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KOMMENTAR/249: Arena frei zur Marktathletik (SB)


Geheimsache Spitzensportförderung - Kampagne statt Aufklärung


Während der Medienmainstream im Gefolge der skandalträchtigen ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping - wie Russland seine Sieger macht" mit inquisitorischer Observanz vor fremden Türen kehrt, als sei ein neuer Kalter Krieg im Sport ausgebrochen, wird ein weiteres Elitenprojekt der Medaillenproduktion, die "Strukturreform des deutschen Spitzensports", nahezu vollständig den Augen medialer und parlamentarischer Öffentlichkeit entzogen. Erst nach den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro soll dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages das fertige Konzept vorgelegt werden. Nach mehreren gescheiterten Olympiabewerbungen (zuletzt München und Hamburg) sowie katastrophaler Ansehensverluste führender Sportorganisationen und -verbände geht auch in "Sportdeutschland", insbesondere den institutionellen Trägern, die Angst vor weiteren Akzeptanzeinbußen um. Damit nicht noch mehr Porzellan zerschlagen wird, findet der gesamte Evaluierungs- und Reformprozeß ohne öffentliche Debatten und Bürgerbeteiligung statt. Alles bleibt in der Hand des für den Spitzensport zuständigen Bundesinnenministeriums und bestellter Experten aus dem sportpolitischen und -wissenschaftlichen Hofstaat des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).

Um nicht gänzlich den Eindruck zu erzeugen, nur als Abnickerklub des Spitzensports und seiner "Gesamtempfehlungen" zu fungieren, haben vereinzelte Sportausschuß-Mitglieder die Vorgehensweise von Innenbehörde und DOSB kritisiert. Doch die Geheimsache ist beschlossen, selbst zwischenzeitliche "Wasserstandsmeldungen" wurden von Innenminister Thomas de Maizière, zusammen mit DOSB-Chef Alfons Hörmann Kopf der Steuerungsgruppe, unter Nennung fadenscheinigster Gründe verweigert. Die für September geplante öffentliche Anhörung zur innersportlich höchst kontrovers diskutierten Leistungssportreform wurde auf Bitten der Bundesregierung auf den 19. Oktober verschoben, berichtete der Deutschlandfunk. An diesem Tag wolle Thomas de Maizière die beschlossene Reform vorstellen. "Die Abgeordneten sind bisher an dem Prozess nicht beteiligt und werden es wohl auch in Zukunft nicht sein." [1]

Allenfalls wird es also noch kosmetische Veränderungen geben, damit der parlamentarische Schein gewahrt bleibt. Daß von der ebenfalls im Sportausschuß vertretenen Linkspartei ein nennenswerter Beitrag zur Problematik der Spitzensportförderung kommt, der sich auch nur im entferntesten emanzipativer Fragestellungen besinnt, ist indessen nicht zu erwarten. Seit der Fußballschiedsrichter André Hahn, der sich vehement für den Erhalt der Spitzensportförderung einsetzt, die Position der Linkspartei auf Bundesebene vertritt, herrscht dort reiner Sportfunktionalismus vor - fernab jedweder Kritik am neuen Law-and-Order-Sport oder auch nur einer Spur des Begreifens, welch buchstäblich durch Mark und Bein gehendes Mitläufertum der repressive Spitzensport in postdemokratischen Gesellschaften entfacht.

Unterdessen hat Sylvia Schenk von Transparency International einmal mehr ihre mahnende oder vielmehr vermittelnde Stimme erhoben. Die frühere Radsportpräsidentin forderte mehr Öffentlichkeit über den Bundestag hinaus: "Wir brauchen eine Debatte darüber, welche Art von Spitzensport wir uns eigentlich leisten wollen und warum. Solange das nicht passiert, müssen wir uns nicht wundern, dass es bei einem Referendum keine Mehrheit für Olympia gibt." [2]

Nicht nur das "Warum" wäre allerdings einer gründlichen Erörterung wert, sondern auch das "Warum nicht". Die Funktionsträger im BMI und DOSB haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um eine ergebnisoffene Debatte darüber zu verhindern, ob ein Spitzensport, der sich nach innen und außen immer repressiver konstituiert, um den Anschein "sauberer" Leistungssteigerungen und Medaillenjagden zu erwecken, für eine offene, sich demokratischer Prinzipien rühmende Gesellschaft überhaupt noch tragbar ist. Wie jedem klar ist, der nicht mit den Wölfen heult, kann die konsequente Umsetzung eines "dopingfreien Sports" nur in den globalen Überwachungsstaat mit heute noch nicht für möglich gehaltenen Zugriffs-, Kontroll- und Sanktionsrechten der Kontrolleure und Polizeien münden. "Es darf keine weiße Flecken mehr auf der Welt geben, wo keine Dopingkontrollen durchgeführt werden", forderte kürzlich der Chefjustiziar der Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA) Lars Mortsiefer im Deutschlandfunk. Der Mann will auch Nachtkontrollen durchführen und macht sich für ein "freiwilliges" elektronisches Ortungssystem stark, das Athleten ständig bei sich tragen sollen, damit Kontrolleure und Kontrollierte noch einfacher zueinander finden können. Und natürlich hatte Mortsiefer Werbung für das Anti-Doping-Gesetz gemacht und sich vehement dafür eingesetzt, russische Athleten - auch die unbescholtenen - komplett von den Olympischen Spielen auszuschließen.

Diese strafwütigen Kontrolltechnokraten, die sich auch den Datenschutz Untertan gemacht haben, sind ja nicht zimperlich. So ist das Ansinnen verschiedenster Anti-Doping-KämpferInnen keineswegs vom Tisch, doch gleich alle Bürger per Gesetz zu kriminalisieren, die sich mit zuvor illegalisierten Substanzen oder Methoden einen "Wettbewerbsvorteil" gegenüber ihren Mitbürgern verschafft und damit die "Integrität der Leistungsgesellschaft" untergraben haben. Im Bereich der digitalen Selbstvermessung und -optimierung ist das paternalistische Postulat, sich auf das moralisch, körperlich oder wettbewerblich erwünschte Regelmaß zu bringen, als sublimer Zwang bereits allgegenwärtig. Schon jetzt laufen Selbstvermesser bei devianten Körperwerten, Bewegungsprofilen oder Ernährungsdaten Gefahr, zum Beispiel bei der Jobsuche oder gegenüber Versicherungen Nachteile zu erleiden.

Daß im ausgedehnten Überwachungsprogramm der Welt-Doping-Agentur WADA noch viele "Lücken" zu schließen sind, um eine niet- und nagelfeste Totalkontrolle der Athleten ins Werk zu setzen, steht vollkommen außer Frage. Erst kürzlich bezeichnete der Anti-Doping-Kämpfer Prof. Gerhard Treutlein das gegenwärtige Nachweissystem der WADA als "Verarschung der Öffentlichkeit" [3]. Er bezog sich dabei auch auf Einschätzungen des Mainzer Sportmediziners Perikles Simon, der ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert hatte - was leider viel zu selten geschieht, denn natürlich haben auch die Anti-Doping-Agenturen aus berufsständischen wie unternehmerischen Gründen kein Interesse daran, den Konsumenten des "sauberen Sports" die Widersprüche und Fehlleistungen des Anti-Doping-Regimes auf die Nase zu binden. Jedenfalls nicht in der Weise, daß dem Bürger aufgehen könnte, welch fatale Auswirkungen die Durchsetzung der Doping-Prohibition auf seine eigene, von künstlichen Surrogaten und medizinischer Protetik gefederte Lebenswirklichkeit haben wird. Generalverdacht, gegenseitige Bezichtigung und soziale Zerfleischung, wie sie im "vorbildlichen" Spitzensport Hochstände feiern und der eigentliche Zweck der Übung sind, würden dann nicht mehr nur auf die Athleten beschränkt bleiben.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung hatte Prof. Perikles Simon dem weltweiten Doping-Kontrollsystem völliges Versagen attestiert. Es gebe nach wie vor eine Reihe von Substanzen, die nicht nachgewiesen werden könnten. Dazu gehörten Designermittel, veränderte Steroide, aber auch das altbewährte Humaninsulin. Besonders in den Trainingsphasen pumpten sich Athleten voll. Außerdem sei die Gefahr groß, daß man mit dem jetzigen Kontrollsystem unschuldige Sportler überführe. Da die Zuverlässigkeit von Dopingtests angeblich bei 99,9 Prozent liege, würden bei weltweit rund drei Millionen Tests in 3000 Fällen ein falsches Ergebnis vorliegen. Zugleich erklärte Simon, daß Doping indirekt auch durch Aussagen wie die von Thomas de Maizière (CDU) gefördert werde: "Auch jetzt fordert der Innenminister 30 Prozent mehr Medaillen, und so lange es da kein plausibles Konzept gibt, wie diese Medaillen entstehen sollen, gehe ich wie etliche meiner Kollegen davon aus, dass wir so etwas eigentlich nur durch Doping erreichen können." [4]

Daß eigentlich eine Sportrevolution anstelle einer Spitzensportreform erforderlich wäre, ist natürlich auch den deutschen Spitzensportfunktionären klar. Mit Kreide in der Stimme sprechen deshalb Hörmann, Vesper und Co. bei den Olympischen Spielen davon, daß die Fixierung auf Medaillengewinne nach dem Doping-Skandal um Rußland nicht die erste Priorität habe. "Gerade in solchen Zeiten, in denen wir über Manipulation, unfaire Wettbewerbe und viele weitere kritikwürdige Dinge zu diskutieren haben, sollte der Fokus weniger auf Metall, sondern vielleicht wieder mehr auf Charakter, Herzblut und Leidenschaft liegen", sagte DOSB-Präsident Hörmann gegenüber dpa. [5]

Wohlgemerkt: Dies erklärt Hörmann, obwohl laut Anfrage der Bundestags-Wochenzeitung "Das Parlament" eine BMI-Sprecherin bereits durchblicken ließ: "Das Fördersystem soll von einer eher retrospektiven Betrachtung der Verbände hin zu einer auf Potentialanalyse gestützten, perspektivisch ausgerichteten Förderung umgestellt werden. Sie soll sich verstärkt auf Sportarten mit Medaillenpotenzial konzentrieren." [2]

Um eine Revolution, die beispielsweise mit dem olympischen Steigerungsimperativ "schneller, höher, stärker" bricht, das Rekordprinzip in Frage stellt oder die Instrumentalisierung der Medaillengewinner für staatliche und militärische Renommierzwecke aufkündigt, unter allen Umständen zu verhindern, haben die DOSB-Planer sogar ein "Strategiepapier" vorbereitet, das die altbekannten Zielstellungen und Werthaltungen des elitären Spitzensports auf eine neue Transparenzfolie schweißt. Der Entwurf kann im Internet abgerufen werden und trägt den Namen "DOSB 2020 - Die starke Stimme des Sports" [6]. Das Eckpunktepapier soll u.a. dazu beitragen, die gesellschaftliche Anerkennung der Leistungen des organisierten Sports zu verbessern und die "Bevölkerung in Deutschland von Olympischen Spielen zu überzeugen".

Das Wort "Medaille" taucht in dem Entwurf gar nicht auf, entsprechende Forderungen verstecken sich aber in Zielen wie "die internationale Wettbewerbsfähigkeit im Spitzensport stärken (Ausbau der gesellschaftlichen Akzeptanz für den Spitzensport, Erhöhung der Effektivität und Effizienz im Spitzensport)". Um die "Integrität sportlichen Wettbewerbs zu sichern", will der DOSB "rigide gegen Doping und Wettbetrug vorgehen". Das heißt "Mittelaufwuchs" in allen Bereichen: Mehr Fördergelder in den Sportzirkus, damit "deutsche Athletinnen und Athleten auch zukünftig Spitzensport auf Weltniveau leisten können", wie es im Strategiepapier heißt, sowie weitere Steuermillionen in die Kontroll- und Überwachungsapparate, damit die anvisierten Leistungssteigerungen auch vermeintlich "sauber" erbracht werden. Um diesen kreisenden Wahnsinn der Bevölkerung verdaulich zu machen, soll "eine neue Gesellschaftskampagne" als "Teil der Markenstrategie" des DOSB aufgelegt werden, "die auf einer breiten Basis des organisierten Sports seine besonderen Leistungen für die Gesellschaft öffentlich darstellt".

Das Ganze ist modernes Akzeptanzmanagement pur. Das Papier liest sich wie eine Anleitung, das vorherrschende System zu bewahren und die wachsenden Widerstände in der Bevölkerung gegen die Megaprojekte und marktkonformen Zielstellungen der Leistungseliten mit hehren Worten und integrativen Mitteln zu neutralisieren. Weil die Beschwörungsformel des DOSB, "Olympische und Paralympische Spiele würden den Sport in Deutschland, die Wirtschaft und die Infrastruktur in der ausrichtenden Region stärken, ein großes Identifikationspotenzial schaffen und wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllen", in Hamburg oder Berlin so hohl klingt wie in Rio oder Tokio, bedarf es nicht nur entwickelter Kommunikationsstrategien, um die "demokratische Einbindung der Bevölkerung sowie den aktiven Dialog mit den betroffenen Interessensgruppen (Stakeholder)" zu erreichen, wie es in dem Papier heißt, sondern auch ausgefeilter Kooperationsstrategien, um gesellschaftlich noch nicht vollständig ökonomisierte Kräfte und Gruppierungen vereinnahmen zu können. So möchte der DOSB "Bündnisse mit anderen Non-Profit-Organisationen auf- bzw. ausbauen". Mit diesem Netzwerk aus Bündnispartnern versucht der DOSB "gemeinsamen gesellschaftspolitischen Zielen ein stärkeres Gewicht zu verleihen". Verkauft wird dieses "starke Netzwerk" als "Chance, die Interessen des gemeinwohlorientierten Sports zu sichern".

Daß der (Spitzen-)Sport ein gesellschaftspolitisches Herrschaftsinstrument ersten Ranges darstellt, das in seiner auf den verschleißträchtigen Elitesport ausgerichteten Organisationsform alles plattwalzt, was sich nicht in die Industrienormen körperlicher Zucht und sportartspezifischer Zurichtung einfügt, wird zwar zwischen den Buchdeckeln kritischer Sozialwissenschaft oder in einigen akademischen Elfenbeintürmen diskutiert, nicht aber in der breiten Medienöffentlichkeit, schon gar nicht in Sportlobbyistenausschüssen des Bundestages. Solange diese Diskussion von oben unterbunden wird, bleibt es bei der "Verarschung der Öffentlichkeit".

Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/bundesregierung-kein-interesse-am-sportausschuss.890.de.html?dram:article_id=359381. 06.07.2016.

[2] http://www.das-parlament.de/2016/30_32/themenausgaben/-/435834. 25.07.2016.

[3] http://www.swr.de/sport/ioc-anti-doping-kaempfer-ueber-thomas-bach-wer-die-klappe-aufmacht-wird-bestraft/-/id=1208948/did=17851760/nid=1208948/1a82kkb/. 26.07.2016.

[4] http://www.sueddeutsche.de/sport/perikles-simon-russland-ist-ueberall-1.3087682?reduced=true. 20.07.2016.

[5] http://www.sueddeutsche.de/news/sport/olympia-dosb-chef-skandalfreiheit-statt-medaillen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160801-99-897349. 02.08.2016.

[6] https://www.dfk.org/fkk/images/stories/PDF/DOSBStrategiepapierEntwurf.pdf. Juni 2016.

10. August 2016


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