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KOMMENTAR/281: Sterben der Bewegungsfreiheit ... (SB)



Um im Hochleistungssport Menschen als Sünder, Betrüger oder Verbrecher zu brandmarken, reicht es nicht aus, nur von der eigenen Unschuld, Reinheit oder Sauberkeit überzeugt zu sein. Es bedarf auch der steten Ausblendung all der Widersprüche, Aporien und gesellschaftlichen Zwangslagen, um den Natürlichkeitsmythos sportlicher Spitzenleistungen aufrechterhalten und Abweichungen von den Idealen moralisch verdammen sowie (sport-)juristisch verfolgen zu können. Wenn Journalisten den Gigantismus der Olympischen Spiele oder die Großmannssucht der Funktionäre im Sportgeschäft anprangern, dann vergessen sie in der Regel zu erwähnen, welch riesiger, vermeintlich "natürlicher" Aufwand betrieben wird, um den Anschein von "sauberen", nur mit "Talent und Fleiß" erbrachten Spitzenleistungen zu erwecken. Tatsächlich läuft ohne schmerzstillende oder traumabehandelnde Pharmazie, sportwissenschaftliche Leistungsoptimierung - neuester Schlager ist "Mitochondrientraining" -, Rehakliniken und Talentezüchtung gar nichts im Spitzensport. Die Lüge vom "nicht manipulierten Athletenkörper", der gemeinhin dem gedopten Athletenkörper gegenübergestellt wird, ist so monströs, dass Heerscharen von Kontrolleuren, Biochemikern, Medizinern, Journalisten, Rechtsanwälten, Richtern, Polizisten und Ethikern nötig sind, um sie gesellschaftlich tragen und über berufsständische Beteiligungssysteme absichern zu können. Das schafft und erhält zwar die Jobs, doch zu wessen Lasten?

"Dies ist ein Film, der den weltweiten Kampf gegen Doping verändern wird", lautet nun die Ansage der ARD-Dopingredaktion, der kurz vor den Olympischen Spielen in Tokio ein neuer Coup gelungen ist. In der 52minütigen Dokumentation "Geheimsache Doping: Schuldig - Wie Sportler ungewollt zu Dopern werden können" von Hajo Seppelt, Bettina Malter, Jörg Winterfeldt, Nick Butler und Josef Opfermann wird aufgezeigt, dass schon ein kurzer Hautkontakt zu positiven Dopingtests führen kann. Bei dem Experiment, das von der Ethikkommission der Universität zu Köln genehmigt worden war, erhielten zwölf Probanden geringe Mengen verschiedener Anabolika mittels einer Trägersubstanz über die Haut verabreicht - durch kurze Berührungen an Hand, Nacken und Arm. Bei allen Testpersonen ergaben die Erstauswertungen der Proben durch das Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln massiven Dopingverdacht. Die verbotenen Substanzen, im Experiment in Minimaldosen appliziert, waren teilweise bereits nach einer Stunde und bis zu 15 Tage lang nachweisbar. [1]

Das simple Experiment hat somit bewiesen, dass Sportlerinnen und Sportler mit leichter Hand zu Dopern gemacht werden können - mit gravierenden Folgen für die Beschuldigten. "Unbemerkte Dopinganschläge machen es für betroffene Athlet*innen nahezu unmöglich, ihre Unschuld zu beweisen. Zerstörte Karrieren, immenses psychisches Leid und irreparabler Schaden der persönlichen Reputation können die Folgen sein", heißt es in einer Stellungnahme des Lobbyvereins "Athleten Deutschland e.V." [2], was noch zurückhaltend ausgedrückt ist, denn neben langjährigen Berufsverboten, Kontakt- und Trainingssperren, Regresszahlungen, Sponsorenverlusten drohen positiv getesteten Athleten auch strafrechtliche Konsequenzen sowie geheime oder offene Ermittlungen gegen das vermeintliche Täterumfeld des Beschuldigten.

Würde man den organisierten Leistungssport einer unverblümten, von keinen politischen und wirtschaftlichen Nützlichkeitserwägungen korrumpierten Zäsur unterwerfen, müsste man ihn eigentlich als eine Art Unrechtssystem bezeichnen. Anders als im Strafrecht gelten in der Sportgerichtsbarkeit nicht Grundsätze wie "Keine Strafe ohne Verschulden" oder "Im Zweifel für den Angeklagten", sondern es gelten Prinzipien wie "Haftung ohne Verschulden" oder die "Strict liability" (strenger Verschuldensgrundsatz), das heißt, der Athlet ist für alles verantwortlich, was in seinem Körper vorgefunden wird, unabhängig davon, wie die möglicherweise verbotene Substanz dort hineingekommen ist. Um die Unterwerfung der Sportlerinnen und Sportler unter Zivilrecht und Sportgerichtsbarkeit sicherzustellen, werden sie faktisch gezwungen, die sogenannte Athletenvereinbarung zu unterschreiben. Wer diesen Vertrag nicht unterzeichnet, darf nicht an Olympischen oder Paralympischen Spielen teilnehmen.

Allein durch verunreinigte Nahrungsergänzungsmittel oder Ernährung (siehe etwa die Nandrolon-Problematik) waren in der Vergangenheit Hunderte von internationalen Athleten und Athletinnen über die Anti-Doping-Klinge gesprungen, ohne dass es die Sachwalter des NADA-/iNADO-/WADA-Komplexes sonderlich gekratzt hätte. Die Millionen an Fördergeldern, die Sport und Politik für die Dopingforschung freisetzen, dienen fast ausschließlich der Belastung von Athleten, nicht etwa ihrer Entlastung. Die Anti-Doping-Agenturen sind keineswegs neutrale Instanzen, wie der Laie vielleicht glauben mag, sondern sie fungieren im Dienste der Sportorganisationen letztlich als Legitimatoren des milliardenschweren Sportbusiness. Sie betreiben teilweise finsterste Kriminalisierungspolitik oder betätigen sich als Hüter einer schwarz-weiß-malenden Anti-Doping-Moral, während all die gesundheitlichen und sozialen Schäden, die der ökonomisierte Hochleistungssport auch ohne Doping anrichtet, außerhalb ihres Detektions- und Sanktionsschemas verbleiben. Und das soll bestimmt kein Plädoyer dafür sein, die Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen auch noch in die letzten Winkel unüberprüften Lebens zu treiben - was nämlich der Logik des repressiven Antidopingkampfes entspricht, wollten die nationalen Anti-Doping-Agenturen der Sportindustrie in Geist und Körper vollständig gesäuberte Medaillenkandidaten zuführen.

Unschuldig Schuldige wurden und werden in der Regel als Kollateralschäden des Antidopingkampfes hingenommen. Die Welt-Doping-Agentur WADA sagt selbst, dass ihr die Möglichkeit der Sabotage "gut bekannt" sei, dies würde aber als ein "sehr seltenes Ereignis betrachtet". [3] Fehlerhafte Befunde oder Falschpositive in der Dopinganalytik, wie sie etwa der renommierte Mainzer Sportmediziner Perikles Simon kritisierte, ehe er sich enttäuscht und desillusioniert aus dem internationalen Anti-Doping-Kampf zurückgezogen hatte, wurden und werden geflissentlich ignoriert oder beschwichtigt. [4]

Die im Sport praktizierte Umkehr der Beweislast, dass nämlich der Athlet seine Unschuld zu beweisen hat - und das fällt nicht nur sabotierten SportlerInnen äußerst schwer, sondern wird meist auch durch körpereigene Anomalien positiv Gewordenen zum Verhängnis (siehe Eisschnellläuferin Claudia Pechstein) -, steht nun erneut auf dem Prüfstand. Expertinnen und Experten fordern eine "Neujustierung" oder "Anpassung" der Beweisregeln, scheuen aber klare Worte, dass die Beweislastumkehr im Sport definitiv ein Ende haben muss. Am deutlichsten wurde noch die Rechtsprofessorin Angelika Nußberger. Der ARD gegenüber sagte die ehemalige Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wenn es "so extrem" sei, dass die Verabreichung eines Dopingmittels "quasi nicht merkbar und als Sabotageakt möglich ist", dann würde das bedeuten, "dass mit der Sanktion eine Menschenrechtsverletzung vorliegen würde". Der Sport müsste sich somit ein neues System suchen. [5]

Natürlich werden all die Kräfte und Instanzen, die das sportgerichtliche Unrechtssystem über Jahrzehnte aufgebaut, mitgetragen oder verteidigt haben, sich mit Zehen und Klauen gegen radikale Veränderungen wehren. Zwar haben Sportlerinnen und Sportler mittlerweile das Recht, Entschuldigungen anführen zu können, wie es zur positiven Probe ohne eigenes Verschulden gekommen sein soll, und die Sportschiedsgerichte berücksichtigen das teilweise auch als strafmindernd, doch insbesondere die Sportmedien greifen immer wieder skurrile Fälle auf und geben auf den ersten Blick unglaubhafte oder vielleicht sogar erlogene Entschuldigungen von Sportlern der Lächerlichkeit preis, so dass in der Gesellschaft weiterhin ein Klima der Vorverurteilung herrscht. Zudem sind es oftmals die Sportstars selbst, die sich einer Lockerung der WADA-Regeln in den Weg stellen und lieber ein vollkontrolliertes, quasi entrechtetes Sportlerleben im Anti-Doping-Regime führen als die Leistungs- und Marktprämissen ihrer Leidenschaft in Frage zu stellen. Nicht zu unrecht sagte der Triathlon-Olympiasieger Jan Frodeno, der mit anderen Spitzensportlern die ARD-Doku vor ihrer Ausstrahlung zu sehen bekam: "Ohne jetzt zu apokalyptisch zu klingen: Ich stelle mir die Frage, ob das vielleicht ein Stück weit das Ende des professionellen Sports sein könnte."

Auf keinen Fall! Das Unrechtssystem, das bis jetzt funktionierte, wird auch weiterhin funktionieren, nur noch perfekter und unangreifbarer. Mit ziemlicher Sicherheit wird es Änderungen bei den sportjuristischen Beweislastregeln, beim sogenannten Ergebnismanagement und im Disziplinarverfahren geben. Möglicherweise wird sich auch die Einsicht verbreiten, im Zweifel lieber ein paar DoperInnen laufen zu lassen als Unschuldige zu sanktionieren. Wesentlicher ist aber, dass die Maschen von Kontrolle und Überwachung noch enger gezogen und entsprechende Forschungsvorhaben in der Sportforensik intensiviert werden. Der Körper des ohnehin bereits weitreichend fremdbestimmten Athleten wird vermutlich noch effizienter mittels Urin-, Blut-, Steroid- und Langzeitprofilen (Stichwort: Biologischer Athletenpass) durchkämmt, vielleicht auch mit Bewegungs- und Aufenthaltsdaten abgeglichen werden, um die Wahrscheinlichkeit von Dopingapplikationen zur Be- oder Entlastung des Athleten interpretativ herzuleiten. Zudem ist davon auszugehen, dass die Anti-Doping-Forschung alles unternehmen wird, um Methoden zu entwickeln, Fremd- und Eigenmanipulation anhand biochemischer Signaturen unterscheiden zu können. Der Sublimierung der Dopingkriminalistik sind hier keine Grenzen gesetzt, und auch die Elitesportlervertretung "Athleten Deutschland" macht sich etwas vor, wenn sie einerseits den Schulterschluss mit der NADA aufrechterhält, andererseits auf eine menschenrechtliche Folgeabschätzung des WADA-Codes drängt, "um die fundamentalen Rechte von Athlet*innen zu wahren und gleichzeitig die Effektivität des Anti-Dopingkampfs nicht zu gefährden". Wer hier die Unvereinbarkeiten nicht erkennen will, trägt zum Fortbestand des Anti-Doping-Unrechtssystems bei.

Die Law-and-Order-Fraktion des Spitzensports hat sich auch schon zu Wort gemeldet. "Sabotageakte sind kriminelle Handlungen, da haben wir schon seit Jahren versucht, mit staatlichen Ermittlungsstellen zusammenzuarbeiten und dort schärfere Schwerter zu bekommen", erklärte NADA-Vorstand Lars Mortsiefer, der ständig nach härteren Maßnahmen und erweiterten Befugnissen ruft und nun in diesem Sinne anpacken und Lösungsansätze präsentieren will. [6]

Fußnoten:

[1] https://www.sportschau.de/geheimsache-doping/video-geheimsache-doping-schuldigwie-sportler-ungewollt-zu-dopern-werden-koennen-100.html. 16.07.2021.

[2] https://athleten-deutschland.org/2021/07/19/stellungnahme-zur-ard-dokumentation-geheimsache-doping-schuldig-wie-sportler-ungewollt-zu-dopern-werden-koennen/. 19.07.2021

[3] https://www.sport1.de/mehr-sport/2021/07/wada-zu-ard-doku-positiver-doping-test-nach-hautkontakt-sehr-seltenes-ereignis. 17.07.2021.

[4] https://www.allgemeine-zeitung.de/sport/weitere-sportarten/mainz/fehlerhafte-befunde-mainzer-sportmediziner-perikles-simon-ubt-harsche-kritik-an-dopinganalytik-der-nada_18339724. 23.11.2017.

[5] https://www.sportschau.de/geheimsache-doping/ARD-Doku-Geheimsache-Doping-Schuldig-Positiv-durch-Hautkontakt-100.html. 16.07.2021.

[6] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/125692/Nach-ARD-Doku-ueber-Hautkontakt-Doping-Athleten-sind-geschockt. 19.07.2021.

26. Juli 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 165 vom 31. Juli 2021


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