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BERICHT/033: Identitätsexploration Desh - Nicht zu begründender Fluch oder Fluch aus gutem Grund (SB)


Identitätsexploration Desh

Nicht zu begründender Fluch oder Fluch aus gutem Grund
Solo von Akram Khan

Sadler's Wells London 4. bis 8. Oktober 2011

von Britta Barthel


Desh - allem voran kann dies mit Sicherheit gesagt werden: Hier schuf der 37-jährige Choreograph und Tänzer Akram Khan ein Meisterwerk.
Dieses Stück, welches Khan in 85 Minuten ausschließlich allein als Solo auf der Bühne bestreitet, ist zum großen Teil autobiographisch inspiriert. Es ist eine hochgradig persönliche Reise, die, so Khan, erst mal die Zweifel seiner Mutter weckten, weil sie Sorge hatte, zu viel Privates auf der Bühne wiederzufinden. Der Vater jedoch, der im echten Leben gesund und lebendig eine Schlüsselrolle spielt, *die tot und zugleich als Hauptrolle entwickelt ist, ist begeistert. Für diesen Trip, der Akram Khan zu seinen Wurzeln, aber vor allem dichter an eine Verständigung mit seinen aus Bangladesh stammenden Eltern bringt, reist er ins selbige.

Akram Khan mit Laterne - Foto: © Sadler's Wells

Foto: © Sadler's Wells

Mit einer ganzen Crew aus erfahrenen Künstlern reist der Choreograph nach Bangladesh, eine Reise im Sinne der Forschung, Forschung für die Bühne. Hier jedoch fanden sie sich zu Anfang in einer schwierigen Situation. Sie fühlten sich nicht verbunden, fremd, wie auf Distanz. Alles wurde mit dem Handy gefilmt, um auch ja nichts zu verpassen oder zu verlieren. Während eines denkwürdigen Erlebnisses jedoch, bei dem Khan einen kleinen Jungen filmte, der mit seiner zerfledderten Kleidung und dürren Gestalt mit der Armut eindeutig nur allzu vertraut war und der gerade, als der Choreograph mit ihm Augenkontakt hatte und daraufhin das I-Phone sinken ließ, weil er es nicht für richtig hielt, weiter zu filmen, sein eigenes Handy aus der Tasche holte, grinste und begann seinerseits den Fremden zu filmen, wurden die Kameras weggelegt und durch den Anfang einer Verbindung ersetzt.

Die Bühne ist in ein nebliges grünlich weißes Licht getaucht und die Klänge einer fremden Stadt schallen durch das Theater. Und Akram Khan tanzt. In seinem höchst eigenen, kraftvollen, wendigen und außergewöhnlich konzentrierten Stil bewegt er sich über die Bühne und es macht fast den Eindruck, als betaste er die Klänge, die sich mit ihm durch den Raum bewegen. Hier, an dieser Stelle fühlt es sich an, als fände sich dieser erste Kontakt, diese Suche nach einer Verbindung, einem Anhaltspunkt, welche in Bangladesh das Erleben bestimmte, auf der Bühne wieder.

Nachdem die einsame Gestalt Khans in das grüne Licht der Bühne getreten ist und sich mit einer Laterne bewaffnet auf die Reise gemacht hat, führt er uns durch eine Welt voller Fragen, voller Gegensätze, aber auch voller Familie und Liebe. So spielt ein kleines Mädchen, das sich in diesem seinem Leben in Gestalt seiner Nichte manifestiert hat, eine Rolle voller Fragen und zugleich zeigt es eine beängstigende Ablösung von Wurzeln auf, indem es Dinge, die ihm von den Älteren erzählt werden, verwechselt oder beschreibt mit Begriffen modernster Technologie oder ureigensten Artefakten der heutigen westlichen - also ihrer - Welt. Auch dies geschieht auf den Spuren von Khans eigenem Leben seiner eigenen Identität. Denn Khan, dessen Eltern vom anderen Ende der Welt stammen, war laut eigener Aussage immer Brite, seine Heimat war und ist London. Und doch ist da dieser andere Teil, er ist überall, in seinen Ferien, in seinem Körper und vor allem in seinem zu Hause. Es ist dieser andere Teil, der, zusätzlich zu all den anderen Hürden der Generationen, die nun auch er mit seiner Nichte erlebt, die Kommunikation vor allem mit seinem Vater, aber auch mit seiner Mutter, schwierig machte.

Oberseite des haarlosen Kopfes - Foto: © Sadler's Wells

Foto: © Sadler's Wells

Als Akram Khan schon ziemlich zu Beginn des Abends die Oberseite seines haarlosen Kopfes dem Publikum zuwendet und als neuen Charakter mit neuem Gesicht und indischem Akzent vorstellt, wird ziemlich schnell die Genialität des Künstlers jenen bewusst, die um sie noch nicht wussten.

Mit Witz, Körperkunst und einem interaktiven Bühnengeschehen, das seines gleichen sucht, nimmt er uns mit auf diesen Trip, der auf den Spuren seiner und seiner Eltern Identität entlang führt.
In Antwort auf die einige Jahre alte Aussage eines Kritikers, dass Khan sich vor seinem Fluch der Identitätssuche in Acht nehmen solle, sagte dieser in der Gesprächsrunde nach der Performance von Desh, dass er das für großen Unsinn hielte, sei die Identitätssuche seiner Meinung nach doch die aller wichtigste Reise.

Akram Khan auf überdimensionalem Stuhl - Foto: © Sadler's Wells

Foto: © Sadler's Wells

Und so geht ein wunderschöner Abend zu Ende, an dem wir Performance in höchster Qualität und Liebe zum Detail genießen durften. Es geht auch ein Abend zu Ende, an dem wir das Privileg genießen konnten, den performativen Charme Akram Khans die ganze Zeit um uns zu haben.
Last but not least geht allerdings auch ein Abend zu Ende, an dem wir seinen persönlichen Charme einer leichten Zurückhaltung und der auch möglicherweise als kokette Unsicherheit zu interpretierenden Richtungslosigkeit - nicht nur im Gespräch im Anschluss, sondern auch direkt in der Performance - erlebten.

An dieser Stelle möchte ich gern kurz noch einhaken, leise nur und am Rande. Aber der Haken will geschlagen sein.
Nun wird gerne die Frage gestellt, ob jene, die das kritisieren, was nun mal wirklich gut, ja perfekt ist, wohl einfach nichts besseres zu tun haben. Nun, ich, die genau das zu tun gedenkt, finde, das ist sehr kurz gegriffen. Denn halten wir nur einen Moment inne und fügen der Produktion, die perfekt ist, nur einige Ecken und Kanten hinzu. Genau dort erwächst - so meine ich - eine Richtung und somit die Kunst.
Bei Akram Khan handelt es sich wirklich um einen Performance-Künstler außergewöhnlichen Formats und Könnens. Ich möchte hier am Ende nur eine Frage stellen: Was wäre, wenn dem nun noch jene Ecken und Kanten - und somit der Zauber der Schärfe - hinzu gefügt würden?
Diese seine Identitätssuche ist, so meine ich, in keiner Weise ein Fluch. Vielmehr erkennt Khan sie wohl instinktiv als eine Notwendigkeit, um dieses beschriebene Format, diese Kunst zu erreichen.

Sadler's Wells Theatre London - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

17. Oktober 2011