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BERICHT/078: Ansichten eines Clowns im Theater Die Komödianten in Kiel - Verlierer der Träume (SB)


Premiere zum 100. Geburtstag von Heinrich Böll in Kiel am 9. Februar 2017

Gesammelte Augenblicke


Am 21. Dezember diesen Jahres wäre der nimmermüde literarische Chronist und Kritiker bundesrepublikanischer Befindlichkeiten Heinrich Böll, dessen Engagement ihm den Vorwurf, "Sympathisant des Terrors" zu sein, bescherte, weil er im Umgang mit den Mitgliedern der RAF die Verhältnismäßigkeit und Rechtsstaatlichkeit der Mittel einforderte, 1972 aber auch den Literaturnobelpreis einbrachte, der also nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als ein in die Verhältnisse seiner Zeit sich Einmischender polarisierte, 100 Jahre alt geworden.

"Ich weiß keinen, der Zeitgenossenschaft so als Auftrag empfunden hat wie Heinrich Böll", schrieb Siegfried Lenz in einem Nachruf auf den am 16. Juli 1985 Verstorbenen, "für ihn war es eine Selbstverpflichtung zur Einmischung, zur Störung schlimmer Ruhe." [1]

Das Kieler Theater Die Komödianten darf sich rühmen, mit seiner Premiere am 9. Februar als erstes im Jubiläumsjahr einen Klassiker dieser Ausnahmeerscheinung deutscher Nachkriegsliteratur auf die Bühne gebracht zu haben. In einer eigenen Textbearbeitung haben Regisseur Christian Lugerth und Schauspieler Ivan Dentler, der die Hauptfigur im Einpersonenstück verkörpert, den 300 Seiten Roman Ansichten eines Clowns aus dem Jahr 1963 auf einen eineinhalbstündigen Theaterabend gekürzt.


Ivan Dentler als Clown im Frack mit Perücke und roter Nase - Foto: © 2017 by Thomas Eisenkrätzer

Foto: © 2017 by Thomas Eisenkrätzer

Monologisch wird darin die Geschichte vom Abstieg eines Aussteigers erzählt. Hans Schnier, Sohn wohlhabender Unternehmer aus der Braunkohleindustrie, bricht mit der 10. Klasse die Schule ab und wird Clown. "Ich bin ein Clown, offizielle Berufsbezeichnung: Komiker, keiner Kirche steuerpflichtig, siebenundzwanzig Jahre alt", diese Selbstvorstellung steht am Anfang und am Ende des Stückes.

Mit seiner großen Liebe Marie, mit der Hans, den Konventionen und dem moralischen Diktat der katholischen Kirche zuwider, sechs Jahre lang in wilder Ehe lebt, tingelt er durch die Bundesrepublik, nicht einmal ohne Erfolg. Als sie sich von ihm trennt, um einen strammen Katholiken zu heiraten, ist das der Anfang vom Ende. Zunehmend mehr dem Alkohol als seiner Kunst zugetan, bleiben die Engagements aus, ein Sturz im Rausch verhindert bald jeden Auftritt. Jetzt sitzt er, noch im Frack, auf einer Treppe vor dem Bahnhof, ein Küchentuch um das verletzte Knie gebunden, unter einer schummrigen Neonbeleuchtung mit seiner Gitarre, einer Flasche, der letzten Zigarette und einem Bowler aus einer früheren Chaplin-Nummer und räsoniert, oft im dialogischen Selbstgespräch, über sein Leben: über seine Schwester Henriette, die gegen Kriegsende von einem Einsatz an der Flak nicht zurückkehrt, handgreifliche Auseinandersetzungen mit nationalsozialistischer Ideologie, die Bigotterie katholischer Frömmigkeit, über die Beziehung zu Marie, die sich zunehmend unkommunizierbar gestaltete und verzweifelte Versuche, sie zurückzugewinnen, über den Vater, der aus Überzeugung, nicht aus Not die Kinder hungern ließ und die Mutter, die Antirassismus predigt und Rassismus lebt, über Auftritte vor Kirchenkreisen und Kommunisten und die Dümmlichkeit und Käuflichkeit der Journaille. Er quält sich mit Vorstellungen über Maries neues Leben und darum, wen er in seiner desolaten Lage noch um Geld angehen könnte.

"Den ersten Aussteigerroman" nennt Regisseur Christian Lugerth Bölls sensible, politische Liebesgeschichte, "nur viel radikaler und moralisch auch viel konsequenter und gnadenloser, weil der Ausstieg ein Abstieg ist, und zwar total." Die notwendige Reduktion auf einige wenige Erzählstränge, so Regisseur und Darsteller in einem Gespräch mit dem Schattenblick nach der Premiere, folgte dem, was beiden besonders wichtig war, "der Verlust von Marie und damit zusammenhängend die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus, die mangelnde Verarbeitung des Nationalsozialismus in der eigenen Familie und die Existenz als freier Künstler in dieser Welt. Da hat sich seit Böll nichts geändert", fügt der Regisseur hinzu.

Entstanden ist eine Bühnenfassung, bei der sich die Episoden naht- und bruchlos an- und ineinanderfügen. René Böll, der als Sohn und Nachlassverwalter Ehrengast an diesem Abend in Kiel war, lobte denn auch gegenüber dem Schattenblick die große Intensität der Inszenierung.


Im Theater nach der Premiere - Foto: © 2017 by Schattenblick

René Böll (lks.) im Gespräch mit Theaterchef Markus Dentler
Foto: © 2017 by Schattenblick

Grandios Ivan Dentler, der in einem 90minütigen Monolog - nur unterbrochen von gelegentlichen Geräusch- und Musikeinspielungen oder der Stimme Maries aus dem Off - nicht nur den Abstieg des Hans Schnier miterlebbar macht, sondern auch allen anderen Personen, dem Vater, der Mutter, Kinkel, Fredebeul, dem Prälaten Sommerlath, Marie eine jeweils eigene und unverwechselbare Stimme gibt. Mit großer Deutlichkeit, aber ohne jede Überzeichnung bleibt der Schauspieler, sich hinter den Text zurücknehmend, obwohl sehr dicht am Publikum, immer ganz bei sich, agiert eher verhalten und introvertiert als nach außen gekehrt, und läßt die Böllsche Sprache damit umso stärker wirken, die präzise, dabei schnörkellos und unaufgeregt die Spuren von Menschlichkeit und Unmenschlichkeit nachzeichnet.

Gelungen die Einfälle der Regie, nicht nur die Bühne, sondern das ganze kleine Theater zu bespielen, auch Drastisches nicht zu scheuen, überzeugend die Inszenierung der Dialoge, wenn Schnier als Kinkel mit sich selbst als der gelben Perücke, die er in der rechten Hand weit von sich streckt, Zwiesprache hält, oder bei der Auseinandersetzung mit dem Vater, wobei diesmal der es ist, für den die Clownspuppe steht. Wenn Hans in einem Ausbruch von Wut und Verzweiflung am Ende auf die Puppe losgeht, bleibt es der Deutung des Zuschauers überlassen, ob sich die Aggressionen gegen den Vater richten oder die eigene, selbstgewählte Rolle. Die clownesken Einlagen mal komisch und zum Lachen, meist eher ungelenk und traurig, besonders dann, wenn sich der Protagonist in Dingen versucht, die er eigentlich nicht kann, wie Jonglieren oder Gitarrespielen.


Gut gelaunt nach der Premiere beim Gespräch mit dem Schattenblick - Foto: © 2017 by Schattenblick

Wurden zu Recht gefeiert: Regisseur Christian Lugerth (lks.) und Schauspieler Ivan Dentler
Foto: © 2017 by Schattenblick

Dabei werden in allem Sarkasmus, aller Eifersucht und allem Selbtmitleid auch immer die eigenen Affinitäten deutlich. "Das ist uns, glaube ich", sagt Lugerth, "gelungen, daß der Schnier eine ambivalente Figur ist, genau so ein moralisches Arschloch wie sein Vater, genauso grauenhaft kompromißlos und dann auch noch in eine Frau verliebt, die selbst moralisch kompromißlos ist. Das kann ja nichts werden. Trotzdem haben wir, das sieht man dem Abend ja auch an, mehr Sympathien für die Position von Schnier als für die von Fredebeul oder Kinkel und selbst Marie."

Einer Aktualisierung des Textes, wie sie auf anderen Bühnen versucht wurde, bedurfte es nicht, da waren sich Regisseur und Darsteller einig. Das Stück sei aus sich selbst aktuell, auch für die, die wie Dentler die 60er und 70er aus eigenem Erleben nicht kennen. "So weit weg ist das nicht", sagt der Schauspieler, und ein Blick auf eine wiedererstarkende Rechte und die blutigen Spuren, die nach wie vor im Namen welcher Religion auch immer die Welt durchziehen, geben ihm recht. Man müsse sich nur vorstellen, ergänzt Lugerth, was heute passiert, wenn ein junger Mann sich in eine wunderhübsche Muslima verliebt ...


Ivan Dentler alias Hans Schnier mit Gitarre auf den Stufen des Bahnhofs - Foto: © 2017 by Thomas Eisenkrätzer

Foto: © 2017 by Thomas Eisenkrätzer

Am Ende ist nicht nur Hans Schnier hinter seiner Clownsmaske verschwunden, auch der Clown ist unter der weißen Schminke nicht mal mehr Clown. Mit leeren Augen, die nicht das Ergebnis eines intensiven Trainings als Komiker sind, bleibt ein von der Ausweglosigkeit seiner Lage Gezeichneter im Trubel des beginnenden Karnevals zurück, dem selbst eine Abrechnung mit seiner Umwelt gescheitert ist.

Ivan Dentler ist gelungen, was selten gelingt: ein Publikum über einen ganzen Theaterabend vollständig in seinen Bann zu ziehen. Und so waren die stehenden Ovationen am Schluß die logische Folge eines faszinierenden und facettenreichen Spiels. Es hätte des Verlesens von Titel, Autor und Erscheingungsjahr aus einer Originalausgabe des Taschenbuches am Anfang der Vorstellung nicht bedurft, um darin eine Hommage und Verneigung der Macher vor Heinrich Böll zu erkennen.

Ganz großes Theater auf kleiner Bühne!!!


Anmerkung:


[1] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13515802.html


14. Februar 2017


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