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BERICHT/019: "32 rue Vandenbranden" - Realitätsabgleich am Ende der Welt (SB)


Peeping Tom aus Brüssel auf dem Simple Life Festival 2010 auf Kampnagel


"32 rue Vandenbranden" ist ein Ort im Nirgendwo, es ist die Straße, in der ein Schmerz wohnt, der uns wohl bekannt ist, weil wir Menschen sind. Niemands wohnen hier, in der ungemütlichen Kargheit ihrer alltäglichen Abläufe, und sie tanzen für uns das grausame Spiel von Sehnsucht und Liebe, dessen zerstörerische Kraft uns erst bewusst wird, als wir merken, dass auch sie es nicht beherrschen. Am Rande ernüchternder Einsamkeit, in einem mystischen Bereich zwischen zivilisatorischer Entuferung und wilder Geborgenheit erfahren wir, was es bedeutet, den zarten Traum kindlicher Selbstvergessenheit und Nähe aufzugeben, um fortan in (selbst-)verräterischer Hingabe und sexueller Not die Gunst eines Anderen zu erbetteln.

32 rue Vandenbranden - © 2010 Peeping Tom

32 rue Vandenbranden
© 2010 Peeping Tom

Die Künstler der im Jahre 2000 von Gabriela Carrizo und Franck Chartier gegründeten belgischen Tanztheaterkompanie Peeping Tom aus Brüssel scheinen das clowneske Bedürfnis zu teilen, für ihr Publikum in die dreckigsten Tiefen menschlicher Lebenszusammenhänge vorzudringen. Wo alle ihre Augen niederschlagen, scheut Peeping Tom nicht den Blick auf das, was keinem bewusst werden soll. In ihrem 2009 entstandenen Stück "32 rue Vandenbranden" führen sie uns mit der augenzwinkernden Vielfalt ihrer tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten und dem vollen Ernst des absurden Theaters auf den schmalen Grat selbstkritischer Betrachtungen. - "32 rue Vandenbranden" ist gerade so seltsam, dass wir es noch ertragen und dabei so präzise, dass wir uns erschrecken.

In dem Moment, in dem jemand seinen Fuß in die schneebedeckte Nachbarschaft der rue Vandenbranden 32 setzt, sie besteht aus drei klapprig-grau befensterten Wohnbaracken, wie wir sie vielleicht am Übergang der Zivilisation zur steppenhaften Wildnis des ewigen Eises erwarten, tritt er auf die Schwelle zwischen Traum und Alptraum, spielerischem Übermut und bitterer Selbsterkenntnis. Das lebendige tänzerische, schauspielerische und musikalische Können des sechsköpfigen Peeping Tom-Ensembles, bestehend aus Jos Baker, Eurudike De Beul, Marie Gyselbrecht, Hun-Mok Jung, SeolJin Kim und Sabine Molenaar, die sich in "32 rue Vandenbranden" nicht auf Haupt- und Nebenrollen festlegen lassen, reißt sofort unsere volle Aufmerksamkeit an sich: Ein schreiendes Kind liegt unter einer Baracke. Die werdende Mutter Marie neigt sich zu ihm - und vergräbt es im Schnee, bis es still ist. Schweigend geht sie in ihr Haus und setzt sich hinter das Fenster, ihr mimikloses Gesicht leuchtet in groteskem Schein. Aus der anderen Hütte tritt Sabine. Sie tanzt ein atemberaubendes Solo und bewegt ihren Körper so gelenkig abgeknickt wie eine träumerische Trickfilmfigur.

Schamlos können wir auf die hinter Fenstern sitzenden schrägen Anwohner glotzen und sie starren schweigend zurück. Wir dürfen ihre Interaktionen beobachten, sie dafür verurteilen, sie sympathisch finden und dann wieder hassen, uns voller Abscheu vor ihrer hervorplatzenden Menschlichkeit ekeln oder sie für ihre schrecklichen zwischenmenschlichen Irrtümer bemitleiden, die wir selbst so gut kennen. Kann es denn überhaupt sein, dass diese Nachbarn, von denen sich einige bis zur vollständigen Selbstaufgabe in das Missverständnis werfen, das Liebe genannt wird, und andere diese fragile Situation in völliger Verwirrtheit ausnutzen, in Freundschaft miteinander verbunden sind? Oder waren sie alle Reisende, wie die beiden mongolisch aussehenden Ankömmlinge, die sich später als der Callboy Hun-Mok und ein unbedarfter Junge entpuppen, der sich am Ende sein leise pulsierendes Herz rausreißt, um es in einem Karton verpackt ausgerechnet der kontaktscheuen Marie zu schenken?

Der erste Auftritt der beiden Mongolen jedenfalls mündet in eine zum Glucksen komische Akrobatik. Auch andere Slapsticknummern lockern die ergreifende Dramatik des Stückes, sind einfach witzig und immer zum Staunen. Einer von ihnen hat sich ein riesiges Fellkissen als Gepäck auf den Rücken geschnallt und bewegt sich plötzlich nur noch mit Hilfe dieses gummiartigen Puffers fort, er wirft sich drauf und fliegt wieder hoch, um wieder umzupurzeln. Warum er das macht? Wir wissen es nicht. - Doch später, nach einem ausgeklinkten Fratzentanz, in dem er in weißem Feinripp, mit rollenden Augen und schiefem Grinsen dem Publikum sein ganzes erotisches Können anpreist, ahnen wir: Er macht es, weil er einfach frei ist, es zu tun. - Zum Glück wird er von einer Gruppe warm eingepackter Schneetouristen unterbrochen. Sie winken ihm zu und trotten mit ihren Skiern und Winterstiefeln wieder in die weiße schneeverwehte Landschaft des Bühnenbildes davon.

Hun-Mok in Aktion - © 2010 Peeping Tom

Hun-Mok in Aktion

© 2010 Peeping Tom

Jos und Sabine, das hübsche frisch verliebte Paar, verzetteln sich schnell in Provokation und Masochismus. Einer ist in der liebestrunkenen Belagerung des anderen gefangen, möchte sich vielleicht lösen, doch kommt nicht los. Diese ja eigentlich immer gleiche Geschichte von Liebe und Eifersucht wird in diffizilen Figuren ungewöhnlichster Akrobatik getanzt, so dass uns am Ende der überraschende Gedanke kommt, dass sie es vielleicht tatsächlich geschafft haben, alle Spielarten menschlicher Liebesbeziehungen, jedes feine Lehnen und Ablehnen, Streiten und Lieben körperlich auszudrücken. Besonders Sabine besticht dabei durch ihre außerordentliche körperliche Bewegungsfreiheit.

Einer der geheimnisvollsten Charaktere des Stückes ist eine Frau, Eurudike De Buel, die mit ihrer rauhen Stimme sowohl klassische Lieder, als auch den psychedelischen Pink Floyd-Song "Shine On You Crazy Diamond" singt und auf diese Weise Bühnengeschehen und musikalische Untermalung in ihrer Figur vereint. Zusammen mit unheimlichen Vogelschreien, knarrendem Quietschen, märchenhaftem Glockenspiel und dem versteckten Weinen eines Mädchens besteht diese Geräuschkulisse in der nächtlichen Schneelandschaft aus melodischen, doch immer beklemmender werdenden Elementen. Wie eine alte Mutter bewacht die Sängerin die anderen, spielt mit ihnen, als weiser und weicher, wohl im Ursprung verweilender freier Geist und bildet einen starken figürlichen Kontrast zu ihren Schützlingen, die sich hilflos immer weiter von sich selbst entfernen. Die Ängste und egomanischen Exzesse jedes einzelnen werden zur furchtbaren Realität der rue Vandenbranden 32.

Ein wiederkehrender heulender Sturm, dessen Unruhe unmittelbar mit der Gefühlswelt der Menschen und der Gewalttätigkeit der Ereignisse, die sich auf der Straße abspielen, zu korrespondieren scheint, steigert sich und bedroht alle. Laut rüttelt er an den Baracken und weht einen Tänzer sogar in der Luft umher, hebt ihn so an eine Hütte, dass er sich festhalten muss. Die Körperbeherrschung der Künstler ist auch im Zusammenhang mit diesem Wind geradezu unglaublich. Denn die Tanzenden wecken tatsächlich den Eindruck, als würden sie passiv bewegt werden, beispielsweise, wenn es so aussieht, als höbe eine heftige Böe ihre Körper an und wehe sie hoch. Die Illusion ist perfekt!

Auch wenn "32 rue Vandenbranden" nicht frei von Wiederholungen ist und die tiefe Nachdenklichkeit und schauspielerische Konsequenz der Kompanie nicht jedermanns Sache sein mag, die Akteure sind in ihrem intensiven Spiel mit der Wirklichkeit mehr als authentisch. Die Aussichtslosigkeit sozialer Gegebenheiten, die Einsamkeit und Verlorenheit eines jeden von uns, obwohl es doch immer möglich zu sein scheint, miteinander zu sprechen, werden uns schmerzlich bewusst. Peeping Tom schärfen uns ein, dass auch sie nicht wissen, wo das hier alles noch hinführen wird, dass es aber sehr wohl möglich ist, diese weltverlorene Verzweiflung unseres Daseins zu teilen. - Um es in den ans Publikum gerichteten Worten des verliebten Jungen zu sagen, der am Ende sein blutendes Herz verschenkt: "You know, I don't know, I don't know..."

24. November 2010