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KOMMENTAR/148: Das Trauma von Olympia (SB)



Im Oktober vergangenen Jahres hatte IOC-Präsident Jacques Rogge Vorwürfe, wonach sein Spitzenverband durch die Vergabe von Olympia 2004 an Griechenland einen Anteil an der hohen Staatsverschuldung der Südeuropäer habe, noch abzuwiegeln versucht. "Die externen Schulden Griechenlands belaufen sich auf 380 Milliarden Euro. Die Kosten der Spiele lagen bei unter sieben Milliarden Euro. Das sind weniger als zwei Prozent der gesamten Schulden Griechenlands. Das heißt 98 Prozent sind anderswo zu verorten", sagte der 69jährige Belgier der Berliner Zeitung [1]. Getreu der in seinen Kreisen oft zu hörenden Devise, "tue Gutes und rede darüber" (und lasse all das Negative weg), resümierte Rogge zugleich, daß Griechenland noch immer von den Investitionen für Olympia 2004 profitiere: "Für diese sieben Milliarden Euro haben die Griechen ein weitreichend verbessertes Transportsystem bekommen, das Griechenland über Generationen weiterhilft, nicht nur für die 16 Tage, die die Spiele dauerten. Es gibt also ein positives Vermächtnis."

Zwei Monate später, im Dezember 2011, hörte sich das schon etwas anders an. In einem Interview mit der griechischen Tageszeitung "Kathimerini" [2] räumte Jacques Rogge eine Mitschuld Olympias an den Auslandsschulden ein: "Man kann ohne weiteres sagen, daß die Spiele von 2004 ihren Anteil daran gehabt haben." Die Kosten wären allerdings viel niedriger gewesen, ergänzte Rogge, wenn es nicht die Bauverzögerungen gegeben hätte, die Doppelschichten und Nachtarbeiten nötig machten.

Sind die Griechen also selbst schuld an ihrer Olympiapleite, wo sie doch nur den Schlendrian und die Vetternwirtschaft im eigenen Land hätten abstellen müssen? Inzwischen ist längst klar, daß die Kosten und sozialen Folgewirkungen von Olympia 2004 viel dramatischer sind als Rogge und Co. glauben machen wollen. Allein durch die Terrorhysterien, vornehmlich geschürt durch US-Amerikaner, Briten und Israelis, stieg das Sicherheitsbudget von ursprünglich rund 300 Millionen Euro auf mehr als das Dreifache an. Die sogenannten Anti-Terror-Gesetze, die damals ebenfalls drastisch zu Lasten der Freiheitsrechte verschärft worden waren, erweisen sich heute als wirksames Instrumentarium, um den politischen Widerstand des griechischen Volkes gegen die kapitalistische Krisenwirtschaft zu unterdrücken.

"Offiziell hat die Olympiade 2004 den griechischen Staat knapp 11 Milliarden Euro gekostet. Wie üblich hatte die griechische Regierung im November 2004 zunächst 8,95 Milliarden Euro eingeräumt. Bei der Bewerbung für die Spiele waren die Spiele noch mit 7,741 Milliarden Euro veranschlagt worden", schreibt der deutsch-griechische Journalist Wassilis Aswestopoulos in seinem vergangenes Jahr erschienenen Buch [3]. "Mittlerweile geben Schätzungen den tatsächlichen Preis der Olympiade mit 20 bis 30 Milliarden Euro an." Sein Fazit: "Die Olympiade war für das Land eine einzige Katastrophe."

Nicht, daß die Europäer daraus gelernt hätten. Das Trickspiel mit Fehlkalkulationen sowie verschleierten, ausgelagerten oder schöngerechneten Etats ist fester Bestandteil des olympischen Bewerbungs- und Unterhaltungsprogramms. London, Austragungsort der Olympischen Spiele im Sommer, könnte die griechische Tragödie noch in den Schatten stellen. In der Weltfinanzmetropole hatten die aufs engste mit der Politik verbandelten Olympiaorganisatoren ursprünglich einmal 2,4 Milliarden Pfund für die Spiele veranschlagt. Mittlerweile liegt der Etat bei offiziell 9,3 Milliarden (11,3 Milliarden Euro), und das Ende der Fahnenstange ist noch lange nicht erreicht. Hatte man bereits beim Großevent in Griechenland von "Spielen im Hochsicherheitstrakt" gesprochen, so fehlt einem mittlerweile der Komparativ, um den sicherheitsstaatlichen Overkill in London, maßgeblich verursacht durch Nachrüstungsforderungen der kriegführenden Länder und aus Furcht vor sozialen Unruhen im Inland, in angemessenen Worten wiederzugeben. Jüngsten Meldungen zufolge sollen neben rund 10.000 zivilen Sicherheitsleuten und Polizisten bis zu 13.500 Soldaten - mehr als in Afghanistan Dienst tun - zum Einsatz kommen. Das britische Verteidigungsministerium bestätigte zudem, etwa 2.100 Reservisten einberufen zu wollen. Teile der Bevölkerung trainieren bereits für den Ernstfall und simulieren Krisenszenarien im Londoner U-Bahn-Netz. Neben allen Arten von Militärgerät sollen auch Überwachungstechnologien der neuesten Generation eingesetzt werden. Eine militärpolizeiliche Mobilmachung solchen Ausmaßes hat es seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr in England gegeben. Vergangenes Jahr hatte das Organisationskomitee LOCOG die Sicherheitskosten für die Spiele noch mit 600 Millionen Pfund angegeben. Inzwischen wird die Endsumme inoffiziell auf über eine Milliarde Pfund (1,18 Milliarden Euro) geschätzt, berichtete die Deutsche Presse-Agentur [4].

Liest man die in- und ausländische Olympiapresse, dann herrscht bei den Funktionären und Sportlern, die in London den sozialen Rahm der olympischen Konkurrenz abschöpfen möchten, eitel Sonnenschein. DOSB-Generalsekretär Michael Vesper (Grüne) wünscht sich, möglichst oft die deutsche Nationalhymne in London zu hören (mindestens Platz 5 der Nationenwertung) und erwartet, "daß es fröhliche, dopingfreie und erfolgreiche Spiele werden" [5]. Die wünsche er sich zu "Lebzeiten" auch noch einmal in Deutschland. Denn dies sei der Traum eines jeden, der mit Sport zu tun habe, behauptet Vesper mit der Chuzpe eines gutbezahlten Lobbyisten, der es gewohnt ist, in Gemeinplätzen zu sprechen, "Sport" mit kommerziellem Olympismus gleichzusetzen und darauf baut, daß die Zaungäste vor lauter Olympiafieber nicht nachfragen, wer für die verbrannte Erde aufkommt, die neben den Leuchtturmprojekten entstanden ist, wenn das Olympia-Ufo wieder abgehoben hat.

Für die gebeutelten Griechen indes hat sich der Traum von Olympia zum Trauma verwandelt, und zwar nicht erst, seitdem das Land in Folge der Finanz- und Schuldenkrise zu einem Protektorat von EU, Internationalem Währungsfonds (IWF) und Europäischer Zentralbank (EZB) geworden ist, dem bleischwere "Rettungspakete" auferlegt werden. Das "positive Vermächtnis", von dem IOC-Chef Jacques Rogge konsensheischend schwärmt, erweist sich gerade im Falle Griechenlands als Ausdruck selektiver Wahrnehmung und medialer Verblendung.

Schon bald nach der Olympiasause fanden viele der prachtvollen Olympiastätten keine Nachnutzung mehr, weil ihr Unterhalt viel zu teuer war. Statt dessen marschierten Polizisten und Soldaten mit Maschinengewehren auf. Letztere galten nicht nur Plünderern, sondern auch interessierten Besuchern und Journalisten, denen der Zutritt zu den verfallenden Anlagen verwehrt werden sollte. Das traurige Erbe der "magischen Traum-Spiele", von denen Jacques Rogge bei der Abschlußfeuer in Athen noch fabuliert hatte, sollte die Weltöffentlichkeit lieber nicht so schnell zu sehen bekommen. Rund 125 Millionen Euro mußte der Staat für den Unterhalt der Olympia-Anlagen pro Jahr berappen, nur ein Bruchteil davon konnte refinanziert werden. Viele Gebäude sind mittlerweile zu "weißen Elefanten" geworden, weitere hochmoderne Sportanlagen verrotten, Abfälle stapeln sich auf den verwaisten Arealen. Das "Biotop", das Umweltschützern nach den Spielen versprochen wurde, ist nie errichtet worden. Natürlich sind einige Bauten und Infrastrukturmaßnahmen zum Vorteil der Nutzer geblieben. Doch ob sich das auch für die modernen Überwachungskameras sagen läßt, die in den Athener Straßen massenhaft installiert worden waren, um die griechischen Bürger und Besucher während der Spiele auszuspähen und auszuhorchen? Hatten Bürgerproteste zunächst dazu geführt, daß die Hochleistungskameras nach dem Erlöschen der Olympischen Flamme nur noch zur reinen Verkehrsüberwachung und unter Auflagen eingesetzt werden durften, so wurden auch diese Einschränkungen teilweise wieder zurückgenommen oder nur unvollständig eingehalten. Dank Olympia werden die Closed-Circuit-Television-Systeme (CCTV) inzwischen erneut zur Rund-um-die-Uhr-Überwachung, auch zur Observation von politischen Kundgebungen oder von Demonstrationen gegen die korrupte politische Klasse in Griechenland, eingesetzt.

2006 kam im Zuge der großen Schmiergeldaffäre von Siemens ans Licht, daß auch bei der Auftragsvergabe für das berüchtigte Sicherheitssystem C4I massive Korruption im Spiel gewesen war. Das knapp 255 Millionen Euro teure System, das anläßlich der Spiele 2004 unter anderem Polizei, Feuerwehr, Küstenwache und mehrere Ministerien elektronisch miteinander vernetzen sollte, hat bis heute keine Praxisreife erlangt. Ohne daß dies der Wachstumsbranche Zügel anlegen würde, weisen anerkannte Experten aus aller Welt seit langem darauf hin, daß sich internationale Sportgroßereignisse, insbesondere in der Post-9/11-Ära, zu einem profitablen Experimentierfeld für innovative Überwachungstechnologien entwickelt haben. Unter dem Vorwand, die "öffentliche Sicherheit" zu schützen, bringen mächtige private Sicherheitsfirmen oder Industriekonzerne stetig neue Produkte und Systeme auf den Markt mit der Folge, daß sich verschärfte Formen der Sozialkontrolle in den Ländern etablieren. Auf den Technologiefeldern Sicherheitskommunikation, Gesichts- und Körperscanner, Bewegungsidentifikation, RFID-Chip-Technik und Internetüberwachung sehen die Konzerne riesige Geschäftspotentiale. Entsprechend besteht im Sportgewerbe, verkehrsfähig gemacht über die Marketing- und Kommunikationskanäle von Sponsoring und Hospitality, eine große Kontaktnähe zwischen Konzern- und Sportlobbyisten.

Bestes Beispiel DOSB-Chef und IOC-Vize-Präsident Dr. Thomas Bach, im Hauptberuf Wirtschaftsanwalt. Im Zuge der Ermittlungen in der Siemens-Korruptionsaffäre wurde bekannt, daß Bach mit Siemens seit dem Jahr 2000 einen Beratervertrag hatte, der Ende Juni 2008 aufgelöst wurde. Unbestätigten Medienberichten zufolge soll der einflußreiche Multifunktionär 400.000 Euro Jahreshonorar plus 5000 Euro Spesen pro Tag kassiert haben. Bach erklärte, es habe keinen Interessenskonflikt zwischen seiner Arbeit für das IOC und seiner Beratertätigkeit für Siemens gegeben. Der Konzern wiederum bestätigte, Aufträge im Wert von 1,1 Milliarden Euro für die Olympischen Spiele 2008 in Peking erhalten zu haben [6]. Unter anderem lieferte Siemens das Videoüberwachungssystem nach China, das später nicht wie versprochen reduziert, sondern von der chinesischen Regierung noch ausgebaut wurde. Siemens war bei den Spielen in Athen auch als Subunternehmer des SAIC-Konsortiums tätig, welches den Zuschlag für das skandalumwitterte Sicherheitssystem C4I erhalten hatte. Außerdem ist der Konzern an zahlreichen Projekten im Zusammenhang mit nationalen und internationalen Sportevents beteiligt. Als eines der führenden Mitglieder der "Initiative Sportstandort Deutschland" (Sponsorenvereinigung S20) nimmt die Siemens AG unmittelbar Einfluß auf die Sportpolitik. "Die Initiative demonstriert, wie eng Politik, Wirtschaft und Sport zusammenarbeiten, um den Sportstandort Deutschland zu stärken. Das hilft unseren Verbänden, Sportgroßveranstaltungen nach Deutschland zu holen", so Thomas Bach bei der Vorstellung der Initiative 2009 in Berlin [7]. Der ehemalige Weltklassefechter ist nach wie vor im Verwaltungsrat der Siemens Schweiz AG aktiv und präsidiert seit 2006 die Deutsch-Arabischen Industrie- und Handelskammer (Ghorfa). Der reiche Golfstaat Katar, einer der wichtigen Handelspartner von Siemens und groß im Geschäft in Sachen "internationaler Sportsicherheit", will sich bekanntlich für die Olympischen Sommerspiele 2020 bewerben - ob Bach, der angeblich Sport und Beruf strikt trennt, seine "Geschäftsbeziehungen" spielen läßt? Doch geht es überhaupt noch um nationalstaatlichen Wettbewerb? Stellt die olympische Bewerberkonkurrenz nicht vielmehr einen aufwendig inszenierten, ungeheure materielle und humane Ressourcen verschlingenden Raubzug transnational organisierter Konzerninteressen dar?

Nachdem das Münchner Bewerbungskonzept für die Winterspiele 2018 an Pyeongchang/Südkorea aufgrund des milliardenschweren Sponsorenpools um den Samsung-Konzern gescheitert war, hatte Thomas Bach mit nahezu einhelliger Unterstützung der im Bundestagssportausschuß vertretenen Parteien eine erneute Bewerbung Deutschlands für die Olympischen Winterspiele in Aussicht gestellt, um im Kampf um die Verteilungsmasse im internationalen "Sport", dessen monetäre Kraftzentren sich auf außereuropäische Kontinente verschoben haben, dranzubleiben. Weniger privilegierte Euroländer können sich zu Lasten ihrer Bevölkerung nicht mehr gefahrlos am olympischen Überbietungswettbewerb beteiligen. Italien, das neben Griechenland, Portugal und Spanien als weiterer Kandidat auf der Abschußliste der Europa dominierenden Exportnationen steht, mußte sich aus Vernunftsgründen von der Bewerbung um die Sommerspiele 2020 verabschieden. "Wir können in der jetzigen Wirtschaftslage nicht die Gelder der Steuerzahler für ein großes Projekt wie die Olympischen Spiele investieren", gab Italiens Ministerpräsident Mario Monti einen Tag vor dem Ablauf der Bewerbungsfrist in einer Aufsehen erregenden Stellungnahme bekannt. Die italienische Regierung ist wegen der Finanzkrise nicht bereit, die umfangreichen finanziellen Garantien, die das IOC von den Bewerbern verlangt, zu geben. [8]

Offensichtlich haben Monti und andere inzwischen registriert, daß in Griechenland, auch in Folge der nach wie vor schuldentreibenden Olympiaparty, das nackte Elend herrscht. Was auch immer die Olympischen Spiele an kollektivem Freudentaumel und individuellen Erlebniswelten bei den Aktiven und Konsumenten auslösen mögen - knurrt den Menschen der Magen, können sportliche Massenveranstaltungen schnell in Armutsrevolten gegen die Austeritätspolitik der Herrschenden umschlagen. Wer glaubt, daß das Riesenaufgebot an Soldaten in London in erster Linie "Terrorgefahren" begegnen soll, möchte offenbar nicht wahrhaben, auf wen die Gewehrläufe während der Spiele tatsächlich gerichtet sein könnten.

Anmerkungen:

[1] http://www.berliner-zeitung.de/sport/jacques-rogge--warum-ist-immer-nur--ringe-opa-im-fernsehen--,10808794,11043554.html. Letzter Zugriff 26.2.2012.

[2] http://www.ekathimerini.com/4dcgi/_w_articles_wsite5_21709_26/12/2011_419986. Letzter Zugriff 25.2.2012.

[3] Aus: Wassilis Aswestopoulos: "Griechenland - eine EUROpäische Tragödie", Ambition Verlag, Berlin, 2011.

[4] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1268709. Letzter Zugriff 26.2.2012.

[5] http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,815395,00.html. Letzter Zugriff 26.2.2012.

[6] http://www.br.de/themen/aktuell/inhalt/siemens-connection130~_image-15_-30e5c32b0c39c1c6da6c6ce0f44e6063a077ae70.html. Letzter Zugriff 26.2.2012.

[7] http://www.dosb.de/en/service/sport-mehr/news/detail/news/gemeinsam_den_sportstandort_deutschland_voranbringen/printer.html. Letzter Zugriff 26.2.2012.

[8] http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,815303,00.html. Letzter Zugriff 26.2.2012.

28. Februar 2012