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KOMMENTAR/068: Gesine Tettenborn liefert Nachwuchssportler ans Messer der Verdachtsgesellschaft (SB)



Fünf Jahre, nachdem die ehemalige DDR-Sprinterin Ines Geipel den Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) um Streichung ihres Namens aus der Weltrekordliste bat, hat sich mit Gesine Tettenborn kürzlich eine weitere DDR-Hochleistungssportlerin zu diesem Schritt entschlossen. Tettenborn war 1984 unter ihrem Mädchennamen Gesine Walther einen Weltrekord mit der 4 x 400-Meter-Staffel gelaufen (3:15,92), in der auch Dagmar Rübsam und Sabine Busch, die bis heute den Deutschen Rekord über 400 Meter Hürden hält, sowie Marita Koch, die Weltrekordinhaberin über 400 Meter, standen. Gesine Tettenborn hat ihre mit Hilfe von Dopingmitteln erlaufene Medaille zurückgegeben, der DLV hat unterdessen ihren Namen aus seiner Rekordliste gestrichen.

Die 47jährige Zeugin Jehovas, die in einem Deutschlandfunk-Interview erklärte, sie habe irgendwann gemerkt, daß sie "noch eine Riesendreckecke" bei sich gehabt habe, die sie für sich selbst bereinigen wollte, und die nach ihrem Entschluß nun ein "besseres Gewissen" habe, wird keineswegs nur von selbstreflektiver Innenschau und christlicher Gewissensschulung geleitet. "Mir ist bewusst geworden, dass ich für immer dort stehen bleibe, wenn ich nicht aktiv werde", sagte Gesine Tettenborn dem Nachrichtenmagazin Spiegel (online, 23.01.10), "irgendwie wäre ich also mitverantwortlich dafür, wenn junge Athletinnen dopen, weil sie motiviert sind, diesen Rekord zu brechen". Zugleich kritisierte sie die Haltung vieler Athletinnen und Trainer aus der ehemaligen DDR. Die würden die Einnahme von Dopingmitteln bis heute abstreiten oder verharmlosen.

Ihr Wunsch, Nachwuchssportlerinnen vor der Einnahme von gesundheitsschädlichen Substanzen zu schützen, ist nachvollziehbar, dennoch scheint Tettenborn bei ihrem persönlichen "Reifeprozeß", von dem immer die Rede ist, völlig entgangen zu sein, welch fatale Entwicklung der Nachwende-Leistungssport genommen hat, der unter dem Label "sauber" einen repressiven Anti-Doping-Kampf führt, der alles und jedes unter Verdacht setzt, um maximale Verfügungsgewalt über den unter Funktionszwang stehenden Menschen, dessen Körperlichkeit zunehmend unter die Kuratel fremder Instanzen gestellt wird, zu erwirtschaften. Tatsächlich hat Gesine Tettenborn mit ihrer Entscheidung keineswegs, wie von den Medien behauptet, Nachwuchssportler in ihrem dem Leistungssport sicherlich systemimmanenten Rekordstreben geschützt, sondern sie lediglich einer qualifizierten Form des Sozialterrors ausgesetzt. Kein Leichtathlet wird dadurch, daß er oder sie nun weiß, daß ein bestimmter DDR-Rekord unter Einsatz von Doping erzielt wurde, mit angezogener Handbremse laufen. Im Gegenteil, wenn überhaupt, dann dürfte die Motivation gerade darin bestehen, die inkriminierten Fabelrekorde auch ohne anabole Steroide zu knacken. Und selbst wenn sie nicht unterboten würden, so ist jetzt schon absehbar, daß alle Spitzenzeiten, die den DDR-Altrekorden nahekommen, unter Doping-Verdacht geraten. Mithin läuft die öffentliche Selbstbezichtigung von Gesine Tettenborn zur Beruhigung des eigenen Gewissens auf eine Generalbezichtigung zu Lasten aller hinaus. Bezeichnend für den Verdachtsjournalismus heutiger Prägung, der mit den politischen und ideologischen Erfordernissen der autoritären Überwachungsgesellschaft konform geht und im Sport permanente Kontrollhörigkeit einfordert, ist, daß er diese Seite der Medaille in der Regel verschweigt. Statt dessen wird der Eindruck erzeugt, als könnte sich die möglicherweise als "Nestbeschmutzerin" verunglimpfte Gesine Tettenborn vor persönlichen Anfeindungen aus dem Lager Ehemaliger gar nicht retten und bedürfte deshalb eines besonderen Schutzes durch die Sportpolitik. Einer Sportpolitik im übrigen, die das Verhalten Tettenborns ausnahmslos als "mutigen Schritt", dem "höchster Respekt" gebühre, über den grünen Klee lobt und ausdrücklich zur Nachahmung empfiehlt. Hierin liegt auch der eigentliche Zweck der Übung: Ehemalige DDR-Athleten sollen sich auf dem Freifahrtschein des in sich widersprüchlichen Doping-Legalismus, der davon ablenkt, daß im Hochleistungssport auch ohne Doping alle möglichen Formen der Körperverletzung betrieben werden, ein sauberes Gewissen besorgen, indem sie die eigenen wie auch die sportlichen Leistungen der Kolleginnen und Kollegen als "dopingverseucht" oder "vergiftet" brandmarken, um so das sozialistische Vermächtnis der DDR insgesamt zu dämonisieren. Schließlich sei man in der DDR "nicht zum Denken angehalten" worden, wie Gesine Tettenborn im DLF-Interview ausführte, "sondern das Ideal war ja der Jasager, der Abnicker, der zu nichts eine eigene Meinung hat". Wer schützt eigentlich die ehemaligen DDR-Bürger vor derart pauschalen Diffamierungen?

Spiegel-Redakteur Udo Ludwig, der die Story groß herausbrachte, erklärte in einem weiteren DLF-Interview, daß Gesine Tettenborn mit ihrem Entschluß natürlich auch gleichzeitig ihre ehemaligen Kameradinnen kritisiere, die sie indirekt auffordere, "tut das gleiche, sonst ist man auf dem gleichen Wege wie alle anderen, die das DDR-System nach wie vor verherrlichen".

Zweifellos sind auch in der DDR Rekorde mit Hilfe von illegalisierten Substanzen erzielt worden - oder wie es im Simpelbild eines Udo Ludwig heißt, "nur mit der Chemie zustande gekommen" (was ist nicht "Chemie" im pharmakologisch unterstützten Hochleistungssport?) -, doch mit welchem Alibi hätten dann Weltklasseleistungen in der BRD sowie in anderen Ländern Bestand? Ist es nicht merkwürdig, daß die gleichen Hardliner, Mitläufer und Wendehälse, die sich mit Feuereifer der Verteufelung des "DDR-Systems" widmen, eine ähnliche Kampagne weder in den alten Bundesländern noch in den sportlichen Topnationen vom Zaun brechen? Und warum die Gewissens-Erleichterungs-Kampagne auf den Sport beschränken - sollten sich nicht auch gleich alle Bundesbürger, die sich in der Wettbewerbsgesellschaft einmal auf unredliche Weise einen Vorteil verschafft haben, ihre kleinen und großen "Dreckecken" bei der Polizei anzeigen - möglichst auch die der Freunde, Bekannten und Nachbarn? Während es Abermillionen von Menschen im kapitalistischen Verwertungsregime gelingt, trotz der Systemwidersprüche reinen oder geschwärzten Gewissens den Mitmenschen profitabel auszustechen, um das eigene Überleben zu sichern, wird gegenüber ehemaligen DDR-Athleten so getan, als hätten sie Erinnerungs- oder Identitätsprobleme und würden unter psycho-sozialen Verdrängungshandlungen leiden. Nämliche Probleme muß man wohl eher bei Journalisten verorten, die dem politischen Mainstream folgend alles Üble in der DDR verorten. Selbst Olympiasiegerin Marita Koch, die sich bislang standhaft weigert, Asche auf ihr Haupt zu streuen und schon vor einigen Jahren ihren Anwalt Peter-Michael Diestel beauftragte, dem DLV eine Klagedrohung für den Fall der Rekordaberkennung zu übersenden, gab vergangenes Jahr in der Berliner Morgenpost zu: "Ich hatte eine Zeit, da habe ich gedacht: Hätte ich bloß diesen blöden Weltrekord nicht aufgestellt. Dann hätte ich keine Angriffsfläche für Journalisten abgegeben."

Man kann Tettenborns Staffelkolleginnen Dagmar Rübsam, Sabine Busch und Marita Koch nur wünschen, daß sie sich dem sozialen und medial angeheizten Konformitätsdruck nicht beugen und ihre Rekorde und Medaillen zur Disposition der DDR-Hasser stellen.

Die neue Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, Dagmar Freitag (SPD), hat unterdessen dem Verhalten von Gesine Tettenborn im DLF größtes Lob gezollt: "Wir als Gesellschaft sollten deutlich machen, daß der Respekt für diesen Schritt viel mehr Wert ist als eine Leistung, die unter Doping erzielt worden ist." Dieser neuen gesellschaftlichen Stromlinienform ist der Mut aller ehemaligen DDR-Sportlerinnen und -sportler entgegenzuhalten, zu den Widersprüchen des Hochleistungssports zu stehen, dem Doping als Systemzwang - wie könnte es anders sein - auch in Zeiten des totalitären Antidopingkampfes unverändert wesenseigen ist. Die politische und staatliche Instrumentalisierung sportlicher Leistungen zur Stiftung nationaler Identitäten und internationaler Reputation wurde nicht von der DDR erfunden, sondern sie ist allgegenwärtig und in allen Gesellschaftsordnungen vorzufinden - siehe aktuell die schwarzrotgoldene Medaillenjagd bei den Olympischen Winterspielen in Vanvouver. Ebenso wie es in der DDR Systemzwang war, sich dem konspirativen Staatsplanthema Doping zu fügen, wollte man nicht Nachteile riskieren, so war es in der BRD Systemzwang, sich über konspirative Kanäle mit Dopingmitteln zu versorgen, um internationale Chancengleichheit zu wahren. Zu Recht weist Marita Koch, die niemals positiv getestet wurde, darauf hin, daß sie nicht glaube, "dass das Thema Doping verharmlost wird, weil ja schon seit 20 Jahren ständig darüber diskutiert wird". 20 Jahre einseitiges Kesseltreiben bleiben auch bei vielen DDR-Athleten nicht ohne Spuren. Um so mehr gilt jenen höchster Respekt, die sich trotz unbestreitbarer Fehler der Deutschen Demokratischen Republik nicht vor den Karren eines zutiefst eindimensionalen Geschichtsbildes westdeutscher Machart spannen lassen. Solange die Bundesrepublik nicht selbst vom kommerzialisierten Leistungswahn, der durch menschenverachtende Anti-Doping-Dekrete geschützt wird, herunterkommt und den Spruch, den Montags-Demonstranten in Leipzig einst auf ihr Plakat gemalt hatten, nämlich "Mehr Mittel für den Breitensport als für Olympiasieg und Weltrekord!", vollumfänglich umsetzt, solange gibt es keinen Grund, den im Dienste gegenteiliger Interessen stehenden Sportpolitikern und -funktionären der Nachwendezeit nach dem Mund zu reden.

16. Februar 2010