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KOMMENTAR/166: Olympiaverbände unterdrücken Grundsatzdebatte über Spitzensportförderung (SB)




Als nach den Olympischen Sommerspielen in London die Medaillen gezählt, erfolgreiche Athleten und Verbände gefeiert sowie medaillenlos gebliebene als große Enttäuschung geschurigelt wurden, sprach der erfolgreichste Rückenschwimmer aller Zeiten, Roland Matthes, wohl vielen politischen wie organisatorischen Trägern des Hochleistungssports aus dem Herzen. In einer Unverblümtheit, wie man sie in den rundgeschliffenen Maskierungsreden der Spitzensportverfechter nur noch selten zu hören bekommt, sprach der 62jährige Dresdner in der "Welt am Sonntag" [1] Klartext, was in Deutschland jetzt zu tun sei. Dabei übertrug der anerkannte Facharzt für Orthopädie, der in jungen Jahren durch das Stahlbad der Leistungssportförderung der DDR gegangen war, das Sportliche ins Politische und das Politische ins Sportliche - ganz so, wie es in unterschiedlichsten Formen und Ausprägungen gang und gäbe ist. Bemerkenswert allerdings, wie sich hier knallhartes DDR-Leistungssportethos und kapitalistische Ausbeuterpraxis die Hände reichen. Zumindest dürfte nun klar sein, warum der einst von Daimler-Benz großzügig unterstützte Roland Matthes als erster früherer DDR-Sportler sowohl mit der "Goldenen Sportpyramide" (2004) als auch mit der Aufnahme in die "Hall of Fame des deutschen Sports" (2008) belohnt wurde - beides Auszeichnungen, die von ausgemachten Wirtschaftslobbyisten gestiftet und kontrolliert werden.

So erklärte der fünfmalige Olympiasieger den Slogan "Teilnehmen ist alles" für "völlig falsch". Wenn Athleten sagten, sie hätten alles gegeben, bekomme er schon einen dicken Hals. Das sei selbstverständlich und müsse nicht vor der Kamera betont werden, tadelte Matthes. Viele Olympiateilnehmer in London, aber auch Trainer und Funktionäre hätten "kein Anspruchsdenken". Die meisten aus der Mannschaft seien wohl in ein Jugendferienlager gefahren und nicht zu Olympischen Spielen. Deutschland sei kein Sportland mehr. "Wir leben eben in einer übersättigten Gesellschaft. Da fragt man sich: Wofür soll ich mich quälen? Mit einem Sieger-Gen geboren wurde auch ich nicht. Das muss einem im Trainingsprozess eingeimpft werden. Der eine kriegt das durch Zuckerbrot, der andere mit der Peitsche. Mir ist da jedes Mittel recht. Wenn du gewonnen hast, vergisst du die ganzen Quälereien", behauptete Matthes in der "Welt am Sonntag" und beklagte, daß wir uns nicht die Freiheit herausnähmen, uns zu quälen. Statt dessen versteckten wir uns hinter dem Alibi, in China werden die Sportler gequält. "Doch was machen die Briten oder Amerikaner? Werden die nicht gequält? Sind die nur so gut, weil sie unter kalifornischer Sonne trainieren? Natürlich nicht!", meinte Matthes. "Die nutzen bloß besser ihre Möglichkeiten" - des Quälens, müßte man hinzufügen, denn dies dürfte nach wie vor die Quintessenz eines Hochleistungssportes sein, der nicht nur von den Eliteathleten größte Opfer- und Leidensbereitschaft verlangt, sondern der zur Heranzüchtung und verbrauchenden Nutzung des Humankapitals immer gewaltigere finanzielle Anstrengungen für die Förder-, Steuerungs- und Disziplinarapparate nötig macht. Die Eindämmung der Dopingproblematik hat bereits zu unglaublichen Einschränkungen bei Menschenwürde und Freiheitsrechten geführt. Die Bekämpfung der Wettmanipulation im Sport, die weltweit noch in den Kinderschuhen steckt, wird weitere von der Gesellschaft teuer bezahlte Formen vorauseilender Verdächtigung und sozialrepressiver Kontrolle hervorbringen.

Die Kardinalfrage für Roland Matthes, aber auch anderer, dem Spitzensport kritisch gegenüberstehenden Bürger lautet: "Will die Gesellschaft überhaupt auf breiter Front sportliche Erfolge?" Oder anders gefragt: Welche gesellschaftlichen Stellschrauben müssen neu justiert werden, damit der elitäre Hochleistungssport nicht als gegen die Interessen der Mehrheitsbevölkerung gerichtet in Erscheinung tritt?

Diese Frage wurde vom sportpolitischen Komplex inzwischen beantwortet: Eine echte Grundsatzdiskussion, ob wir einen Quälsport, pardon, "humanen Spitzensport" wollen, der aus der Zahl errungener Medaillen die nationale Größe und Respektabilität des Wirtschaftsstandortes Deutschland ableitet, wurde von den Sportdach- und Fachverbänden erfolgreich unterdrückt. Statt dessen wird in einseitigen Darstellungen der "gesellschaftspolitische Nutzen" des Hochleistungssports unterstrichen und eine Ablenkungsdiskussion um "effizientere", "transparentere" oder "gerechtere" Spitzensportförderung geführt. Politiker aller Couleur beteiligen sich daran, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich durch den Prestigeträger Spitzensport mehr eigene Medienpräsenz, Wählerstimmen und Bürgernähe erhoffen. Laut SPD, die kürzlich einen anbiedernden Gesetzentwurf "zur Aufnahme von Kultur und Sport ins Grundgesetz" (17/10644) vorgelegt hat, sei der Spitzensport "Mittel der nationalen Repräsentanz und trägt wichtige identifikationsstiftende Symbolik". Der Initiator des Gesetzentwurfs, Martin Gerster, erklärte gegenüber dem Deutschlandfunk, daß sich aus dem Staatsziel Sport auch ableiten ließe, Mittel aus dem Bundeshaushalt für die Spitzensportförderung bereitzustellen. Der SPD-Sportsprecher ist Präsident des Deutschen Sportakrobatik-Bundes.

Keine Partei in Deutschland spricht sich indessen explizit gegen eine staatliche Förderung des von Markt- und Profitinteressen dominierten Spitzensports aus. Trotz der wachsenden Fülle an Negativerscheinungen und Verwerfungen, die der Schneller-Höher-Stärker-Sport mit sich bringt, wird er weiterhin für gesellschaftlich erstrebenswert erklärt. Ähnlich wie die Atomlobbyisten einen Ausstieg aus der Kernenergie jahrzehntelang als gefährlich für den Wirtschaftsstandort Deutschland dargestellt haben, warnen auch die Sportlobbyisten vor einem radikalen Ausstieg aus dem internationalen Rennen um Medaillen und Höchstleistungen. Modelle einer staatlichen Sportförderung, die sich einer alternativen Spiel-, Bewegungs- und Körperkultur verschreibt und sich ganz bewußt von den programmatischen Ge- und Mißbräuchen im ökonomisierten Spitzensport absetzt, werden in der Öffentlichkeit gar nicht erst in Erwägung gezogen. Statt dessen gehen dem Hochleistungssport verbundene Sportsoziologen und -ökonomen mit unerquicklichen Vorschlägen hausieren wie der Einführung "Europäischer Spiele" als "großes Fest der sportlichen Vielfalt mit integrativem Charakter und fröhlichen Siegern zum Mitfreuen" (Helmut Digel [2]) oder der Preisgeldzahlung für einen Olympiasieg unserer Athleten mit "100.000 oder 200.000 Euro" (Eike Emrich [3]) - wo doch andere Länder bereits eine Million für eine Goldmedaille ausloben. Andere plädieren sogar wieder für eine deutlich leistungsbezogenere Förderung der olympischen Verbände (Wolfgang Maennig) - eine Rückkehr zum harten System der finanziellen Bestrafungen von Mangelleistungen und der Belohnung von Vorderplazierungen.

Am 13. September stimmten bei einem Treffen des Präsidialausschusses Leistungssport und des Beirats für Leistungssportentwicklung, in dem Vertreter der Sportverbände, der Landessportbünde, der Athleten und des Bundesinnenministeriums sitzen, für die Fortschreibung der medaillenfixierten Sportförderung. Die Zielvereinbarungen, die das BMI in undurchsichtigen Gesprächsrunden mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und seinen Fachverbänden aushandelt und in denen u.a. Medaillenzahlen und daran gekoppelte Finanzzuwendungen festgelegt werden, bleiben bestehen. Ebenso die Bundeswehrsportförderung. Zuvor war bekanntgeworden, daß die umstrittenen Zielvereinbarungen künftig in "Fördervereinbarungen" oder "Potentialvereinbarungen" umgetauft werden sollen - eine Sprachregelung, die davon ablenken soll, daß der über die goldenen Zügel der Finanzen gelenkte Sport eiskalte Staatsziele verfolgt, nicht unähnlich denen, wie sie im Kalten Krieg zwischen den führenden Sportnationen ausgefochten wurden. Heute liegt die Betonung allerdings nicht mehr auf "Systemkonkurrenz", sondern auf "Standortkonkurrenz". Wer andere Nationen im Sport erfolgreich niederkonkurriert, macht sich verdient und nimmt auf dem Affenhügel der Volkswirtschaften eine privilegierte Stellung ein.

Am 18. September ließ das Präsidium des DOSB auf seiner Bilanz-Pressekonferenz verlauten, daß die Ziel- und Medaillenvorgaben erhalten bleiben werden. Man wolle an der Förderung der ganzen Breite der Olympischen Sportarten festhalten, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit insgesamt abzusichern. "Dazu bedarf es einer Steigerung der verfügbaren finanziellen Mittel, um im verschärften Wettbewerb mit den anderen Nationen bestehen zu können", heißt es in der Präsidiums-Erklärung [4].

Um die Steuermitteleinsätze für das Wettrüsten im Spitzensport zu rechtfertigen, unterbreitete der DOSB folgende Drohanalyse: Gäbe es nicht mehr Gelder oder sollten Mittel sogar gestrichen werden, "stünde der deutsche Sport bald vor der Alternative, entweder in der Breite der Olympischen Sportarten auf Mittelmaß abzurutschen oder aber Prioritäten setzen zu müssen, um in einem Teil der Disziplinen in der Weltspitze zu verbleiben". Beides sei nach Auffassung des DOSB nicht tragbar. Die ökonomische Begründung dazu: "Eine der führenden Wirtschaftsnationen der Welt muss auch weiterhin den Anspruch haben, im Sport im internationalen Vergleich ebenfalls mit der Weltspitze konkurrieren zu können." Die nachgeschobene Sozialvariante für die Skeptiker: "Ohne erfolgreichen Spitzensport würde das Fundament des Breitensports verkümmern. Der Spitzensport schafft Idole und Vorbilder. Er trägt dazu bei, die für das Zusammenleben in einer Gesellschaft essentiellen Werte wie Fairplay, soziale Kompetenz, Einhaltung von Regeln und nicht zuletzt Leistungsorientierung zu verankern."

Mit dieser (Droh-)Propaganda haben es die Leistungssportfunktionäre schon immer verstanden, mehr Mittel für ihren "humanen Spitzensport" einzuwerben. Darin enthalten ist auch das neoliberale Trickledown-Märchen, wonach die (sportlichen) Leistungseliten nur kräftig gefüttert werden müssen, damit auch etwas zur breiten Bevölkerungsbasis durchsickert. Tatsächlich wird überall in den Ländern, Kommunen und Gemeinden der Rotstift angesetzt. Trotz erfolgreicher Olympioniken werden Schwimmbäder für die Allgemeinheit geschlossen, Schulsportstunden wegradiert und dem Breiten- und nichtolympischen Sport die Mittel vorenthalten.

Der DOSB indes malt sich seine Welt so schön, wie er sie haben will. Einen FAZ-Kommentar zitierend schließt die Erklärung des DOSB-Präsidiums mit den Allgemeinplätzen, daß der Spitzensport viel mehr zu bieten habe als ein spannendes Entertainment. "Er inspiriert, er treibt die Menschen an die Grenzen, er bewegt sie, darüber hinauszugehen, unbewusste Kräfte zu entdecken und sich zu entfalten. Es lohnt sich, die Menschen zu fördern. Das mag - auf den zweckfreien Sport bezogen - ein Luxus sein. Aber eine Gesellschaft, die sich diese Kultur leistet, ist reich."

Weder ist der Sport, den die Spitzensportfunktionäre meinen, "zweckfrei" noch ein "Luxus". Der Hochleistungssport ist vor allem Mittel zum Zweck und fordert zu Lasten der Allgemeinheit immer größere Opfer. Wenn Roland Matthes die Frage danach, ob "wir" diesen Spitzensport überhaupt noch wollen, mit der abfällig gemeinten Gegenfrage beantwortet, "oder wollen wir nur die Blumenstreuer für diejenigen sein, die zum Altar schreiten?", dann hat er offensichtlich übersehen, daß Thron und Altar schon immer in engster Verbindung standen. Mag man dem Volk auch beigebracht haben, die Insignien der Macht festlich zu schmücken, um sie weniger bedrohlich erscheinen zu lassen - es hat noch keinen Athleten gegeben, der sich für den Segen der Amts- und Würdenträger freiwillig hat quälen oder opfern lassen. Es bedarf schon viel "identifikationsstiftender Symbolik", um es mit der SPD zu sagen, damit das nicht jeder blickt.

Fußnoten:

[1] "Wir nehmen uns nicht die Freiheit, uns zu quälen". Von Roland Matthes. 12.08.2012.
http://www.welt.de/sport/olympia/article108574417/Wir-nehmen-uns-nicht-die-Freiheit-uns-zu-quaelen.html

[2] "Vier Jahre Olympiapause sind zu lang". Von Prof. Helmut Digel. 20.08.2012
http://www.tagesspiegel.de/sport/vier-jahre-olympiapause-sind-zu-lang-sportfunktionaer-digel-wir-brauchen-europaeische-spiele/7019280.html

[3] Interview mit Prof. Eike Emrich. 09.08.2012.
http://www.faz.net/aktuell/sport/sportsoziologe-eike-emrich-warum-nicht-200-000-euro-fuer-einen-olympiasieg-11850446.html

[4] http://dosb.de/uploads/media/bewertung_london_beschluss_12_09.pdf

26. September 2012