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BERICHT/037: Das Internationale Sommerfestival 2012 auf Kampnagel in Hamburg (SB)


Das Internationale Sommerfestival 2012 vom 9. bis 25. August auf Kampnagel in Hamburg

Gespräch mit Amelie Deuflhard zur Gegenwart europäischer Theaterentwicklungen

Grenzen des Wachstums - Grenzen des Theoretisierens
Foto: © Caroline Ablain

'Levée des conflits' von Boris Charmatz und Musée De La Danse
Foto: © Caroline Ablain

Für die Verwirklichung des seit fünf Jahren immer erfolgreicher werdenden Internationalen Sommerfestivals haben der künstlerische Leiter Matthias von Hartz und Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard auch 2012 wieder keine Kosten, Mühen und Kulturförderungsanträge gescheut. Unter dem Motto "Die Grenzen des Wachstums" haben sich hochkarätige Künstler, Wissenschaftler und Theaterschaffende dazu anstiften lassen, in der Zeit vom 9. bis zum 25. August die Grenzen des Wachstums konsumbeherrschter westlicher Gesellschaften auf das Vielfältigste auszuloten und der sich zuspitzenden Bedrohung kollabierender Märkte gemeinsam mit dem Kampnagelpublikum zu begegnen. Hier wird sich der Kapitalismus in seiner grundlegenden Wachstumsproblematik, die gegenwärtig sogar zähneknirschend von Erfolgsökonomen und Vogelstraußpolitikern erkannt werden muss, als das erweisen, was er von jeher war: Im konstruktiven Sinne angreifbar!

"Eigentlich hat es sich mit Ökologie befasst", so Matthias von Hartz auf die Frage nach dem neuerdings ökonomischen Schwerpunkt des Internationalen Sommerfestivals, das am 15. Juni in Rahmen und Programm der Presse vorgestellt wurde,

mit 'Klimawandel', 'Konsum', 'Wasser' oder 'Gemeingütern'. 'Wachstum' ist das theoretischste und ökonomischste der Themen der letzten Jahre, die immer in einem Zusammenhang standen. Der Faden war für uns die Frage, wie sich künstlerisch über Ressourceneinsatz, über Energie nachdenken lässt und da müssen wir uns natürlich auch mit begrenzten Ressourcen, mit Grenzen des Wachstums beschäftigen. Dieser fünfjährige thematische Strang ist dann in diesem Jahr mit der aktuellen politischen Situation in Europa zusammengekommen, wo es absehbar kein Wachstum geben wird und wo man sagen würde: 'Ja, das hätten wir gerne, aber das gibt es hier nicht, was machen wir jetzt?', auch wenn man politisch selbst noch an Wachstum glaubt.

Wer das druckfrische und pink gelayoutete Programmheft des Internationalen Sommerfestivals 2012 zur Hand nimmt, wird bemerken, dass es auf die Schnelle unmöglich ist, sich einen inhaltlichen Überblick über alle Performances, wissenschaftlichen Vorträge, Tanz-, Theatervorstellungen, Konzerte und Kleinaktionen zu verschaffen, die sich über das Festivalgelände entfalten werden - so vielschichtig, komplex und auf gedankenvolle Weise bezaubernd sind schon die Vorankündigungen der einzelnen Darbietungen. Zum ersten Mal kommt das mit 24 Tänzern größte momentan in Europa tourende Tanzstück "Levée des conflits" von Boris Charmatz und Musée De La Danse nach Deutschland und beeindruckt mit einer "sich unablässig verändernden Körperskulptur, die sich aus 25 einzelnen Bewegungen zusammensetzt" und soziale, Individuen und Kollektive gleichermaßen beeinflussende Faktoren diskutiert. "A Talk" ist eine kleine, aber ausgeklügelt feine Tanztheaterdarbietung über Körper- und sonstige Sprache des jungen Künstlerduos Sudermann und Söderberg, und das 1984 uraufgeführte, aber erst jetzt rekonstruierte Werk "Elena's Aria" von und mit der flämischen Starchoreographin Anne Teresa De Keersmaeker, die in zwei der drei Vorstellungen für das Sommerfestival selbst auf die Bühne treten wird, fordert uns zu einer eindringlichen choreographischen Auseinandersetzung heraus, der wir uns kaum werden entziehen können.

Foto: © Oliver Paul

Jolika Sudermann und Alma Söderberg in 'A Talk'
Foto: © Oliver Paul

Zum Ausgangspunkt seiner Programmüberlegungen hat das Festivalteam das Analysemodell des Erfolgsautors Tim Jackson gemacht, der in seinem Buch "Wohlstand ohne Wachstum" die "glaubwürdige Vision einer blühenden menschlichen Gesellschaft innerhalb der bestehenden ökologischen Schranken" (Ökom Verlag) entwirft. Der Versuch, Jacksons Verbesserungsvorschläge auf zwei Seiten im Programmheft zu umreißen, erweist sich jedoch leider sowohl sprachlich als auch inhaltlich als ungenau und arg verkürzt. So heißt es zum Beispiel:

Das bisherige industrielle Wachstum zukünftig durch gezielteres und nachhaltigeres Handeln im Rahmen eines Green New Deal zu ersetzen, ist leider nicht die Lösung, sondern die Voraussetzung um ein realistisches Szenario zu entwickeln. Eine Umkehr wird also nur über tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen möglich sein.

Mit den wohlmeinenden, aber nicht weiter definierten Worthülsen "Sozialkapital", "Gemeinschaft" und "soziale Zukunftsfähigkeit" suggeriert der hier wiedergegebene Ansatz eine Lösung, die jedoch eher in die neutralen Sphären ökonomischer Begrifflichkeiten entfleucht, als dass sie mit unserer momentanen Lebensrealität verknüpft werden könnte und uns dazu befähigte, endlich eine handfeste Auseinandersetzung loszutreten, in der wir nicht damit zufrieden wären, die bisherige "Entwicklung" der Menschheit bloß umzukehren, sondern sie gänzlich zur Disposition stellten.

Jackson schlägt drei Strategien vor. Zum einen geht es darum, Grenzen anzuerkennen u.a. für Ressourcenverbrauch und Emissionen und daraus eine entsprechend andere, ökologischere Steuer- und Entwicklungspolitik zu praktizieren. Zum anderen ist es nötig, das makroökonomische Modell zu erweitern. Ausgehend von der Einbeziehung ökologischer Faktoren und entsprechend anderer Bewertungskriterien und Zeithorizonte für Investitionen gilt es, eine andere volkswirtschaftliche Gesamtrechnung zu entwickeln. Drittens besteht die größte Herausforderung darin, die gesellschaftliche Logik des Konsums zu ändern. Ein Faktor dafür ist der Abbau von Ungleichheit, was sich beispielsweise im gesellschaftlichen Umgang mit Arbeit(-szeiten) niederschlägt oder im Zugang zu Gesundheit und Bildung. Gesellschaften, die weniger Ungleichheiten aufweisen, sind belastbarer und haben ein anderes Bild von Wohlstand und Teilhabe. Wenn man annimmt, dass Wohlstand auch darin besteht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, geht es vor allem darum, die Bedeutung von Sozialkapital zu stärken und die von Konsum abzubauen. Solange wir in einer Gesellschaft leben, die glaubt, Entwicklung und langfristiges Überleben durch Konsumsteigerung zu sichern, zerstört das nicht nur immanent und sich selbst verstärkend die Ressourcengrundlage, sondern untergräbt neben ökonomischer Stabilität auch die soziale Zukunftsfähigkeit. Eine Gesellschaft, die mehr Wert auf Sozialkapital oder Gemeinschaft legt und somit perspektivisch über mehr Wohlstand verfügt, ist auch mit weniger Wachstum möglich und vor allem ist sie empirisch nachgewiesen stabiler, gesünder und lebt länger. Was will man mehr.
Foto: © 2012 by Schattenblick

Künsterischer Leiter Matthias von Hartz
Foto: © 2012 by Schattenblick

Wir wollen ans Eingemachte! - Das aktivistisch-künstlerische Kollektiv Schwabinggrad Ballet hat sich im Februar, wie auch jetzt während der Wahl im Juni, von Hamburg nach Griechenland begeben und herausgefunden, was von den hiesigen Mainstreammedien einfach verschwiegen, verschleiert und verformt wird, ohne dass davon irgendetwas an unsere Ohren dringt. Um sich sinnvoll an der Bearbeitung von Problemfeldern beteiligen zu können und um überhaupt zu wissen, von welchen existentiellen Nöten in Griechenland gesprochen wird, sollte man zunächst eigene Forschungen anstellen und Menschen kennen lernen, die davon betroffen sind: Das ermöglicht Schwabinggrad Ballett seinen Zuschauern bei einer Camp-Aktion im Park Fiction (Antonistr. / Hafenstr., Eintritt frei) ab dem 16. August, indem es Erste-Hand-Informationen in einer Dokumentation präsentiert und das Publikum einlädt, mit dort anwesenden Theoretikern, Filmemachern und AktivistInnen aus Griechenland und Deutschland zu sprechen.

"Bei uns hat man ja während der Februarproteste in Griechenland hauptsächlich Bilder von Unruhen und Leuten mit Gasmasken gesehen", erklärt Matthias von Hartz auf der Pressekonferenz zum Internationalen Sommerfestival 2012,

es ist aber so, dass zu dem Zeitpunkt dort schon so viel Tränengas eingesetzt wurde, dass ganze Familien mit der Gasmaske zur Demo gegangen sind. Es handelte sich also nicht, wie man hier den Eindruck hatte, um eine radikalisierte kommunistische Gewerkschaft, sondern wirklich um die Bevölkerung, die einfach gelernt hatte: Ich brauche eine Wasserflasche, wenn ich zum Demonstrieren gehe, weil ich mir die Augen auswaschen muss, denn anders komme ich nicht zum Syntagma-Platz, wo sich das Volk versammelt.

Das Berlin-basierte Dokumentartheaterensemble Rimini Protokoll ist die zweite Festival-Gruppe, die sich mit der "Fallstudie Griechenland" befasst: 103 Athener, die den statistischen Durchschnitt der griechischen Hauptstadt widerspiegelten, waren 2010 gefragt worden, welche Rolle sie in "Prometheus" spielen wollten. Es entstand ein bewegendes und vielschichtiges Stück. - Fünf der Beteiligten werden auf dem Sommerfestival 2012 laut Programmheft als "Stellvertreter für ihre krisengeschüttelte Nation ein aktuelles Stimmungsbild aus Griechenland geben, von ihrer momentanen Situation, von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen in ihrer Heimat" erzählen und ihren gegenwärtigen Alltag mit dem von 2010 kontrastieren.

Foto: © Rimini Protokoll

'Prometheus in Athen' von Rimini Protokoll
Foto: © Rimini Protokoll

Was passiert eigentlich, wenn man gar nicht weiter wachsen will? Dieser Frage will sich Armin Chodzinski in seiner Lecture Performance "Den Letzten beißen die Hunde - Eine Allegorie der Unsterblichkeit mit Krawatte, Musik und einem tanzenden Eisbären" widmen. Die Sommerfestival-Nacht "Ausgewachsen. Ein Marathon mit 11 Perspektiven zu Wachstum" wird am Samstag, den 18. August auf Kampnagel stattfinden und einigen anderen ähnlich entrückten Künstlern, Performern und Scharlatanen ein Forum bieten, so zum Beispiel Julius Deutschbauer mit "Partei der Institutionalisierten Kürzungen", Ligna mit "Lob des Stillstands" oder Sybille Peters und dem Fundus Theater mit "Let's make money ourselves". Während dieser achtstündigen Dauerbespielung mit Pausen werden sich auch Gelehrte wie Ulrich Brand aus Wien, Professor für Internationale Politik und wissenschaftlicher Beirat von Attac, der Volkswirtschaftswissenschaftler Niko Paech aus Oldenburg oder Andrew Simms von der New Economics Foundation (NEF) unter die Künstler mischen und das Publikum mit ihren Vorträgen "Wohlstand jenseits des Wachstums?", "Befreiung vom Überfluss statt Wachstumswahn" und "Growth isn't possible" zwischenzeitlich auf den finsteren Boden der Tatsachen zurückholen und kleine methodische Leuchtfeuer zünden, die wenigstens helfen unsere unmittelbare Umgebung ausleuchten.

Als engagiertes Mitglied des europaweit wachsenden Künstlernetzwerks imagine2020 Art & Climate Change (www.imagine2020.eu) blickt Kampnagel zurück auf "fünf Jahre Kunst und Theorie für ein anderes Leben" und beweist, dass die unkonventionellen Ansatzmöglichkeiten der darstellenden und bildenden Künste für die Reflexion gesellschaftlicher, sozialer und ökonomischer Fixierungen des Menschen ein unverzichtbares Gut darstellen.

Das Internationale Sommerfestival nutzt das Privileg, unsere Welt grenzgängerisch zu erforschen, welche Rolle die Künste bei dem diesjährigen vom Sommerfestival-Team geplanten Angriff auf unsere gewohnten Gesellschaftsstrukturen spielen können, wird sich auch auf den Konzerten von Santigold, der "Lady Gaga des Underground", oder der das Festival traditionell beschließenden Orchesterkaraoke zeigen. Möglicherweise entdecken wir nach dem Festivalgenuss wieder kleine und kaum merkliche, bleibende Veränderungen im Stadtraum, so wie das 2011 initiierte Gartendeck, ein großer kollektiver urbaner Garten, der bestehen blieb und seit letztem Winter durch einen Verein getragen wird. Und vielleicht baut der eine oder andere sein Haus auch bald aus Strohballen und Lehm, wie die Gestalterin des Festivalgeländes Martina Stoian uns im eigens für das Festival stattfindenden Strohballenbauworkshop vom 1. bis zum 8. August im Vorfeld des Sommerfestivals zeigen wird. In der künstlerischen Auseinandersetzung mit äußeren Gegebenheiten findet immer Bewegung statt, vor allem in uns selbst.

Foto: © Santigold

Santigold
Foto: © Santigold


Gespräch mit Amelie Deuflhard zur Gegenwart europäischer Theaterentwicklungen

Am Rande der Pressekonferenz zum Internationalen Sommerfestival 2012 nutzte der Schattenblick die Gelegenheit, der Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard einige brennende Fragen zur Gegenwart europäischer und deutscher Theaterentwicklungen im Angesicht der sich zuspitzenden ökonomischen und kulturpolitischen Krise zu stellen:

Schattenblick: Frau Deuflhard, können Sie uns kurz umreißen, wie es der Theaterszene in Griechenland geht, wissen Sie, wie Ihre Kollegen dort jetzt unter so erschwerten Umständen arbeiten können?

Amelie Deuflhard: Nicht nur Griechenland, sondern viele Länder sind mit extremsten Kulturkürzungen konfrontiert und erstaunlicherweise gibt es oft eine Vitalität, die sich dann plötzlich zeigt. Es gibt zum Beispiel ein Theater in Griechenland, dessen Mitarbeiter jetzt Menschen, die kein Geld haben, auch gegen Naturalien reinlassen. Da kommen ganz viele Leute und dürfen bezahlen, was sie wollen, also nur einen Euro oder eine Packung Nudeln, eine Packung Milch oder eine Flasche Wein. Ansonsten gibt es viel Bewegung und, wie wir jetzt auch im Festivalprogramm des Internationalen Sommerfestivals 2012 sehen, viele Künstler aus anderen Teilen Europas, die sich für Griechenland interessieren oder überhaupt für Krisenregionen und Kooperationen anzetteln.

SB: Und wie schätzen Sie die gegenwärtigen Entwicklungen in der darstellenden Kunst bei immer enger werdenden Kulturetats während der Finanzkrise ein? Es hatte sich ja eine Zeit lang abgezeichnet, dass das Ruder möglicherweise noch einmal herumgerissen werden kann, aber nun wird es doch immer schlimmer.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard
Foto: © 2012 by Schattenblick

AD: Die Finanzkrise kommt wieder, das ist ja total offensichtlich. Ich sehe das so, dass Kunst und Kultur eigentlich eine Zukunftstechnologie für große Städte sind und eigentlich das letzte, wo man Geld wegnehmen darf, weil Künstler die Aktionisten der Zukunft sind, die wissen, wie man mit prekären Situationen umgeht und das seit Jahrhunderten. Sie haben sich eine große Fähigkeit angeeignet, wie man auch mit wenig Geld leben kann, wie man flexibel an unterschiedlichsten Punkten in Europa arbeitet. Künstler sind wahnsinnig mobil, die ganze Tanzszene ist eine internationale, sie arbeiten in unterschiedlichsten Städten in Europa und wenn man es global betrachtet, muss man sagen, dass der internationale Kunstmarkt, also Theater und Tanz, ganz stark auch aus Europa bezahlt wird, weil hier die großen Festivals sind, die Kulturstädte. Wenn das zusammen brechen würde, wäre das eine totale Katastrophe. In Deutschland ist es ja im Moment wirklich noch besser als in anderen Ländern und es gibt Erkenntnisse darüber, dass Kultur eine Triebkraft auch für die Ökonomie in den Städten ist. Insofern sind wir in Deutschland eigentlich nur in den sehr schrumpfenden Städten mit starken Kulturkürzungen konfrontiert, während das in den Großstädten eher weniger der Fall ist. In Hamburg, Berlin, München, da gibt es ein Bewusstsein dafür, wie wichtig Kunst und Kultur für den Zusammenhalt in den Städten ist, aber auch als ökonomischer Faktor. Es gibt massenhaft Studien, dass wir, wenn man die Gesamtkultur einer Stadt anschaut, mehr Mehrwert produzieren, als wir überhaupt an Förderungsmitteln ausgeben.

SB: Gibt es auch einen Trend, aus den großen Städten heraus zu gehen und sich künstlerisch eher mit den peripheren Bereichen zu befassen?

AD: Es gibt auf jeden Fall gerade bei den freischaffenden Künstlern einen Trend, auch die Peripherien zu untersuchen. Da sind einerseits Künstler, die sich zurückziehen, wie ‘rpád Schilling aus Ungarn, ein hoch erfolgreicher Künstler, der sich quasi ganz aus dem Kunstbusiness zurückgezogen hat, mit dem Gefühl, ich muss etwas anderes machen, ich muss einen anderen Beitrag für die Gesellschaft, leisten. Und der dann vier Jahre später mit dem Wissen, das er gesammelt hat, wieder mit einer Arbeit zurück kommt (Anm. d. SB-Red.: Zusammen mit der 15-köpfigen Schülergruppe Krétakör aus Transsilvanien bringt Schilling auf dem Internationalen Sommerfestival 2012 vom 9. bis 11. August das 90 minütige Theaterstück "Die Priesterin" auf die K2-Bühne von Kampnagel). Diese Tendenzen kann man an unterschiedlichen Punkten erkennen - und in der Peripherie kann man natürlich auch günstiger leben. Lustigerweise ist in Deutschland, wenn man es so sehen will, eigentlich Berlin die größte Peripherie, denn da kann man günstig leben und da sind die meisten Künstler, auch viele, viele internationale. Es ist schon so, dass sich Förderung auch immer darauf beziehen muss, dass es günstige Proberäume, günstige Galerieräume in Großstädten gibt und auch günstigen Lebensraum, sonst wandern die Künstler und Künstlerinnen einfach ab und das ist für Städte eine Katastrophe.

Foto: © Máté Tóth Ridovics

Krétakör in 'Die Priesterin'
Foto: © Máté Tóth Ridovics

SB: Gerade ‘rpád Schilling arbeitet ja auch mit Schülern zusammen, die man als Laien bezeichnen kann, und auf der Pressekonferenz berichteten Sie, dass Lola Arias, die sich in ihrem neuen Stück "Melancholie und Protest" mit der Protestkultur älterer Menschen befasst und vom 10. bis zum 12. August auf dem Internationalen Sommerfestival 2012 zu sehen sein wird, mit Senioren arbeitet. Ist das auch eine Tendenz in Theater und Tanz, dass vermehrt mit Laien gearbeitet wird?

AD: Auf jeden Fall, es gab in den letzten zehn Jahren einige neue Strömungen in der internationalen Performanceszene und auch in der Kunstszene, die prägnant sind. Eine davon ist das Dokumentartheater, für das es international viele hervorragende Beispiele gibt, und Lola Arias eine von drei herausragenden Vertretern in Argentinien ist. Rimini Protokoll in Deutschland haben wirklich einen Paradigmenwechsel am Theater eingeleitet durch ihre Arbeit mit Laien. Aber das ist kein Laientheater, sondern die Laien treten als Experten ihrer Community, ihres Alltags, ihres Berufsstands, je nach Thema, auf der Bühne auf, und es braucht ein sehr gutes Arbeitssystem, damit Laien auf der Bühne am Schluss als Profis auftreten. Das ist eine ganz wichtige Welle im Theater. Und die zweite sind performative künstlerische Arbeiten im öffentlichen Raum, von denen wir jetzt in der Spielzeit auf Kampnagel, aber auch beim Festival, einige zeigen. Bei denen die Stadt als Untersuchungsraum benutzt und vor Ort künstlerisch interveniert wird.

Diese beiden wirklich wichtigen neuen Wellen im Theater kommen vornehmlich und überwiegend aus der freien Kunstszene und schwappen dann, wenn sie erfolgreich sind, auf die Stadt- und Staatstheater über. Insofern ist so ein Ort wie Kampnagel, mit anderen in Europa, auch ein Labor, um neue Dinge zu entwickeln. Da sind wir natürlich europäisch und auch weltweit vernetzt und versuchen uns mit anderen Künstlern zu verbinden, die so ähnlich arbeiten, wie wir uns vorstellen, dass Kunstformen der Gegenwart und Zukunft aussehen sollen.

SB: Und die Theaterschaffenden, mit denen Sie das diskutieren, sind das auch Leute aus den staatlich gebundenen Theatern?

AD: Wir sind so gesehen ja auch ein öffentliches Haus. Man sagt immer "freies Theater", aber das gilt eigentlich für die Künstler, mit denen wir arbeiten, nicht für uns, denn auch Kampnagel ist eine öffentlich geförderte Institution. Natürlich gibt es ganz viele Debatten, ständig, ich sitze, ich weiß nicht wie oft, auf Podien, und Matthias von Hartz auch. Die eigentliche Frage, die man immer stellen muss, ist die Frage nach der Verteilung der Mittel und da werden die Institutionen, die ja erhalten werden müssen und die ihr Personal haben, im Grunde bevorzugt. Die werden immer teurer, es gibt Preissteigerungen, dann eine Tarifrunde und dann bekommen sie wieder Geld - dabei geht die freie Szene immer so ein bisschen verloren.

Ein kleines Beispiel: das Thalia Theater bekommt jetzt seine 900.000 Euro Schulden ausgeglichen, während die freie Szene - die ein Riesendossier im Auftrag des Senats für Hamburg geschrieben hat, in dem unter der wissenschaftlichen Leitung von Professor Nikolaus Müller-Schöll ein ganz klares neues Förderungssystem aufgezeichnet wurde - am Schluss gerade mal 100.000 Euro mehr bekommen hat. Obwohl klar war, dass sie eine Million brauchen. Da ist die Million nicht da, aber auf der anderen Seite, wenn wir oder die öffentliche Hand wieder Tarifsteigerungen ausgleichen müssen, dann gibt es die Million problemlos. Oder wenn die Elbphilharmonie 20.000.000 teurer wird, dann ist das Geld auch da. Die Frage, die man tatsächlich stellen muss, ist die der Verteilung und wie wir es erreichen, freischaffende Künstler hier in unserer Stadt solche Bedingungen zu schaffen, dass sie überhaupt hier bleiben.

SB: Ist das auch Lobbyarbeit?

AD: Absolut. Das ist natürlich Lobbyarbeit, die ich besser machen kann, weil ich eine große Institution leite, als der einzelne freischaffende Künstler, der überhaupt nirgendwo durchkommt, also das ist noch ein Vorteil.

SB: Woran liegt es, dass Gelder so verteilt werden?

AD: Das liegt daran, dass die Staatstheater und die staatlichen Museen öffentliche Institutionen sind und dass sie oft einen Personalstamm von 300 Leuten haben, die man behalten muss, weil sie alle feste Stellen haben und unkündbar sind. Da gibt es zu wenige Reformen und deswegen wächst diese Ungleichverteilung, wenn man nicht aufpasst und nicht auch für die freie Kunstszene Lobbyarbeit macht. Das ist aber heutzutage nicht mehr relevant, weil klar ist, auch für alle, die an staatlichen Bühnen sind, dass die Innovationen eher aus Häusern wie Kampnagel oder dem Hebbel am Ufer in Berlin kommen und weniger aus den Staatstheatern. Das heißt, da entstehen auch immer mehr Ansprüche, die etwas mit einem Erfolg zu tun haben, der nicht mehr wie früher an den Rändern zu finden ist, sondern der in den Spitzen und wirklich auch in den Herzen der Theater, der staatlichen und städtischen Institutionen, längst angekommen ist.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Amelie Deuflhard im Gespräch mit SB-Redakteurin
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Ähnliche Argumente führen ja die vier Autoren des Buches "Der Kulturinfakt", eine im Frühjahr erschienene ironisierende Abhandlung zur Kulturpolitik im deutschsprachigen Raum, die vor allem Kulturschaffende entsetzt hat, ins Feld, was halten Sie davon, wenn die zum Beispiel die Halbierung der Häuser in der Theaterlandschaft Deutschlands propagieren?

AD: Davon halte ich nichts, weil es überhaupt nicht geht, das ist totaler Quatsch. Dieses Buch ist eine einzige Polemik, die Halbierung ist so gar nicht durchführbar und das Problem ist, dass auch ihre Umverteilungsvorschläge ziemlich schwächeln. Die wollen dann Laienspielgruppen fördern, das ist so ein Begriff aus den 80er Jahren, der heute künstlerisch komplett irrelevant ist. Das Buch ist vollkommen unscharf, widersprüchlich und kontraproduktiv, wenn man bedenkt, dass sie eigentlich alle Macher sind und aus der Kulturszene kommen...

SB: ... ist das schon erschreckend.

AD: Ja, das ist erschreckend und vollkommen getragen von einem neo-liberalen Geist, der den Künsten wenig angemessen ist.

SB: Frau Deuflhard, vielen Dank für dieses Gespräch.

24. Juni 2012