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KOMMENTAR/140: Widerrechtliche "Osaka-Regel" soll hintenherum wieder eingeführt werden (SB)



Nur selten wird die Macht der internationalen Monopolverbände des Sports beschnitten, gelten sie doch als unverzichtbare Statthalter herrschaftlicher Interessen, sich das sportverzückte Volk auf allen nur denkbaren Spielwiesen Untertan zu machen. Eher werden Sportler unter fadenscheinigsten Vorwänden schikaniert, kontrolliert oder sanktioniert, Trainer geschaßt oder Funktionäre in die Wüste geschickt, als daß die Ordnung des kommerziellen Sports und seine Verwertungsprämissen grundsätzlich in Frage gestellt würden. Stets werden neue Regeln verbrochen, und wo sie sich als zu einschneidend erweisen, werden nach ihrer Lockerung schon die nächsten Fesseln in Anschlag gebracht, damit das Wechselspiel aus sozialer Unterdrückung und individueller Teilhaberschaft seinen ungebrochenen Fortgang nimmt.

Im August 2007 hatte die Exekutive des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) eigenmächtig beschlossen, daß Sportler mit einer Dopingsperre von mehr als sechs Monaten an den beiden nächsten Olympischen Spielen (Winter und Sommer) nicht teilnehmen dürfen. Knapp ein Jahr später wurde das Verdikt als Regel 45 ("Osaka-Regel") in die Olympische Charta aufgenommen.

Die Osaka-Regel, die von den Anti-Doping-Konformisten als Fortschritt im Antidopingkampf gefeiert wurde, war ein Schlag für alle Athleten, die den Indoktrinationsprogrammen der Sportverbände und ihrer Vollzugsorgane Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) und Nationale-Anti-Doping-Agenturen (NADA) noch nicht vollständig erlegen waren. Bekanntlich verhängt die Sportgerichtsbarkeit nicht nur nach der rechtlich umstrittenen "strict liability"-Regel (verschuldensunabhängige Haftung) langwierige Berufsverbote, was bedeutet, daß auch Unschuldige am Dopinggalgen landen können, sondern ebenso auf der Grundlage wissenschaftlich umstrittener Forensik. Nach der Osaka-Regel hätte beispielsweise die Eisschnelläuferin Claudia Pechstein nicht bei den Winterspielen 2014 in Sotschi starten dürfen. Die mehrmalige Olympiasiegerin war vom Eislauf-Weltverband ISU nach dem indirekten Dopingnachweis wegen eines erhöhten Blutwertes für zwei Jahre gesperrt worden. Medienvertreter, Wissenschaftler, Juristen und andere Antidopingfanatiker, die das Urteil damals ungeachtet aller Fragwürdigkeiten für "wasserdicht" erklärt hatten, um den indirekten Dopingnachweis als neuesten Longseller der die Sportverbände/Steuerzahler immer kräftiger zur Kasse bittenden sportgerichtsmedizinischen Forschung durchzusetzen, sind inzwischen weitgehend blamiert. Heute läuft die 39jährige mit ähnlich erhöhten Blutwerten, wie sie zu ihrer Sperre geführt hatten, wieder erfolgreich Rennen, ohne daß sie wegen Dopingverdachts sanktioniert würde - die WADA hatte nachträglich ihre Richtlinien verändert.

Weil Claudia Pechstein, deren auffällige Blutwerte auf eine erblich bedingte Blutkrankheit zurückgeführt werden, weiterhin ihre vollständige Rehabilitierung anstrebt, wird die "Nervensäge" und ihr Management bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu diskreditieren versucht - mal offener, mal versteckter. Dies ist allerdings nicht nur auf persönliche Eitelkeiten von JournalistInnen zurückzuführen, die in der Causa Pechstein leidlich erkennen mußten, wie weitreichend ihr eigenes Urteilsvermögen durch autoritative Verfügnisse und Instanzen geprägt wird. Dies ist auch dem Antidopingsystem insgesamt zuzuschreiben, das soziale Feindbilder produzieren muß, um den Ausbau eines rigorosen Kontroll- und Sanktionsregimes zu rechtfertigen. Nicht die Verteidigung von Grund- und Bürgerrechten steht dabei im Vordergrund, sondern die Durchsetzung marktkonformer Konkurrenz- und Wettbewerbsregeln, von denen der nach Ruhm und Anerkennung strebende Leistungssportler vollständig bestimmt wird, ohne daß ihm Brücken gebaut würden, wie er sich aus seinen sozialen und materiellen Abhängigkeitsverhältnissen befreien könnte, die bis in sein Bewegungs- und Antriebsverhalten mit teilweise erschreckenden Konsequenzen hineinreichen. Nicht zuletzt die Überhöhung von Spitzensportlern zu gesellschaftlichen Vorbildern sorgt dafür, daß die Athleten zu moralisch-ethischen Tugendbolden hochstilisiert werden, für deren Idealisierung weder das sozialdarwinistische Labor des Leistungssports noch die bürgerliche Klassengesellschaft eine überzeugende Grundlage bietet. Dennoch wird mit harter Hand versucht, selbst ehemalige Dopingsünder, die längst zu Kreuze gekrochen sind, dauerhaft zu stigmatisieren und wie keine Personengruppe sonst, die mit Sportlern vergleichbar wäre, gesellschaftlich auszugrenzen.

Neben Claudia Pechstein und dem Springreiter Christian Ahlmann (acht Monate Sperre durch den Internationalen Sportgerichtshof CAS) aus Deutschland sind auch eine Reihe internationaler Sportlerinnen und Sportler betroffen, denen mit Hilfe der Osaka-Regel das Kainsmal der Dopingsünde auf die Stirn gedrückt werden sollte. Da sich die Proteste und Klagen der verfemten Athleten häuften, wurde schließlich die umstrittene Osaka-Regel auf Antrag des Olympischen Komitees der USA (USOC) vom Internationalen Sportgerichtshof überprüft. Am 6. Oktober dieses Jahres erklärten die Sportrichter die Regel 45 für "ungültig und nicht durchsetzbar" [1]. Das Urteil stützt sich im wesentlichen auf den Rechtsgrundsatz "ne bis in idem" ("zweimal in einer Sache keine Klage" - Verbot einer neuen Strafverfolgung des Täters wegen derselben Tat). Anders als beispielsweise IOC-Präsident Jacques Rogge oder der moralinsaure Leichtathletikfunktionär und Sportsoziologe Prof. Helmut Digel, welche die Osaka-Regel vehement verteidigen, gehen die CAS-Richter davon aus, daß die Regel als Zulassungsbeschränkung eine Sanktion darstellt und damit einer unzulässigen Doppelbestrafung gleichkommt. Obwohl Sport- und Strafrecht zwei Paar Schuhe sind, lohnt der Blick auf die deutsche Rechtsprechung: Nach dem deutschen Gesetz sind Doppelbestrafungen nach Paragraph 51 Abs. 3 S. 1 des Strafgesetzbuches sowie des Artikel 103 Abs. 3 des Grundgesetzes verboten. Eine automatische Sanktion, die nicht im Einzelfall überprüft wird, kann auch als schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht der freien Berufsausübung nach Artikel 12 Abs. 1 des Grundgesetzes gewertet werden. [2]

Überdies stellte der CAS fest, daß die Osaka-Regel den Bestimmungen des WADA-Codes widerspricht und somit auch den IOC-Statuten. Die eingebetteten Medien reagierten wie immer und sprachen von einem Rückschlag im Antidopingkampf oder von weiteren Glaubwürdigkeitsverlusten des sauberen Sports. Die gemessen an den Grundproblemen des Antidopingkampfes schwer zu ertragende Infantilisierungsrhetorik der Medien wird allerdings noch von den Funktionären selbst übertroffen, die ungeachtet des CAS-Urteils und des Doppelstrafencharakters am verschärften Olympiabann festhalten wollen. So kündigte IOC-Chef Rogge an: "Wir werden versuchen, bei der nächsten Änderung des Anti-Doping-Codes der WADA neue Formulierungen zu verwenden. Die Änderung wird bis November 2013 vorgenommen." [3] Auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) um seinen Toplobbyisten Dr. Thomas Bach (FDP), der mehrere juristische Ämter im internationalen Sport innehat, ohne daß ihm dadurch mögliche Kungeleien angekreidet würden, ließ durchblicken, daß er das CAS-Urteil über legislative Winkelzüge zu umgehen gedenkt. Im kürzlich veröffentlichten DOSB-Jahresbericht gab Generaldirektor Michael Vesper (Grüne) zu verstehen, daß der deutsche Dachverband "gemeinsam mit anderen NOK's" dafür eintreten werde, "den grundlegenden Inhalt der aufgehobenen Regel in anderer Weise zu fixieren, um auch künftig auszuschließen, dass verurteilte Dopingtäter/innen gleich anschließend wieder an Olympischen Spielen teilnehmen dürfen". [4] Deutlicher kann man gar nicht die Einflußpolitik der Sportverbände auf die nach außen hin "unabhängige" WADA ausdrücken. Ist das CAS-Urteil nicht genehm, wird eben kurzerhand der WADA-Kodex geändert ...

Mit ihrem Vorstoß streben die Antidopinghardliner zudem britische Verhältnisse an. Das NOK Großbritanniens (BOA) weigerte sich bislang hartnäckig, den Schiedsspruch des CAS anzuerkennen und die nicht mit dem WADA-Kodex zu vereinbarende Osaka-Regel aufzuheben. Nach einer 1992 eingeführten Regel verhängt die British Olympic Association als einziges NOK der Welt sogar lebenslange Olympia-Sperren gegen ehemalige Dopingsünder. Kurioserweise droht nun ausgerechnet die WADA, die selbst wegen ihrer zügellosen Ermächtigungspolitik in der Kritik steht, dem Gastgeber der Olympischen Spiele 2012 in London mit Sanktionen, sollte er weiterhin gegen den WADA-Kodex verstoßen. Um einen sportpolitischen Eklat ungeahnten Ausmaßes zu verhindern, hat die BOA nun selbst noch einmal den CAS angerufen, um feststellen zu lassen, ob der lebenslange Olympiabann tatsächlich gegen den WADA-Code verstößt. Eine Entscheidung soll in Kürze fallen.

Wie auch immer die Causa entschieden wird, die Bestrebungen der selbstgerechten Funktionäre, ihre Dämonisierungspolitik in Sachen Doping voranzutreiben und selbst rechtliche Hürden so zurechtzubiegen oder zu umgehen, daß es wieder paßt, werfen ein Schlaglicht darauf, daß im quasireligiösen Antidopingkampf offenbar alle Mittel angewandt werden. Mit "Fairneß" oder "Gerechtigkeit" hat dies nur durch die Brille der Verbandsautokratien etwas zu tun.

Anmerkungen:

[1] www.tas-cas.org.

[2] Siehe dazu die Ausführungen von Dr. jur. Burkhard Oexmann, Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter der Universität Münster.
http://www.oexmann.de/artikel/Pferderecht/Doping-und-Doppelbestrafungsverbot.html

[3] http://www.zeit.de/news/2011-12/02/sport-allgemein-dosb-will-doper-nicht-beim-naechsten-olympia-02170603

[4] DOSB-Presse. Bericht des Präsidiums. Mitgliederversammlung. Berlin, 03.12.2011.

13. Dezember 2011