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KOMMENTAR/080: Gesellschaftliches Tabuthema - Dropout durch Anti-Doping (SB)



Zu den vielen Tabuthemen, die der staatsautoritäre, mit voraufklärerischen Fangzäunen umstellte Antidopingkampf mit sich bringt, gehört der sogenannte Dropout von Sportlerinnen und Sportlern, die dem organisierten Leistungs- und Spitzensport nicht nur wegen des Systemzwangs zum Doping, sondern auch und vor allem wegen des Systemzwangs zum Anti-Doping den Rücken kehren. Letzteres wird auch von den wissenschaftlich geschulten Dopingjägern tabuisiert, weil es das mit massiver Verfügungsgewalt durchgesetzte Präventions-, Aufklärungs- und Repressionsschema der vorherrschenden Dopingbekämpfung in Frage stellen würde, das nicht die Selbstbestimmung und Mündigkeit der Athleten zum Ausgangspunkt aller Überlegungen macht, sondern deren marktkonforme Funktionalität.

Als der Anti-Doping-Code der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) von außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung operierenden Sportrechtsexperten, Wissenschaftlern und Sportfunktionären entwickelt wurde, welcher die Athleten einem drakonischen Kontroll- und Sanktionsregime unterwirft, das man eher in diktatorischen, denn in offenen Gesellschaften vermuten würde, hatten die vor vollendete Tatsachen gestellten Sportler nur die Chance, unter den veränderten Bedingungen mitzumachen oder die eigene Karriere, in die sie viel Schweiß und Blut investiert hatten, wegzuwerfen. Trotz so mancher Unmutsäußerungen aus dem Kreise der Athletenschaft, die sich plötzlich unter Generalverdacht gesetzt, wie potentielle Verbrecher behandelt und zu Verdachts- und Versuchsobjekten von Medizin und Wissenschaft degradiert sah, entschied sich die überwiegende Zahl der Sportler für den vermeintlich leichteren Weg, nämlich das duldsame Weiter- und Mitmachen. Alles andere hätte sie auch in enorme Konflikte mit den Sachwaltern des repressiven Anti-Doping-Systems gestürzt.

Als es beispielsweise der als "Problemathlet" apostrophierte Diskusweltmeister Robert Harting im Vorfeld der Leichtathletik-WM in Berlin u.a. gewagt hatte, laut über die Aussichtslosigkeit des Antidopingkampfes nachzudenken ("Wo Geld ist, wird gedopt. Eigentlich ist es sinnlos, gegen diese Tatsache anzukämpfen. ... Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, Doping in irgendeiner Form zu erlauben."), sollte dem Sportsoldaten auf Anregung des damaligen Nicht-Kriegsministers Franz Josef Jung (CDU) ein "Medientraining" verpaßt werden. Die Kopfwäsche fand dann in der avisierten Form doch nicht statt, trotzdem verfehlte die Androhung offenbar ihre Wirkung nicht. Kürzlich forderte der 25jährige drastische Strafen für Dopingsünder: "Die einzige gerechte Lösung für die Athleten, die den Sport verschmutzen, ist eine lebenslange Sperre. Aber leider ist es so, dass Doping immer ein Thema bleiben wird. Das ist sehr schade."

Die "Verschmutzung" des vermeintlich "reinen" oder "natürlichen" Leistungssports wird im Antidoping-Mainstream ausschließlich auf seiten der Athleten verortet. Diese Schuld-Adressierung ist bereits hegemonial angelegt. Da sich jeder, der das Dogma vom "sauberen Sport" hinterfragt, verdächtig macht, insgeheim ein Doping befürwortender "Betrüger" zu sein, was wiederum Sonderbehandlungen seitens "intelligenter Kontrolleure" und in den Antidopingkampf eingebetteter Medienvertreter zur Folge haben kann, herrscht in weiten Teilen der Öffentlichkeit purer Meinungsopportunismus vor. Entsprechend kann man Athleten, welche die Praxis freiheitseinschränkender Meldeauflagen, internetgesteuerter Aufenthaltsüberwachung, stundenweiser Hausarreste, menschlich entwürdigender Kontrollprozeduren, medialer Hetze und sozialer Stigmatisierung kritisieren oder gar ihrer Angst vor unverschuldeten Positiv-Befunden, indiziengestützten Berufsverboten, sportrechtlichen Willkürurteilen oder verdachtshuberischen Hausdurchsuchungen Ausdruck verleihen, mit der Lupe suchen. Angst essen Seele auf, heißt es, das gilt insbesondere für Athleten, die ihr Heil lieber in der Anpassung und Gewöhnung suchen. Diese Problemlösungsstrategie entspricht in vielen Aspekten der Sozialisation von Leistungssportlern, für die die Duldung von Trainingsschmerz und Leistungsdruck "positiv" in Erfolg umschlägt. Disziplinierung und Strafe sind sogar essentielle Trainingsmethoden, die - zumindest bis zum Karriereknick aus gesundheitlichen Gründen - durchaus "produktive" Effekte zeitigen können.

Angstmachen ist auch das erklärte Geschäft der Dopingjäger. Der Fall der deutschen Eisschnelläuferin Claudia Pechstein dient keineswegs nur dazu, die wissenschaftliche und sportrechtliche Etablierung des indirekten Dopingnachweises auf Indizienbasis durchzusetzen. An ihr wird auch ein Exempel zur Zementierung der Ohnmacht von Sportlern statuiert. Trotz veritabler juristischer und wissenschaftlicher Unterstützung ist es der Vorzeigeathletin bislang nicht gelungen, gegen den globalgesellschaftlich aufgestellten, kommerzielle und politische Interessen verfolgenden Dopingpolizeiapparat einen Freispruch zu erwirken. Die mediale Aufmerksamkeit, den ihr erzwungener biochemischer "Striptease" auslöste, dient anderen Athleten auch als Abschreckung, sich in ähnlicher Weise zu exponieren und um den eigenen Unschuldsbeweis zu kämpfen.

Von den skandalerprobten Medien nahezu vollständig ignoriert wurde kürzlich im Schwimmsport ein "Dopingfall" zu den Akten gelegt, der ganz danach aussieht, als ob eine unschuldige Sportlerin lieber ihre Sperre akzeptiert, als sich einem Prozeßmarathon ungewissen Ausgangs auszusetzen, der nicht nur finanziell, sondern auch in sozialer Hinsicht für die Sportlerin und ihr Lebensumfeld (siehe das Bezichtigungskonstrukt des Hintermänner-Dopings, das staatsanwaltliche Ermittlungen und Hausdurchsuchungen auslösen kann) äußerst belastend gewesen wäre. So wurde Sonja Schöber vom Deutschen Schwimmverband (DSV) wegen "auffälliger Testosteron- bzw. Epi-Testosteronwerte" rückwirkend für ein Jahr gesperrt. Die Athletin kündigte an, die Sperre nicht anfechten zu wollen, obwohl sie selbst keine Erklärung für die auffälligen Testosteronwerte hat, die bei den Kurzbahnmeisterschaften im November 2009 festgestellt wurden. "Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich werde seit zwölf Jahren regelmäßig untersucht. Noch nie hat es bei mir Auffälligkeiten gegeben. Ich will mithelfen, dass die Sache schnell und sauber aufgeklärt wird", hatte Schöber unmittelbar nach dem Testergebnis noch erklärt.

Der Fall Pechstein hat sie möglicherweise eines besseren belehrt. Wenn es nicht einmal anerkannten Blutexperten der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) gelingt, sich gegen die Totschlagargumente der fanatisierten Hexenjäger, die auch ein repressives Weltbild zu verteidigen haben, durchzusetzen, wie sollte das einer Schwimmerin aus dem DSV-B-Kader gelingen, die weder einen Prominentenstatus noch ein entsprechendes Geldsäckl besitzt? Dabei spielt es keine Rolle, daß seit Jahren bekannt ist, wie unstet die hormonellen Ausschüttungen gerade bei Frauen sein können, so daß "auffällige" Testosteron/Epitestosteron-Quotienten möglich sind. Doch welche Athletin würde sich schon zutrauen, gegen die Windmühlen der Anti-Doping-Bürokratie anzurennen, wo doch die Causa Pechstein gezeigt hat, wie ungestraft anerkannte Dopingjäger ihre Witzchen über schwankende Blutwerte einer inkriminierten Sportlerin reißen können?

Daß Pechsteins Werte immer auffällig seien, wenn ein Wettkampf bevorsteht, wurde als eindeutiges Indiz für Doping interpretiert. "Völliger Blödsinn", erklärte kürzlich der Tübinger Prof. Hans Dierck Waller, der den DGHO-Experten, die sich für Pechstein verwandt hatten, den Rücken stärkte. "Das ist nicht nur möglich, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Ich konnte immer wieder an Patienten beobachten, dass sie bei einer hohen psychischen Belastung eine hämolytische Krise bekommen haben." Die erhöhten Retikulozyten-Werte während des Wettkampfs seien "kein Beweis für Drogenmissbrauch, sondern eine natürliche Folge einer Auflösung roter Blutzellen in einer Stresssituation" (www.swp.de, 27.4.10). Eine solche Lesart, nämlich daß soziale Faktoren die Wertespiegel von Athleten beinflussen können, darf es im strafwütigen Weltbild der WADA-akkreditierten Wissenschaftler nicht geben, weil dies ihr biochemisches Innenweltkonstrukt vom Körper, wonach Doping & "Knochenmark", aber nicht der Ärger mit dem Nachbarn für schwankende Blutwerte sorgen, über den Haufen werfen würde.

Dessen ungeachtet hat sich das Anti-Doping-System längst zu einem sozialen Terrorregime entwickelt. Die Medien sind in der Regel nicht in der Lage, profunde Kritik an den Verhältnissen zu üben, weil sie sich, als sie sich von den PR-Abteilungen der Sportverbände zu emanzipieren suchten, um so fester an die Rockzipfel der WADA/NADA/CAS-Funktionäre banden. Es ist für Sportjournalisten viel einfacher, die "Dopingsünde" zu skandalisieren und nach offenen Kontrollücken zu fahnden, als sich auf wissenschaftlicher Ebene mit den vermeintlichen "Dopingexperten" herumzuschlagen. So mahnte etwa der Deutschlandfunk kürzlich an, daß das Doping-Kontrollsystem des deutschen Fußballs löchrig sei: "Es gibt keine Trainingskontrollen bei den Herren Profis bei ihnen zu Hause oder in deren Freizeit." Rollt hier bereits die nächste Verschärfungswelle heran?

Die Verfolgungs-, Überwachungs- und Sanktionsmechanismen des organisierten Sports, die ein allgemeines Klima der Verdächtigung und Vorverurteilung begünstigen, dürften den Eltern von Leistungssport treibenden Kindern trotz aller politisch korrekten Anti-Doping-Aufklärungskampagnen nicht verborgen geblieben sein. Von daher liegt ein ständiger Dropout von talentierten Sportlern nahe, die ihre Zukunft nicht als "gläserne Athleten" sehen, über deren Häuptern das Damoklesschwert von Verdächtigung und Sünde schwebt. In einem solchen Klima kann auch der Rücktritt vom Leistungssport nur zum Dopingverdacht geraten. So erging es vergangene Woche der österreichischen Marathonläuferin Eva-Maria Gradwohl. Die 37jährige hatte sich im Urlaub in Kroatien befunden und wurde dort am Strand von Doping-Kontrolleuren "aufgespürt", wie sie auf ihrer Homepage (www.evagradwohl.at) berichtet. "Ich wollte nicht die geplante Bootsfahrt mit Freunden verschieben, ich wollte einfach meinen Urlaub, meine Freizeit genießen, aber das ist als Leistungssportler nicht möglich."

Nach Angaben österreichischer Medien, die seit der Einführung eines scharfen Anti-Doping-Gesetzes im Land besonders reißerische Geschichten fabrizieren, habe ihr Lebensgefährte Walter Mayer die Kontrolleure "beschimpft", worauf Eva-Maria Gradwohl die Doping-Kontrolle abgebrochen haben soll. Ein verweigerter Dopingtest kann eine Sperre nach sich ziehen. Dieser kam Gradwohl, die in den vergangenen Jahren wohl die am stärksten kontrollierte Sportlerin der Alpenrepublik war, niemals positiv getestet wurde und sich erst vor kurzem für die EM in Barcelona qualifiziert hatte, mit ihrem Rücktritt zuvor. Bereits seit längerer Zeit habe sie überlegt, ihre Karriere zu beenden. Den Kampf um Sponsoren und zu wenig Zeit für ihre Familie führt sie als Gründe an. Auch will sie ihre Reglementierung nicht länger ertragen: "Ich bin es leid, jeden Tag anzugeben, wo ich bin, was ich mache und eine Stunde meines Tages zu warten, ob die Dopingkontrolle kommt. Ich bin es leid." Sie stehe zu ihrer Entscheidung und möchte nun wieder dorthin zurück, von wo sie hergekommen sei: "Zum Hobbysport, zum Gesundheitssport."

Nach einem Bericht von www.nachrichten.at (4.5.10) zeigte der Linzer Marathon-Organisator Ewald Tröbinger Verständnis für ihren Entschluß: "Ich kenne die Hintergründe nicht genau, aber ich kann mir schon vorstellen, dass sie sich wie ein gehetztes Tier vorkommen musste."

Statt sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen des Anti-Doping-Regimes, das den sportlichen Leistungseliten von Kindesbeinen an die Preisgabe der Privat- und Intimsphäre aufzwingt, kritisch auseinanderzusetzen, verlegten sich die Medien in Deutschland auf den vermeintlich alles sagenden Umstand, daß Gradwohls Lebensgefährte Walter Mayer Anfang 2009 wegen des Verdachts der Weitergabe von Dopingmitteln fünf Wochen in Untersuchungshaft saß. Der ehemalige Trainer der österreichischen Skilangläufer war nach der sogenannten Blutbeutel-Affäre bei den Olympischen Winterspielen in Salt Lake City 2002 vom IOC zur persona non grata erklärt worden. Wegen "ihrer Nähe" zu Walter Mayer war auch Eva-Maria Gradwohl immer wieder unter Dopingverdacht geraten, heißt es in den Gazetten, und man beginnt sich zu fragen, wann der Medienstempel durch einen Stern ersetzt wird, den sich die Verdächtigen an die Brust zu heften haben.

10. Mai 2010