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BERICHT/065: Angekommen ... - Potsdamer "Kruso"-Inszenierung (SB)


Stimmig, hintergründig und packend

Potsdamer "Kruso"-Inszenierung (Freitag, 15.01.2016) transformiert Roman in bewegende Bilder und Töne

von Christiane Baumann, Januar 2016


Gespannte Atmosphäre im Hans Otto Theater. Nach den "Kruso"-Inszenierungen in Magdeburg und Gera wollten es nun auch die Potsdamer wissen und präsentierten ihre Adaption des Romans von Lutz Seiler nach der Bühnenfassung Dagmar Borrmanns. Brandenburgs Kulturministerin Sabine Kunst hatte sich eingefunden. Lutz Seiler ließ es sich nicht nehmen, die Inszenierung mitzuerleben. Auch Dagmar Borrmann war gekommen, deren Bühnenbearbeitung bereits in Magdeburg die Grundlage der Inszenierung bildete, was zumindest Kritiker zum Vergleich herausfordert. In Potsdam suchte man - wie Intendant Tobias Wellemeyer betonte - bewusst den "Blick von außen" und verpflichtete deshalb mit dem Schweizer Regisseur Elias Perrig und der Amerikanerin Marsha Ginsberg (Bühne und Kostüm) ein internationales Duo, das aus dem eigenen Team mit Marc Eisenschink (Musik) und Ute Scharfenberg (Dramaturgie) komplettiert wurde. Dieser "Blick von außen" hat sich gelohnt. Was in Potsdam in gut zwei Stunden gezeigt wurde, war ein Erlebnis für Auge und Ohr. Die Potsdamer Macher zauberten einen Kruso-Abend auf die Bühne, der nicht wie Magdeburg aus der surrealen Bilderwelt schöpft, auch keine Wendegeschichte wie Gera erzählt, dennoch von allem etwas bietet, mit dem Roman spielt und dabei in sich stimmig ist.


Foto: © 2016 by HL Böhm

Larissa Aimée Breidbach (Verrückter Junge), Holger Bülow (Ed)
Foto: © 2016 by HL Böhm

Wie ein Blitz schwebt Edgar Bendler auf die Bühne, neben ihm der verrückte Junge als Einwinker, als Fluglotse, der sich wiederholende Signale sendet, die ziellos wirken. Ed, Student der Literaturwissenschaft, ist vom Kurs abgekommen. Er erzählt von seiner Leidenschaft zu dem Dichter Georg Trakl, von Möglichkeiten im Studium und dann kommt der Satz "wie aus einem Roman": Edgar Bendler hatte beschlossen zu verschwinden, womit der Zuschauer im Roman und auf der Insel Hiddensee ist. Dabei verändert sich die Szenerie nicht, vielmehr trägt das Bühnenbild die gesamte Inszenierung. Hohe Holzwände bilden eine Mauer, die die insulare Situation, die Abgeschiedenheit symbolisieren und zugleich auf das Modellhafte weisen.


Foto: © 2016 by HL Böhm

ganz oben: Michael Schrodt (Koch-Mike)
Mitte: Andrea Thelemann (Karola), Philipp Mauritz (Rick), Christoph Hohmann (Krombach), Axel Sichrovsky (René)
unten: Raphael Rubino (Kruso), Holger Bülow (Ed), Eddie Irle (Rimbaud)
Foto: © 2016 by HL Böhm

Es ist keine reale Insel. Die Speisegaststätte "Zum Klausner" könnte überall angesiedelt sein, wenngleich das Interieur mit abwaschbaren Tischdecken und Kantinenmobiliar durchaus DDR-Charme verbreitet. Diese Insel wird visuell als Denk-Modell begreifbar. Auch die Schweiz sei eine Insel, meinte Regisseur Perrig hintersinnig nach der Premiere, und wies auf den selbst geschaffenen Mythos der Freiheit, dessen Realität an allen Orten gleichermaßen fragwürdig sei. Die Entzauberung dieses Mythos' und die Zurücknahme der Utopie werden zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung, die damit über DDR-Historie hinausgreift und sich dem philosophischen Anspruch des Romans stellt.

In packenden Bildern werden das Zusammenleben der verschworenen Gemeinschaft im Klausner und die gemeinsame Arbeit in Szene gesetzt. "All hands on deck" - das ist die Parole der Crew, nach der in Küche und Abwasch Krombach, Kruso, Rimbaud, Koch-Mike, Rick, Karola, René und Ed die Teller wirbeln und in einem "jupp-läuft" Sprech-Rhythmus die gemeinsame Arbeit sinnlich erfahrbar werden lassen. Sie ziehen an einem Strang, dienen einer Sache, diese "Esskaas" (Saisonkräfte), die sich auf der Insel ihr Refugium mit eigenen Gesetzen und Ritualen geschaffen haben. Dabei erfährt Seilers Roman-Sprache ihre Übersetzung nicht nur in Bilder, sondern auch in Geräusche, die vom Schrei der Möwe bis hin zur Musikeinlage auf Küchenutensilien wie Schüssel, Flasche, Löffel etc. reichen. Diese Gemeinschaft wird nicht erzählt, sondern auf der Bühne gelebt und jeder Einzelne wird als Rädchen begreifbar, ohne das die Mannschaft nicht erfolgreich sein kann. Es gibt in diesem Sinne in der Inszenierung keine Randfiguren, was besonders augenfällig an der prägnanten Ausgestaltung von René und Koch-Mike wird, in der sich Axel Sichrovsky und Michael Schrodt ausleben können.


Foto: © 2016 by HL Böhm

"All hands on deck"
Christoph Hohmann (Krombach), Andrea Thelemann (Karola), Philipp Mauritz (Rick), Michael Schrodt (Koch-Mike), Raphael Rubino (Kruso), Holger Bülow (Ed), Eddie Irle (Rimbaud), Axel Sichrovsky (René)
Foto: © 2016 by HL Böhm

Die Inszenierung fügt die wichtigsten Insel-Episoden wie in einem Filmschnitt in fließenden Übergängen zusammen, dabei das Tempo wechselnd von Gruppen-Action bis hin zu Zeitlupeneinblenden. Krusos Drei-Tage-Läuterungsprogramm mit heiliger Suppe, Waschung und Arbeit, das die Flüchtlinge und auf der Insel Gestrandeten zur inneren Freiheit führen soll, bekommt nach und nach Konturen. Ed begreift, dass für Kruso Flucht keine Lösung ist und seine Idee von Freiheit in den Herzen und in der Bereitschaft wurzelt, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen, und damit "in erster Linie aus Pflichten, verdammt, nicht aus Privilegien" besteht. Kruso und Ed sind in der Inszenierung bis in die Physiognomie als duale Figuren angelegt. Kruso, eine Paraderolle für Raphael Rubino, kommt kraftstrotzend, sinnlich und zupackend daher und ist zugleich von einer Verletzlichkeit, die berührt. Daneben wirkt der schmale, introvertierte Ed, glänzend in allen Nuancen gespielt von Holger Bülow, zerbrechlich und unsicher. Sie werden Gefährten wie in Daniel Defoes Roman "Robinson Crusoe".


Fotos: © 2016 by HL Böhm Fotos: © 2016 by HL Böhm

Links: Raphael Rubino (Kruso) und Holger Bülow (Ed)
Rechts: Holger Bülow (Ed) und Larissa Aimée Breidbach (Cleo)
Fotos: © 2016 by HL Böhm

Elias Perrigs Inszenierung spielt mit den literarischen Bezügen im Roman. Für den Zuschauer werden sie immer wieder sichtbar gemacht, indem eine "Lesung" eingeschoben wird. Texte von Rimbaud und Trakl geben dem Bühnengeschehen das historische Hinterland. Das Gedicht "Melopee" des flämischen Expressionisten Paul von Ostaijen durchzieht den Abend und entwickelt sich wie im Roman vom Schlachtruf der Gemeinschaft zum leise verhallenden Lied Krusos, das sein Scheitern illustriert. Es wird als Kanon geschmettert und als Helene Fischer-Verschnitt gesungen, mit den Lippen geblasen und von Kruso leise gesummt. Überhaupt ist es dem Potsdamer Team gelungen, das Bühnengeschehen durch wiederkehrende Elemente zu strukturieren. Dazu gehört nicht zuletzt Viola, die personifiziert erscheint, aber ein Hintergrundrauschen bleibt und ausgesprochen subtil daherkommt. Nach Suchmeldungen, dem Bericht von Gorbatschows Bonn-Besuch, bei dem das Recht eines jeden Staates, sein politisches System frei zu wählen, bekräftigt wurde, folgen Meldungen über DDR-Flüchtlinge und Vorfälle an der innerdeutschen Grenze. Die Nationalhymne, die zum Tagesausklang beim Deutschlandfunk erklingt, wird zuerst dezent gesummt, dann auf Flaschenhälsen in ironischer Brechung geblasen. Am Ende fehlt die Musik. Es wird nur noch der Tagesausklang "national" erklärt, was die Zurücknahme gesellschaftspolitischer Forderungen sinnfällig macht.

Die Potsdamer Inszenierung lässt mit allen dem Theater zur Verfügung stehenden Mitteln einen spezifischen Sound und Subtext entstehen, der im Roman wurzelt, aber einer eigenen Dramaturgie folgt. Hintergründig ist die Musik, die von einer poppigen "Stille Nacht"-Version bis zu Ennio Morricones "Spiel mir das Lied vom Tod" reicht und Krusos Tod sowie seinen Weg ins gleißende Licht mit der russischen Nationalhymne begleitet. Kruso stirbt, aber die Idee von einer sozial gerechteren Gesellschaft, für die er steht, wird mit dem Lichtstrahl verknüpft und weist damit hoffnungsvoll in die Zukunft.

Zu den visuellen Mitteln der Inszenierung gehören auch Laser-Effekte, die die Röntgenstrahlen in der Strahlenstation Rommstedts ebenso wie die Karte der Wahrheit für den Zuschauer erfahrbar machen. Dass das Publikum mit Brecht'scher Geste angesprochen und in die Inszenierung einbezogen wird, bricht immer wieder die Theater-Illusion auf und fordert nachdrücklich zur kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und zum Hinterfragen eigener Positionen auf.

Mit dem Epilog schlägt die Potsdamer Inszenierung schließlich den Bogen zum Beginn. Edgar Bendler, der beschlossen hatte, zu verschwinden, ist von der Insel zurückgekehrt. Er erzählt, wie er vom Tod Krusos erfuhr. Damit ist die Geschichte vom Klausner beendet. Die Beschreibung der Wasserleichen lässt noch einmal die Bedrohung spürbar werden. Plötzlich ist Edgar wieder im Roman und in der "Wendeschleife". Diese war es, die seiner Freundin G., die er bei einem Unfall verlor, zum Verhängnis wurde. Als Testamentsvollstrecker Krusos ist Ed wieder ein Suchender, der sich gescheitert fühlt, der aber seinen Schmerz in Literatur zu verwandeln weiß.

"Kruso" - das ist in Potsdam ein Abend der leisen Töne, der Zwischentöne und Hintergründigkeiten. Bühnenbild und Kostüme geben dieser Intention Raum. Nichts wirkt aufgesetzt. Das gilt auch für die Erotik, die sich in dezenten Bildern auslebt. Wer den Roman nicht kennt, kommt in Potsdam genauso auf seine Kosten, wie der Romankenner, der die gelungene Transformation des Romans auf die Bühne genießen und noch einmal neu erleben kann.

Die nächsten Vorstellungen gibt es am 23./24. Januar und am 20./21. Februar 2016.


"Kruso"
Nach dem Roman von Lutz Seiler
Bühnenbearbeitung: Dagmar Borrmann
In einer Einrichtung für das Hans Otto Theater
Regie: Elias Perrig
Bühne/Kostüme: Marsha Ginsberg
Musik: Marc Eisenschink
Dramaturgie: Ute Scharfenberg


Ein Interview mit Dramaturgin Dagmar Borrmann zur Magdeburger Aufführung von "Kruso" ist im Schattenblick zu finden unter:
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FRAGEN/006: Zeitgeister am Fenster ... (Christiane Baumann)
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Der Bericht zur Magdeburger Uraufführung von "Kruso" von Christiane Baumann am 25.09.2015:
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BERICHT/060: "Kruso" oder die Streitgeburt ... - Uraufführung im Theater Magdeburg (SB)
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Ein Interview mit der Dramaturgin Petra Paschinger zu ihrer Adaption des Romans "Kruso" am Theater Gera von Christiane Baumann finden Sie im Schattenblick unter:
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INTERVIEW/027: Fluchtwelten - Figuren erzählen ...    Petra Paschinger im Gespräch (SB)
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Der Bericht zur Uraufführung in Gera von "Kruso" von Christiane Baumann am 06.11.2015:
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BERICHT/063: Fluchtwelten - ... flieg ich durch die Welt (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0063.html


17. Januar 2016


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