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KOMMENTAR/131: Kriegsbeute Libyen - Vorzeige-Funktionäre für Olympia 2012 gesucht (SB)



Als Mitte Juni, angestoßen vom Londoner Daily Telegraph, die Alarmmeldung die Runde machte, Millionen von Briten seien verärgert darüber, daß das Umfeld von Libyens Staatschef Muammar al Gaddafi Hunderte von Tickets für die Olympischen Spiele 2012 in London erhalten könnte, herrschte auch in Deutschland großes Mitgefühl mit den Befindlichkeiten der Briten. Das Land hatte sich zusammen mit Frankreich und den USA sowie ihren Verbündeten zu einer "Koalition der Willigen" zusammengeschlossen und mit Hilfe eines eilfertig erstellten UN-Mandats, das offiziell dem Schutz der libyschen Zivilbevölkerung dienen sollte, einen blutigen Krieg gegen das nordafrikanische Land begonnen. "Besorgte Stimmen in England fürchten nun, dass Mitglieder des Gewaltregimes zusammen mit anderen Staatschefs - 120 werden erwartet - auf den Tribünen sitzen könnten, sollte es 2012 trotz des Bürgerkriegs noch an der Macht sein", malte auch die FAZ [1] den Teufel an die Wand. Nach fast dreimonatigem Dauerbombardement durch Kampfflugzeuge der NATO sowie Hubschrauber- und Drohnen-Einsätzen, die Tausende von Todesopfern auf seiten der Regierungstruppen, der Aufständischen und der Zivilbevölkerung forderten, war für das sich politisch neutral gebende Internationale Olympische Komitee (IOC) immer noch nicht absehbar, wem es das festgelegte Kartenkontingent für die Spiele würde aushändigen müssen. "Das Problem in Libyen ist, dass Gaddafis Sohn Muhammad als NOK-Präsident über diese Tickets frei verfügen darf", schrieb der Sportinformations-Dienst am 15. Juni, so als ob die vom Bürgerkrieg gebeutelten LibyerInnen nicht andere Probleme hätten.

Inzwischen sind rund sechs Monate seit dem Angriff vergangen. Der "Diktator", "Tyrann", "Despot" oder "Massenmörder", so eine Auswahl der wohl gängigsten Bezeichnungen für den zum personifizierten Bösen hochstilisierten Ex-Machthaber Muammar al Gaddafi, ist zum aktuellen Zeitpunkt zwar noch nicht gefaßt, doch die Jagd auf ihn befindet sich in vollem Gange. Der Gaddafi-Clan, der viele Jahre nicht nur auf dem politischen, sondern auch auf dem sportpolitischen Parkett vom Westen hofiert und für allerlei nützliche Dienste und profitable Geschäfte willkommen geheißen wurde, hat ausgedient. Die führenden Mitglieder des alten Regimes sind nicht mehr präsentabel. Weder die Politiker noch die Spitzenfunktionäre der westlichen Welt möchten gern daran erinnert werden, daß sie bis vor kurzem noch bei geheimen oder offiziellen Anlässen intensive Kontakte mit dem "Gewaltregime" pflegten; sei es innerhalb der internationalen "Sportfamilie", dem Euphemismus für die vetternwirtschaftlichen Netzwerke hoher Sportfunktionäre und Manager, sei es beim Sportsponsoring, das insbesondere der italienischen Fußballwirtschaft Millionen von libyschen Petrodollar bescherte.

Daß Libyen 1998 als erstes Land einen internationalen Haftbefehl gegen den Al-Qaida-Führer Osama bin Laden bei INTERPOL beantragte, während Gaddafi und seine Familie nun selbst von der internationalen Polizeiorganisation gejagt werden, zeigt, daß die vom Westen aufgebauten Anti-Terror-Kämpfer von gestern die Oberschurken von morgen sein können. Diesen Eindruck legen auch in Tripolis aufgefundene Dokumente nahe, die, wie von der New York Times am 3. September berichtet, auf enge Kooperationen zwischen dem amerikanischen Geheimdienst CIA, seinem britischen Pendant MI6 und dem Gaddafi-Regime schließen lassen. So habe die CIA zwischen 2002 und 2007 in mindestens acht Fällen Gefangene in das nordafrikanische Land verlegt, um sie dort einem Verhör, möglicherweise unter Anwendung von Folter, zu unterziehen. Den Papieren ist auch zu entnehmen, daß die amerikanische Seite den Text jener Rede formulierte, mit der Muammar al Gaddafi 2004 den Verzicht seines Landes auf Massenvernichtungswaffen erklärte. Ebenfalls am 3. September schrieb die britische Zeitung The Independent unter Berufung auf selbige Dokumente, der britische Auslandsgeheimdienst MI6 habe Angaben zu im Exil lebenden, libyschen Oppositionellen an das Regime in Tripolis weitergegeben und für dieses Telefonnummern überprüft.

Auch Deutschland, vor dem Umsturz einer der wichtigsten Handelspartner Libyens, war in den Krieg weitgehender involviert, als es zunächst den Anschein hatte. Die Darstellung der Bundesregierung, sie habe sich beim internationalen Waffengang gegen den libyschen Machthaber im Frühjahr 2011 herausgehalten, besitzt nur noch wenig Überzeugungskraft. Noch im August hatte sie behauptet, daß lediglich elf Soldaten der Bundeswehr in den Stäben in Italien Dienst täten, die mit der Führung der Operation betraut seien. Nach einer Anfrage des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (Grüne) kam heraus, daß insgesamt 103 Soldatinnen und Soldaten in entsprechende Stäbe der NATO entsandt worden seien und sich u.a. an der Auswahl militärischer Ziele sowie der Übermittlung von Befehlen an die AWACS-Überwachungsflugzeuge beteiligten, wie eine Antwort des Verteidigungsministeriums am 8. September dokumentiert [2]. Selbigen Tages ging die Meldung durch die Medien, daß bis dato mindestens 30.000 Menschen während des Aufstands gegen Gaddafi getötet und 50.000 weitere verletzt worden seien. Das erklärte der Gesundheitsminister der neuen Übergangsregierung in Libyen. Wie viele Menschen durch die NATO-Kriegsführung oder durch die Hilfsdienste von Bundeswehrsoldaten und -soldatinnen bei der "Zielauswahl" umgekommen sind, wurde nicht bekannt. Zweifelsohne werden die 23.248 Fliegereinsätze der NATO seit dem 31. März, davon 8.719 Gefechtsstarts [3], auch zahllose Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert haben. Vielen unkritischen Beobachtern scheint auszureichen, daß auf den Kanonen, mit denen der Weg der "Rebellen" zum Regimewechsel freigeschossen wurde und wird, der Segen des UN-Mandats liegt.

Ob in einem Land wie Libyen, das bis vor kurzem noch die höchsten Sozial- und Lebensstandards auf dem afrikanischen Kontinent aufwies und die rivalisierenden Stämme, ethnischen Unterschiede und religiösen Konflikte in einem Staatswesen zusammenhielt, von dem viele Nachbarländer mit noch desaströseren Verhältnissen nur träumen können, nun wieder "Normalität" einkehrt, wie viele Kommentatoren nach dem Sturz Gaddafis hoffen, darf gelinde gesagt bezweifelt werden.

"Ich habe in meinen Gesprächen eine große Erleichterung und eine sehr starke Aufbruchstimmung gespürt. Die Leute haben es jetzt in der Hand, das Beste aus ihrem Land zu machen. Und sie haben es in der Hand, dass die Revolution ein positives Ende nimmt und nicht zum Rohrkrepierer wird wie in Tunesien und Ägypten", so die Einschätzung des ehemaligen deutschen Fußballprofis Antoine Hey, seit Sommer 2010 als Technischer Direktor für den libyschen Fußballverband tätig, in einem Interview Anfang des Monats mit Zeit Online [4].

Nicht nur der vielgerühmte "arabische Frühling" in afrikanischen Ländern entpuppt sich mehr und mehr als Etikettenschwindel westlicher Ideologieproduktion, auch die anderen Länder des Nahen und Mittleren Ostens wie Afghanistan oder Irak, die mit der überlegenen Feuerkraft ausländischer Interventionskräfte zu "Demokratie und Freiheit" gebombt werden sollten, weisen so ungeheuerliche soziale und politische Verheerungen auf, daß den leidtragenden Menschen Begriffe wie "Normalität", "Stabilität" oder "Sicherheit" wie Hohn in den Ohren klingen müssen.

Vor wenigen Wochen wurde berichtet, daß die Fußballverbände von Südafrika und Libyen ihre Gastgeberrollen bei den Afrika-Meisterschaften 2013 und 2017 tauschen werden. Libyen tritt demnach die Ausrichtung des Turniers 2013 an den WM-Gastgeber von 2010 ab, der seinerseits die Gastgeberrechte für 2017 auf Libyen überträgt. Dieser Vereinbarung muß noch die afrikanische Konföderation CAF zustimmen, die am 28. September in Ägypten zur nächsten Sitzung zusammenkommt. In Anbetracht der inneren Spaltung Libyens und möglicherweise noch bevorstehender blutiger Fraktionskämpfe und Racheaktionen bleibt fraglich, ob das Nation-Building-Projekt via Sport überhaupt zustande kommt, geschweige denn gelingen kann. In einem offenen Brief von mehr als 200 afrikanischen Intellektuellen, darunter Chris Landsberg, Professor für Politik an der Universität von Johannesburg, wurde die Bombardierung Libyens durch die NATO als "Teil eines Planes zur Rekolonialisierung des Kontinents" bezeichnet [5].

Von den 54 afrikanischen Staaten haben bislang etwa 20 den Nationalen Übergangsrat in Libyen anerkannt. Weniger Zurückhaltung übten indessen jene westlichen Hegemonialmächte, die die meisten Aktien am und im Libyenkrieg haben. Das betrifft auch die sogenannten US-Vasallen, wobei aus Sicht des olympischen Sports, der sich mit philantropischen Federn schmückt, aber immer unverhohlener seinen ökonomischen Profitinteressen folgt, die Rolle des Scheichtums Katar hervorzuheben ist. Der reiche Golfstaat veranstaltet zahlreiche hochkarätige Sportevents und gilt internationalen Sportverbänden als sprudelnde Geldquelle. Auch in militärischer Hinsicht macht sich Katar Liebkind bei seinen Vormächten. Als erstes arabisches Land schickte es Kampfflugzeuge zur Durchsetzung des Flugverbotes nach Libyen und erkannte den Nationalen Übergangsrat als legitimen Repräsentanten Libyens an. Medienberichten zufolge soll Katar zudem die aufständischen Milizen mit Waffen und Munition versorgt sowie Experten zum Waffentraining entsandt haben. Am 24. August bestätigte der US-Sender CNN den Einsatz von Bodentruppen auch aus Katar in libyschen Städten, was von kriegsunabhängigen Beobachtern als nicht durch die UN-Resolution gedeckt verurteilt wird. Über den Golfstaat wickelten die von westlichen Militär- und Geheimdienstmitarbeitern angeleiteten "Rebellen" auch ihre Ölverkäufe vor allem an die südlichen EU-Staaten ab. Ob all das den kriegstüchtigen Wüstenstaat zum geeigneten Kandidaten für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2020 macht, dem erklärten Ziel des katarischen Herrscherhauses, das bereits die Austragung der Handball-WM 2015 und der Fußball-WM 2022 ersteigern konnte?

Doch zunächst kommt London. Wer immer als selbsternannter oder gewählter Vertreter des libyschen Volkes anläßlich der Olympischen Spiele 2012 auf den Tribünen sitzen wird - einmal mehr wird das Massenevent das sportpolitische Feigenblatt liefern, das die Kumpanei des Schreckens zwischen den Kriegsherren der "freien Welt" und ihren Protegés und Statthaltern aus der "befreiten Welt" immer spärlicher bedeckt.

Anmerkungen:

[1] www.faz.net. "1000 Olympia-Tickets für Libyen". Von Evi Simeoni. 18. Juni 2011.

[2] http://www2.stroebele-online.de/upload/2011_08_25_bundeswehr_libyen_ii_antwort.pdf

[3] RIA Novosti, Datum: 20.09.2011. http://de.rian.ru/security_and_military/20110920/260645203.html

[4] www.zeit.de. Interview mit Antoine Hey, Technischer Direktor im libyschen Fußballverband. Von Christian Spiller. 02.09.2011.

[5] http://www.mathaba.net/news/?x=628260. "Over 200 African Leaders: NATO's Libyan War Part Of Plan To Recolonize Continent". 25.08.2011.

22. September 2011