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KOMMENTAR/274: Ohne Vergleich - die konkurrenzfreie Zone ... (SB)



Der olympische und paralympische Sport, der Leistung, Konkurrenz und Wettbewerb über alles stellt, wirft seine dunklen Schatten voraus. Weil bei einem vorolympischen Test in Tokio zwei Triathletinnen Händchen haltend und damit "regelwidrig" die Ziellinie überquerten, wurden sie von der Internationalen Triathlon Union (ITU) disqualifiziert. Die beiden Finisherinnen Georgia Taylor-Brown und Jessica Learmonth (beide England), die trotz der körperlichen Strapazen (1,5 km Schwimmen, 40 km Radfahren, 10 km Laufen bei hohen Temperaturen und hoher Luftfeuchtigkeit) sowie des immensen Leistungsdrucks noch zu einer der Gegnerin Respekt zollenden Geste fähig waren, wie sie im internationalen Wettkampfsport normalerweise nicht üblich ist, traf die volle Härte des Gesetzes. Wie der Dachverband auf seiner Website ausführte, haben die Läuferinnen gegen Regel 2.11.f. verstoßen, wonach "Athletinnen disqualifiziert werden, die ein künstliches Unentschieden herbeiführen und bei denen kein Bemühen sichtbar war, in unterschiedlichen Zeiten ins Ziel zu kommen". [1]

Im Wüstenstaat Katar, wo die Leichtathletik-Weltmeisterschaft bei Temperatur- und Klimaextremen stattfand, die den Hochleistungssport wie ein Feldversuch für zukunftsweisende Resilienzforschung erscheinen ließ, spielten sich ähnliche Szenen ab. Weil im Vorlauf über 5000 m der abgeschlagene Braima Suncar Dabo (Guinea-Bissau) den völlig entkräfteten und von Krämpfen geplagten Jonathan Busby (Aruba) über die Ziellinie schleppte, wurde er vom Weltverband IAAF nachträglich disqualifiziert. Während Zuschauer und Medien eine "Geste voller Fair Play, Sportsgeist und Menschlichkeit" (Die Welt) feierten, beharrte der Weltverband auf die Gültigkeit seiner Regel 144.3, die unerlaubte Hilfe - auch unter Athleten - verbietet.

Wofür stehen also der Wettkampfsport, seine konstitutiven Regeln und gesellschaftliche Vorbildpropaganda? Laut Bundesinnen- und -sportminister Horst Seehofer (CSU) verbinde der Sport die Menschen und eine sie in ihrem Wunsch, zu siegen und das Beste zu geben. Tatsächlich aber gibt es keinen Sieger ohne Verlierer, und auch das Beste braucht das Schlechte, um sich im Vergleich zu produzieren. Die zentrale und unmißverständliche Botschaft, die in keiner Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums steht, lautet denn auch: Wer menschliche Regungen zeigt, die nicht unbedingt darauf abzielen, im sportlichen Mitstreiter einen Gegner zu sehen, den es zu besiegen oder zu distanzieren gilt, gehört bestraft. Das ist auch die Botschaft, die der Triathlon-Weltverband mit seiner Entscheidung, die siegreichen Starterinnen in Tokio zu disqualifizieren, an alle aussendet. Und das ist die Lektion, die alle Sportlerinnen und Sportler zu lernen haben: Wer aus seiner Rolle fällt und das Trennende im Sport auch nur für Momente zu überwinden trachtet, und sei es aus einer spontanen Reaktion der Solidarität mit dem Leidensgefährten heraus, die nicht der kalten Logik des Siegenmüssens entspringt, wird im Wettkampfsport gnadenlos bekämpft - von der Politik, den Funktionären, den Trainern, den Medien, den Zuschauern, den Wettanbietern, den Zockern und nicht zuletzt den SportlerInnen selbst, die allesamt ein ideelles und/oder geschäftliches Interesse daran haben, daß die Basis des gegenseitigen Vergleichs, und mag sie noch so abstrakt und künstlich sein, nicht wegbricht.

Seit den Sklavenhaltergesellschaften der Antike hat sich das Wettkampfmodell über alle Zeitläufte hinweg als beständige Herrschaftsform erwiesen. Während die politische Arbeitersportbewegung, in der individualistisches Konkurrenzdenken klein- und solidarisches Handeln mit Rücksicht auf die Schwachen großgeschrieben war, an den inneren und äußeren Widersprüchen des Leistungsdarwinismus und seinen gesellschaftlichen Treibfunktionen gescheitert ist, hat sich die kapitalistische Wettbewerbsideologie zur alles vereinnahmenden und bestimmenden Größe im Sport entwickelt. Regeln und Regelwerke sind im heutzutage weitgehend kommerzialisierten und professionalisierten Sport Instrumente, um die Kommodifizierung des Leistungssubjektes und seine Einpassung in die Marktstrukturen möglichst lückenlos zu gestalten. Die Freiheit des Individuums, dem "Chancengleichheit" oder "faire Wettkampfbedingungen" unter gleichzeitiger Ausblendung der Kontrafakten versprochen werden, liegt ausschließlich darin, daß es seine Haut in Konkurrenz zu anderen zu Markte tragen darf. Der alte Spruch "Konkurrenz belebt das Geschäft" ist zur unabweislichen Alltagsideologie geworden. Es spielt keine Rolle, ob Athleten oder Athletinnen sich dabei über kurz oder lang körperlich schädigen, eben noch Wimbledon oder die olympische Goldmedaille gewonnen haben, um kurz danach ihr Karriereende zu verkünden, weil sich aus dem maladen Körper keine Spitzenleistungen mehr herauspressen lassen und Sportärzte ans Ende ihres Therapie- und Reha-Lateins geraten sind. Die Hauptsache ist, daß der Wettbewerb, der die Bindung aller Beteiligten an einheitliche Regeln - nicht etwa an gleiche Bedingungen - voraussetzt, nicht in Frage gestellt wird.

"Dass man sich als Profisportler detailliert mit den Regularien seiner Sportart auseinander setzen sollte, haben nun auch zwei britische Triathletinnen gelernt", resümierte die Sportunterhaltung süffisant, nachdem sich die Britinnen in einem unbedachten Moment wettbewerbswidrig die Hände beim Zieleinlauf gereicht hatten. [2] "Der Spitzensport hat heute etwas Gnadenloses, weil die Athleten dem Erfolg um jeden Preis verpflichtet sind. Häufig genug entscheiden sie nicht für sich selbst, sondern unter dem Erwartungsdruck von Sponsoren, Verbandsfunktionären, Journalisten und ehrgeizigen Trainern. Darum wundert es niemanden mehr, dass Gesten der Fairness im Sport selten geworden sind oder zu einem hohlen Ritual zu verkommen drohen", urteilte vor zehn Jahren der Diplom-Sportlehrer Matthias Wilke in seiner Doktorarbeit "Das Ende der Fairness? Ethische Werte aus dem Sport im Spiegel der Gesellschaft". [3]

Die Heilserwartung auch vieler AkademikerInnen, dem Postulat der formellen und informellen Fairness, die sich nicht selten im Widerstreit mit dem harten Regelwerk der Verbände befindet, dadurch Geltung zu verschaffen, daß die Regeln, Kontrollen und Sanktionen im Wettkampfsport immer weiter verschärft werden, hat sich nicht erfüllt. Die Kriminalisierung von Sportregelverletzungen und der vergebliche Versuch, mit nackter Repression die Geister einzufangen, die der gnadenlose, mit "epochalen" staatlichen Fördermillionen forcierte Konkurrenzkampf im Hochleistungssport überhaupt erst geschaffen hat, mündet aktuell in die Forderung des polnischen Sportpolitikers und designierten WADA-Präsidenten Witold Banka, im weltweiten Kampf gegen Doping verstärkt Geheimdienste und verdeckte Ermittler einzusetzen. [4] Worüber kein Medium berichtet, das den Law-and-Order-Sport ungeachtet seiner für demokratische Gemeinwesen verheerenden Absehbarkeiten propagiert: Der ehemalige Spitzenathlet trat 2016 der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) bei, just zu einem Zeitpunkt, als die Regierung ein umstrittenes Überwachungsgesetz in Kraft setzte, das es Polizei und Geheimdiensten in seinem Land ermöglicht, ohne richterlichen Beschluß die gesamte Datenkommunikation aller Bürger zu sammeln und bis zu 18 Monaten abzuspeichern. Erst im nachhinein müssen Richter prüfen, ob die Ermittlungsbehörden korrekt gehandelt haben und die Daten, mit denen sich umfassende Kontakt- und Bewegungsprofile erstellen lassen, weiterhin benutzen dürfen. Bankas PiS-Partei steht außerdem bei der EU-Kommission in der Kritik, eine Justizreform in Polen durchgeführt zu haben, die auf eine Gleichschaltung der Gerichte hinausläuft, die Gewaltenteilung untergräbt und demokratische Grundwerte verletzt.

Die geheimpolizeiliche Infiltrierung und Überwachung des Sports, der seine LeistungsbringerInnen schon jetzt unter generalisierten Betrugsverdacht stellt, steht symptomatisch für sich offen oder liberal gebende, aber zunehmend autoritärer waltende Gesellschaftsformationen, die das in Konkurrenzkämpfen verstrickte Individuum immer enger an die Kandare von Kontrolle und Überwachung legen, um die kapitaldominierte Post-Wachstumsordnung trotz aller wettbewerblichen Dysfunktionen aufrechterhalten zu können. Wenn bei Sportgroßereignissen wieder einmal nationale Zusammengehörigkeitsgefühle oder die integrativen Werte des Schneller-Höher-Weiter-Sports beschworen werden, sollte man sich angelegentlich daran erinnern, daß der Preis für den sozialen Konsens des Miteinanders in der totalen Verinnerlichung der Konkurrenzregeln liegt. Das geht buchstäblich bis ins Fleisch und wird zum Ausschlußkriterium für alle, die nicht in das tradierte Wettbewerbsraster passen. So wird von Athletinnen, deren genetische oder biologische Eigenarten sich angeblich nicht mit den zweigeschlechtlich kodierten Konkurrenzregeln des Wettkampfsports vertragen, verlangt, sich medizinisch behandeln zu lassen. Um an internationalen Rennen teilnehmen zu können, wird beispielsweise von der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya gefordert, ihren natürlichen Testosteronspiegel mit womöglich krebserregenden Medikamenten unter den wissenschaftlich verbürgten Grenzwert zu drücken, der für Frauenwettbewerbe als Referenzmaß angenommen wird. "Die Vorschriften, die wir einführen, dienen dem Schutz der Unantastbarkeit eines fairen und offenen Wettbewerbs", lautet die absolutistische Formel von Sebastian Coe, Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF [4], und er kann sich des Rückhalts von Politik und Wirtschaft sicher sein, die den kapitalistischen Wettbewerb zur unumstößlichen Konstanten menschlichen Schaffensdranges erklärt haben. Sebastian Coe gehört zu den Hauptprofiteuren des kommerziellen Sports. Mit seinem Firmenkonglomerat, u.a. Chime Sports Marketing (CSM), scheffelt der englische "Lord" jedes Jahr Abermillionen auf den nationalen und internationalen Event- und Fitnessmarktplätzen. Dagegen mutet sein Vorgänger, der in Frankreich wegen Korruptionsvorwürfen festgehaltene Ex-IAAF-Chef Lamine Diack, wie der reinste Dilettant an.

Wer sich indessen erdreistet, den Konsens der Global Player anzutasten, mithin die "Unantastbarkeit" eines wie auch immer etikettierten "Wettbewerbs" bestreitet, macht sich offenbar der Todsünde verdächtig und zieht sich nicht nur die Feindschaft der Sportfunktionäre und aller übrigen zu, die sich mit Leib und Seele dem Wettkampfsport verschrieben haben. Man bekommt es auch mit der gewohnheitsphlegmischen Wucht der Fatalisten zu tun, die da meinen, das sei eben Sport, und wer da mitmache, der müsse auch seine Regeln akzeptieren und den vollen Preis der Unterwerfung bezahlen.

Statt zu reklamieren, daß das gutbürgerliche Gerechtigkeitsideal der Fairness in einer Krise stecke oder sich Fairplay-Gesten im Sport auf dem Rückzug befänden, wie von kritischen Beobachtern des hoffnungslos überdrehten Sportzirkus immer wieder bemängelt, sollten sie lieber fragen, ob das Insistieren auf Fairness nicht das eherne Verschlußstück jedweder ernstgemeinten Kritik darstellt, an den Verhältnissen zu rütteln, die als in Stein gemeißelt gelten. Das schließt die Frage mit ein, ob das gerechtigkeitstheoretische Konstrukt der Fairness als Dauerausrede und moralisch-ethischer Steigbügelhalter für fortgesetzte Konkurrenz und Wettbewerb nicht vollständig zu verwerfen sei, um emanzipatorische Schritte in Kultur und Praxis gesellschaftlichen Zusammenlebens überhaupt in Angriff nehmen zu können.

Fußnoten:

[1] https://www.triathlon.org/news/article/duffy_wins_womens_tokyo_test_event_several_athletes_book_olympic_places. 15.08.2019.

[2] https://www.sport1.de/triathlon/2019/08/triathlon-learmonth-und-taylor-brown-nach-gemeinsamem-zieleinlauf-bestraft. 15.08.2019.

[3] http://esport.dshs-koeln.de/312/1/Dissertation_Das_Ende_der_Fairness_Wilke.pdf

[4] https://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/designierter-wada-chef-will-geheimdienste-staerker-einbinden-16380415.html. 12.09.2019.

7. Oktober 2019


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