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BERICHT/044: Kultur in Not - Verteilungskämpfe (SB)


Hamburger Freie Szene gründet Koalition



So vielfältig, wie Kultur sein kann, so bunt und um noch einiges facettenreicher ist ihre Freie Szene. Rund 1.500 Schauspieler, Regisseure, Tänzer, Choreographen, Puppenspieler, Performer, Bildhauer, Maler, Musiker, Autoren, Kuratoren, Dramaturgen und Bühnenbildner zählt derzeit nach Angaben des Dachverbandes Freier Theaterschaffender Hamburg die Freie Szene in der Hansestadt; tatsächlich dürften es weit mehr sein.

Foto: © 2013 by Schattenblick

Die Freie Szene Hamburg auf der Bühne des K2
Foto: © 2013 by Schattenblick

Als dritte Säule der Kultur neben den gut subventionierten Staatstheatern und den ebenfalls geförderten Privattheatern gilt die Freie Szene - vergleichbar mit der Automobil- oder Computertechnologie - als "Forschungs- und Entwicklungsabteilung". Von hier gehen die kreativen Impulse aus, die später in den festen Häusern umgesetzt werden. Die meist diskutierten Theatermacher und Choreographen haben ihre Arbeit in der Freien Szene begonnen, viele zumindest ein Standbein dort behalten.

In sogenannten Crossover-Projekten bringen die Freien Theater, Politik und Popmusik zusammen, bildende Kunst und Performance Art, Show und Animation, Tanz und Theorie, inszenieren ihre Projekte fernab etablierter Institutionen auch mal im Hafen oder in einem Möbelhaus und greifen mit ihren Aktionen politische Fragen oder soziale Anliegen auf, etwa die Frage nach dem "Recht auf Stadt".

Aus der Rebellion gegen die Institution Theater entstanden, ist die Freie Szene seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht nur ein eigenständiger Bestandteil des Kulturlebens, sondern auch Programm, das sich laut einer im Auftrag der Kulturbehörde durchgeführten Potentialanalyse der Universität Hamburg aus dem Jahre 2011

eher als "Fest" denn als moralische Anstalt, eher als "Erfahrung" denn als für ein Publikum produziertes Spektakel, eher als "Ereignis" denn als Wiederholung, eher als dem Ritual oder einer Zeremonie nahe stehende "Performance" denn als Literaturpflege versteht ... auf der Suche nach neuen Techniken und Arbeitsformen, neuen Räumen, neuen Zeit- und Handlungsstrukturen, zeitgemäßem Umgang mit (neuen) Medien, Befreiung des Körpers aus dem Gefängnis des Textes und der Seele oder Auflösung des Gegensatzes von Prozess und Produkt, Premiere und Wiederholung. [1]
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Sören Fenner moderierte die Koalitionsgründung
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Unter rein quantitativen Gesichtspunkten, so die Studie, stellt Freies Theater eine Massenbewegung dar, unter ökonomischen Gesichtspunkten eher ein marginales Phänomen. Der quantitativen Bedeutung stehe keine entsprechende Wertschätzung durch die öffentliche Förderungspolitik gegenüber. Zwar sei die Zeit vorbei, "in der sich die Freiheit der freien Theater vor allem in der Freiheit von öffentlichen Geldern ausdrückte, im bewussten Verzicht auf öffentliche Subventionierung, die die Staats-, Landes- und Stadttheater zu dem gemacht hatte, was sie waren"; freie Theatergruppen seien heute meist solche, die ohne Zuschüsse vom jeweiligen Land, von Kommunen oder Stiftungen nicht überleben könnten. Gleichwohl sei die Förderung vergleichsweise bescheiden.

Selbstausbeutung bestimmt demnach die Arbeit der Freien. Regelmäßig geht mehr als die Hälfte der Arbeitszeit in die Requirierung finanzieller Mittel, kritisiert Regisseurin und Autorin Maria Magdalena Ludewig von Kampnagel. Die meisten Freien gehen neben ihren künstlerischen Ambitionen einem oder mehreren sogenannten "Brotjobs" nach. Nach einer im Mai 2009 vorgestellten Studie des Fonds Darstellende Künste lag das durchschnittliche Jahreseinkommen freier Theatermacher bei 11.500 Euro. Wer nach einem langen, komplizierten und oft undurchsichtigen Antragsweg in den seltenen Genuß einer Finanzierung kommt, mußte zuvor in 2 Jahren erfolgreicher Praxis erst beweisen, daß er es auch aus eigener Kraft schafft. Und allzu oft reicht die Anschubfinanzierung zu nicht mehr als einem Zeitfenster, in dem man für den nächsten Schritt hausieren geht.

Teilnehmer bei der Unterschriftensammlung - Foto: © 2013 by Schattenblick

Bekenntnis zur Freien Szene
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Als der Hamburger Senat die Einführung einer Kultur- und Tourismustaxe zum 01.01.2013 beschloss, die, gestaffelt nach dem jeweiligen Hotel- oder Pensionspreis, auf private Übernachtungen erhoben wird, um mit frischem Geld "die kulturelle, touristische und sportliche Attraktivität der Freien und Hansestadt Hamburg durch weitere Projekte steigern zu können", keimte Hoffnung auf. "Der Wettbewerb um Touristen aus aller Welt erfordert erhebliche Anstrengungen und neue Wege", schrieb der Hamburger Wirtschaftssenator Frank Horch auf der Internetseite der Stadt. Die Attraktivität einer Stadt hänge für Besucher und Bewohner gleichermaßen "wesentlich von der Attraktivität der Kulturlandschaft ab," so Hamburgs Kultursenatorin Barbara Kisseler im letzten Jahr. [2]

Bis zu zwölf Millionen Euro an Mehreinnahmen erwartet die Stadt Hamburg aus der neuen Quelle. Mindestens 50 Prozent der Einnahmen sollten der Kultur zukommen, versprach Frau Kisseler. Konkret sollen im Bereich Kultur die Museen durch den auf 2,5 Millionen Euro aufgestockten Ausstellungsfonds finanziell gestärkt werden. Zum Ausbau der Musikstadt Hamburg werden aus der Kultur- und Tourismustaxe 1,4 Millionen Euro bereitgestellt, zur Stärkung der Hamburger Festivallandschaft 1,2 Millionen Euro.

Die Freie Szene erhält über den Elbkulturfonds, über dessen Vergabe in Zukunft ein wechselndes Expertengremium entscheiden soll, aus dem geschätzten Einnahmetopf gerade mal 500.000 Euro für alle Kunstsparten. "Das ist nicht mal ein Zwanzigstel und so viel, wie die Junioren-Ruderweltmeisterschaft und das Trabrennderby zusammen erhalten", erregt sich Sören Fenner vom Dachverband Freier Theaterschaffender. Anlaß genug für die Betroffenen, wenn auch nicht alleiniger Grund, für einen politisch wirkungsvollen Zusammenschluß über alle künstlerischen Genregrenzen hinweg. Nach dem Berliner Vorbild vom März 2012 trafen sich am 29.01.2013 freie Kulturschaffende aller Sparten auf Kampnagel, um ihrem Protest Luft und ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Auch in Hamburg sollte eine Koalition der Freien Szene gegründet werden.

Volle Reihen im K2 auf Kampnagel - Foto: © 2013 by Schattenblick

Unerwartete Resonanz
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Dabei geht es nicht nur ums Geld, sondern auch um die mangelnde Wertschätzung der Arbeit der Freien, die sich in der geringen Zuteilung von Fördermitteln ausdrückt. Es sind die Freien, so Andreas Lübbers, Gründer und Leiter des OFF-Theaters Hamburger Sprechwerk und seit 2007 engagiert im Dachverband Freier Theaterschaffender, die an 365 Tagen im Jahr zur Attraktivität der Hansestadt durch ein buntes, nachdenkliches, Diskussionen anregendes, kreatives Angebot beitragen, die mit Musik, Theater, Ausstellungen und Literatur für Diskurse und Abwechslung, Inspiration und Komik, für Kritik und Integration sorgen: "Wenn wir uns nicht einsetzen würden, würde die Stadt Hamburg dann überhaupt die Chance haben, die Besucher in eine kulturelle Wüste zu locken?", fragt Lübbers. Aber jeder dieser 365 Tage sei der Stadt gerade einmal 1370 Euro wert.

Mit einer so großen Resonanz auf ihre Gründungsinitiative hatten die Organisatoren an diesem Abend nicht gerechnet. An die 200 Betroffene aus allen Sparten der Freien Szene trugen in einer mehr als dreistündigen, äußerst lebendigen Veranstaltung in solidarischer und konzentrierter Atmosphäre zusammen, wo sie der Schuh drückt:

Diskontinuierliche, nur an konkrete Projekte gebundene Förderung, unzureichende bzw. fehlende Basisförderung, Raummangel, fehlende öffentlich zugängliche Infrastruktur und Technik, Mangel an Mitteln zum Aufbau von Strukturen in Eigeninitiative und zur Etablierung von Eigenwirtschaftlichkeit, praxisferne und wenig transparente Antragsmodalitäten und Förderkriterien, fehlende Spielstätten für den Bereich Kinder-, Jugend- und Figurentheater sowie für experimentelles Musiktheater und, und, und...

Beim Sammeln und Aufschreiben der Forderungen - Foto: © 2013 by Schattenblick

Forderungen festhalten!
v.lks.: A. Lübbers, S. Fenner, M. Schulze-Kraft
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Matthias Schulze-Kraft, künstlerischer Leiter des Lichthof-Theaters in Hamburg-Bahrenfeld und Vorsitzender von "Hamburg Off", einem Zusammenschluß von sieben freien Theatern, beklagte die Schließung von immer mehr freien Spielstätten mangels Förderung. Während Jahr für Jahr 44 Millionen in die Staatsoper flössen, fehlte es für Freie Theater wie das Theater N.N. und das Theater in der Washingtonallee an vergleichsweise lächerlichen 55.000 Euro Unterstützung. Sie stehen kurz vor dem Aus. "Das kriege ich im Kopf nicht zusammen, diese Relationen", sagt Schulze-Kraft.

Dörte Kiehn vom Tandera Puppentheater und Vorsitzende des Arbeitskreises Hamburger Puppen- und Figurentheater (AHAP) wandte sich gegen eine kleckerhafte, unkoordinierte Förderung. "Es nützt nichts, wenn Projekte gefördert werden, die dann nirgendwo zu sehen sind". Ihr Theater mit 130 Vorstellungen im Jahr wird von gerade einmal zwei 400-Euro-Kräften geleitet.

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Dörte Kiehn
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Michael Maierhof, Mitbegründer des Künstlernetzwerkes www.stock11.de vom Verband für aktuelle Musik in Hamburg, moniert, die Lage sei immer schlechter geworden. Unter der Rubrik "Sonstige Musikpflege" gebe es im Jahr gerade einmal 50.000 Euro für die gesamte freie Musikszene, ob experimentelle, Kirchenmusik oder Posaunenchor. Es gebe keine Planungssicherheit, mit 20.000 Euro müsse man für 40 Konzerte auskommen.

D. G. Reiß vom Verband bildender Künstler Hamburg kritisiert, es würden nur Fremdkosten finanziert, Ausstellungen, Reisen, technische Ausstattung, die Künstler gingen regelmäßig leer aus. Statt 30.000 Euro Förderung im Jahr würden 200.000 Euro benötigt.

Der Schauspieler Alexander F. Obe fragte sich und die Anwesenden, warum er diesen Staat unterstützen soll, der "mich meines Lebens beraubt".

Tina Heine vom Elbjazzfestival, mithin von der etwas lukrativer geförderten Seite Hamburger Kultur, klagte darüber, daß von den notwendigen 950.000 Euro lediglich 20.000 Euro als Zuschuß gewährt werden, der Rest müsse aus privaten Quellen kommen. 120.000 Euro seien die Förderung für die gesamte Jazzszene.

Die mangelnde Wertschätzung drückt sich für Andreas Lübbers ganz unmißverständlich in einer Senatsmitteilung zur Kulturtaxe vom 18. September 2012 aus, die die Freie Szene als die mit den "nicht kommerziellen, niedrigpreisigen Nischenprodukten" bezeichnet, die es zu integrieren gelte. An dieser Formulierung könne man die Ignoranz einer auf öffentlichkeitswirksame Events und Sensationen ausgerichteten Kulturarbeit ablesen, so Lübbers.

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Sören Fenner im Gespräch mit Christophe Knoch
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Wie sich Forderungen konkret umsetzen lassen und welche Erfahrungen in Berlin gemacht wurden, dazu befragte Sören Fenner, der den Abend moderierte, Christophe Knoch, einen der Sprecher der Koalition der Freien in Berlin. Von viel Austausch war da die Rede, von Netzwerken und spartenübergreifender Kommunikation. Es sei wichtig gewesen, keinen Superverband zu gründen, Freie Szene und hierarchische Strukturen vertrügen sich nicht. Knoch betonte aber auch den deutlich spürbaren Druck, den die Aktion auf die Politik mache. Immerhin sei es gelungen, einen 10-Punkte-Forderungskatalog an den Senat zu übergeben. Selbst die Industrie- und Handelskammer, wenngleich aus ganz anderen Motiven, nämlich denen der Tourismusförderung, habe sich mit der Koalition auf ein Podium gesetzt und öffentlich eine Unterstützung der Freien gefordert.

Die hatte, wußte Amelie Deuflhard zu berichten, die Hälfte des Himmels, sprich 50 % der zu erwartenden Millionen aus der Berliner Tourismustaxe an die Freien gefordert. "Das ist eine Idee, die wirklich Aufbruch produzieren kann", so die Kampnagel-Intendantin, die lange Jahre selbst in der Berliner Freien Szene gelebt und gearbeitet hat.

Nun ist die Freie Szene in Berlin sicherlich weit mehr und gezielter Teil der Werbung für die Hauptstadt. "Wir hören immer wieder, wie wild, reichhaltig und vielfältig die Kulturszene ist und daß die Touristen deswegen nach Berlin kommen", sagt Christophe Knoch. Denn Berlin habe sonst nichts, keinen Hafen, keine Industrie, der Tourismus sei der stärkste Wirtschaftsfaktor. Trotzdem hat Berlin über eine Tourismustaxe noch nicht endgültig entschieden, die Würfel sollen erst 2014 fallen. Wenn man also über Berliner Erfolge spricht, spekuliert man, unabhängig von einem erfreulichen Zusammenschluß der gesamten Freien Szene, in die Zukunft.

Die beeindruckende Solidarität, die von dem Abend auf Kampnagel ausging, dem deren Intendantin Amelie Deuflhard, die die Aktion als Gastgeberin unterstütze, wünschte, er möge ein legendärer sein, war ein Anfang, der hoffentlich über die Szene hinaus in die Köpfe der Verantwortlichen wächst. Und so machten sich die Hamburger nach einer kurzen Pause daran, ihre Forderungen zu formulieren und aufzuschreiben, darunter ganz praktische wie langfristige strukurelle Förderung statt Projektförderung oder Preisvergabe, Streichung einer Erfolgsqotenregelung - auch 15 Leute sind ein Publikum -, Ausstellungshonorare für bildende KünstlerInnen, einen Mindestlohn für Kulturschaffende, die Umwandlung von Gewerberaum in Wohnateliers, damit Wohngeld beantragt werden kann, Entbürokratisierung von Förderanträgen und Feedbacks bei Ablehnung, aber auch politische wie Gentrifizierungsabgaben zur Entschädigung der Verlierer eines Quartiers, mietfreie Überlassung von Hamburger Liegenschaften an KünstlerInnen, die Umgestaltung von Büroleerstand zu Kunstraum, Transparenz bei der Mittelvergabe, Förderung von Proben- und Atelierräumen, eine massive Förderung der Kinder- und Jugendkultur, eine Evaluierung der Wertigkeit von Kultur als Stütze der Demokratie bis hin zum Rücktritt von Barbara Kisseler und einer Neubesetzung der Kulturbehörde mit Fachleuten und einer Enttabuisierung von Umverteilungen. [3]

Teilnehmer mit ihren Forderungesplakaten - Foto: © 2013 by Schattenblick

Gemeinsam stärker
Foto: © 2013 by Schattenblick

Sören Fenner wünschte sich für die Arbeit der neuen Koalition einen langen Atem, um dem zu begegnen, was Politiker am besten können: ein Problem aussitzen. Zu wünschen wäre ihr aber gleichermaßen eine Besinnung darauf, daß sie mehr und etwas anderes ist als ein sich andienender Kreativfaktor bei der Steigerung von Hamburgs Besucherzahlen am Band von Städteplanern, Wirtschaftsförderern und PR-Managern.

Anmerkungen
[1] http://www.hamburg.de/contentblob/3425334/data/potentialanalyse-freie-szene.pdf
[2] http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/3724980/2012-12-18-bwvi-kulturtaxe.html
[3] Alle Forderungen können nachgelesen werden unter www.koalition-der-freien.org

3. Februar 2013