Koborow das Interesse des Kasachen oder des Mexikaners geweckt zu haben. Gennadi Golowkin strebt einen dritten Kampf gegen "Canelo" an, aber nicht den Umweg über Jermall Charlo. Das Kalkül des WBC, dank dieses Manövers Duelle mit namhafter Beteiligung zu inszenieren, dürfte bei dem Kasachen eher die Abneigung verstärken. Da er der Auffassung ist, zweimal um den verdienten Sieg über Saul Alvarez getrogen worden zu sein, würde er die Urteile der Punktrichter geradezu bestätigen, ließe er sich nun auf eine Qualifikation ein. Der Verband bürstet ihn also gegen den Strich, wenn er ihm dieses Verfahren aufzwingen will. Das sieht die Führung des WBC offenbar anders, der in erster Linie an der Protektion "Canelos" gelegen zu sein scheint.

Was den Mexikaner betrifft, ist ein Kampf gegen Charlo schon deshalb wenig wahrscheinlich, weil die beiden mit unterschiedlichen Sendern zusammenarbeiten. Während "Canelo" einen hochdotierten Vertrag mit dem Streamingdienst DAZN abgeschlossen hat, ist Charlo im Rahmen des Formats Premier Boxing Champions bei Fox und Showtime zu sehen. Zudem kann der Texaner noch nicht mit einer großen Fangemeinde aufwarten, so daß er allein schon aus geschäftlichen Gründen vorerst nicht sonderlich attraktiv für Alvarez wäre. Natürlich könnte der Verband WBC eine Titelverteidigung des Weltmeisters gegen diesen Herausforderer anordnen, was jedoch absehbar dazu führen würde, daß "Canelo" den Gürtel zurückgibt, wie er das 2016 schon einmal getan hat. Damals war Gennadi Golowkin unter anderem auch Pflichtherausforderer beim WBC, doch Saul Alvarez legte den Titel nieder, um ihn nicht gegen den Kasachen verteidigen zu müssen.

Vermutlich möchte der Verband eine Wiederholung dieses unerfreulichen Szenarios vermeiden und hat den Mexikaner nicht zuletzt deshalb von einer Titelverteidigung gegen den Pflichtherausforderer entlastet, indem die Qualifikation zwischen Charlo und Golowkin verfügt wurde. Da der Kasache den Köder jedoch höchstwahrscheinlich nicht schlucken wird, muß die Verbandsführung wohl einen anderen Kandidaten aus den Top 15 der WBC-Rangliste ausfindig machen, der bereit ist, sich mit Jermall Charlo zu messen. Dieser ist zwar der Auffassung, daß ein Kampf gegen Golowkin auf jeden Fall kommen werde, doch weisen dessen Pläne offenbar in eine ganz andere Richtung. Solange er keinen dritten Kampf gegen "Canelo" bekommt, will sich der Kasache wenigstens wieder einen Titel holen. Sein Trainer Abel Sanchez hat kürzlich Rob Brant, den regulären Weltmeister der WBA, als möglichen Gegner im ersten Quartal 2019 ins Gespräch gebracht. Dabei stünde zwar nur ein nachrangiger Titel auf dem Spiel, weil bei diesem Verband der Superchampion, also Saul "Canelo" Alvarez, das Rudel anführt. Doch nach dem schweren Gang mit dem Mexikaner käme Brant dem Kasachen gerade recht, um womöglich wieder einmal vorzeitig zu gewinnen und die Gürtelsammlung neu aufzubauen. Andererseits würde Eddie Hearn gerne einen seiner beiden Weltmeister, Daniel Jacobs (IBF) oder Demetrius Andrade (WBO), gegen Golowkin antreten lassen, so daß sich Jermall Charlo in jedem Fall recht weit hinten anstellen muß.


Fußnote:

[1] www.boxingnews24.com/2018/12/jermall-charlo-now-canelo-and-ggg-are-going-to-want-to-fight-me/

31. Dezember 2018


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