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INTERVIEW/025: Umtanz und Decken - Lappenklatsch wann immer ...    Lucia Glass und Nadine Goepfert im Gespräch (SB)


JungerTanzHamburg
Lucia Glass: WAS UNS BEWEGT, WAS WIR BEWEGEN
Premiere in Hamburg am 19. September 2015 - [k]KAMPNAGEL


"Was uns bewegt, was wir bewegen" ist das neueste Stück der Hamburger Choreographin Lucia Glass, gestaltet für Kinder ab fünf Jahren. In Zusammenarbeit mit der in Berlin lebenden Textildesignerin Nadine Goepfert entstand eine eigene Landschaft mit Objekten, die speziell für diese Inszenierung geschaffen wurden. Die schwedische Tänzerin Eva Svaneblom führt ihre Zuschauer in ein Universum aus Farben und Strukturen. In dieser Welt voller Phantasie und unterschiedlicher Perspektiven zeigt sie, wie Kleidungsstücke und Gegenstände oder auch Körper ihre Eigenschaften verändern oder ihre Funktionen vertauschen können.

"In Was uns bewegt, was wir bewegen wird das Bühnenbild angezogen, das Kostüm in eine Skulptur verwandelt und der Körper zum Verschwinden gebracht."
(Auszug aus dem Begleitflyer zum Stück)

Welches Kind wird bei diesem Versprechen nicht neugierig? Über die Entstehung und Thematik des Stücks sowie die Beteiligung von Kindern während der Produktion gaben Lucia Glass und Nadine Goepfert nach der Premiere dem Schattenblick Auskunft.


Schattenblick (SB): Seit 2009 betreuen Sie choreographische Projekte an Schulen, in Theatern sowie bei Festivals in Hamburg. Was hat Sie veranlaßt, ein Kinderstück zu inszenieren?

Lucia Glass (LG): Eigentlich produziere ich für Erwachsene. Aber als ich vom K3 [1] gefragt wurde, ob ich ein Stück für Kinder machen möchte, fand ich das eine spannende Herausforderung und habe zugesagt. Tollerweise habe ich Nadine getroffen ...

Nadine Goepfert (NG): ... und mit ins Boot geholt.

LG: Bei meinen verschiedenen Projekten arbeite ich gern mit einem zusätzlichen Bezug, zum Beispiel Mode oder Fotografie, dieses Mal sind es Textildesign und ein ausgestaltetes Bühnenbild.

SB: Die Formen und Farben auf der Bühne, die umherliegenden Stoffe und seltsam geformten Kissen, was symbolisieren sie?

NG: Es geht um den Wechsel von Zweidimensionalität zu Dreidimensionalität und umgekehrt, außerdem darum, wie wir durch den Körper Objekte verändern und diese uns. Das kann man gut in der Szene sehen, in der sich die Tänzerin die Stoffe anzieht und man erkennt, wie sie sich einerseits anders bewegt und wie die Stoffe andererseits zum Kleidungsstück werden, nur weil sie am Körper sind. Jeder hat sofort die Assoziation: "Ah, jetzt ist es etwas anderes." Wir arbeiten mit einfachen Objekten, weil sie raumgebend für Assoziationen sind. Die Kissen stellen keine Tiere dar, sie könnten aber welche sein oder es könnten Bakterien sein. Das Bühnenbild mit den gemalten Körperteilen ist ebenfalls Teil der Thematik.

LG: Mir war besonders wichtig, mit Sachen zu arbeiten, die selbst gefertigt sind. Man soll sehen, da steckt jemand dahinter, der sich die Formen ausgedacht und die Farben zusammenstellt hat. Ich will die Kinder anregen, selbst aktiv zu werden, den Raum und die Dinge zu interpretieren.

NG: Tatsache ist, es gibt Spielzeug im Überfluß. Unser Stück soll der Hinweis sein, daß sich auch aus einer Decke eine Höhle bauen läßt. Jedem Objekt kann eine andere Bedeutung gegeben werden. Unsere Idee war, ein Universum für Kinder zu schaffen, das sie ästhetisch anspricht.

SB: Seit Mai durften die Kinder in Workshops und bei Probebesuchen an dem Stück teilhaben, Fragen stellen und Anregungen äußern. Wie war das?

LG: Mir hat das immer gut gefallen, wenn sie neugierig fragen und alles kommentieren.

NG: Die Kinder sind stets sehr konzentriert. Das einzige, was sich unterscheidet, ist, was sie lustig finden. Es war auffällig, daß sie in jeder Vorstellung wirklich über etwas anderes lachten.

SB: Sie haben die Kinder in Ihre Vorarbeiten mit einbezogen, nicht aber mit auf die Bühne genommen. War das eine bewußte Entscheidung?

NG: Die Distanz soll helfen, das Geheimnis zu bewahren. Kinder sind technisch interessiert. Wir hatten ganz viele, die gucken wollten, wie alles funktioniert. Aber wenn man sie nicht hinter den Vorhang schauen läßt, dann wissen sie eben nicht, wie alles zusammenhängt.

LG: Das ist Magie, die bleibt.

NG: Wir haben am Anfang natürlich darüber nachgedacht, die Kinder mit auf die Bühne zu nehmen, haben uns dann aber ziemlich schnell dagegen entschieden.

SB: Wie kam die Verbindung zu der schwedischen Tänzerin Eva Svaneblom zustande?

LG: Durch den persönlichen Kontakt. Sie hat in München studiert und lebte, als ich sie kennenlernte, in Berlin. Nadine kannte sie.

SB: Die Tänzerin hat ihr Publikum unentwegt mit den Blicken fixiert Warum dieser Augenkontakt?

LG: Ich finde es wichtig, daß Kinder nicht diese typische vierte Wand [2] haben wie oft im Theater. Es ist extrem wichtig, sie immer wieder einzuladen, mitzumachen. Unsere Strategie war, ihnen zu zeigen, daß wir sie wahrnehmen. Im Theater beruht das ja auf Gegenseitigkeit. Ich als Zuschauer nehme den Performer wahr, und er mich. Eva Svaneblom ist eine lebendig gestaltende Performerin, die sehr offen ist und auch mit dem Timing spielen kann. Sie merkt, wann jemand lacht oder unruhig auf seinem Kissen herumrutscht, wann sie ein bißchen schneller oder langsamer werden kann oder welchen Rhythmus sie wählt, damit die Kinder dabei bleiben. Dabei ist sie nicht der Clown, der gezielt die Pointen setzt. Eva sieht die Kinder wirklich, guckt sie an und hat keine Angst. Es ist wichtig, daß man nicht denkt, jetzt sind sie unruhig, jetzt muß ich schnell dieses oder jenes unternehmen.

SB: An einigen Stellen scheint die Tänzerin nur noch vier Finger an jeder Hand zu haben. Sie setzt die Bewegung mit dieser Haltung gezielt ein. Was hat es mit der Vier-Finger-Stellung auf sich?

LG: Vier Finger (der Daumen ist zur Handfläche hin eingeklappt) lassen den Arm länger erscheinen. Durch so eine kleine Körperhaltungsveränderung entsteht ein großer Effekt. Für mich ist das der Vier-Finger-Tanz. Auf diese Weise entstand eine eigene Figur, die Vier-Finger-Figur. Die haben wir gefunden.

NG: Die Tänzerin erhält so ein eigenes Wesen, einen eigenen Charakter, vielleicht sogar etwas Unmenschliches. Hinter mir meinte ein Kind: "Mama jetzt ist sie eine Schnecke." So als wären die vier Finger die Fühler.

SB: Es gab viele Bewegungswiederholungen. Aus welchem Grund wurden diese eingesetzt?

LG: Ich führe eine Bewegung beispielsweise erst ohne Kostüm oder in einem anderen Anzug aus. Ich mache eine Bewegungsphrase quasi erst nackig und dann nochmal, indem ich die Lappen umhabe, einfach um zu sagen, jetzt ist etwas passiert, es ist Zeit vergangen. Die Figur hat etwas anderes an, dann sieht es auch anders aus und wirkt neu. Oder ich mache es mit einem Tuch über dem Kopf, dann werde auch ich zu einer veränderten Figur.

NG: Es ist ein Spiel mit der Materialität. Eva tanzt eine bekannte Szene noch einmal in dem Latex-Gummi-Anzug. Das zeigt, daß sich unterschiedliche Materialen bei gleicher Bewegung nicht gleich verhalten, sogar Geräusche machen können oder andersartige Töne entstehen, wie beim Zusammenfalten des Stoffes. Stoff macht derartige Geräusche wie sie zu hören waren, nicht. Trotzdem wurden die Knackgeräusche direkt mit dem Zusammenlegen des Stoffes in Verbindung gebracht. Eine ganz schöne Irritation.

SB: Auf der Bühne lag ein schwarzes Objekt, das irgendwie auslief und bis in den Zuschauerraum floß. Was war das?

LG: Das war schwarz gefärbtes Eis. Das lag die ganze Zeit über da.

NG: Es ist das stille Objekt, das zwar auch performt, aber auf seine eigene Art und Weise. Das ist Teil des Themas Dimensionalität.

SB (zu NG gewandt): Sie sind im Bereich Mode tätig und entwerfen Kleidungsstücke. Haben Sie jetzt Interesse an der Bühnenarbeit gefunden?

NG: Ja, auf jeden Fall. Es ist schön, mal so groß zu arbeiten. Man muß in ganz anderen Dimensionen denken. Das war das erste Mal für mich, so ein Modell in klein zu bauen, und es dann in dieser Größe verwirklicht zu sehen.

SB: Hat Sie die Arbeit mit den Stoffen und Kissen zu weiteren Produktionen in dieser Richtung angeregt?

NG: Ja. Das ist schon in Planung.

LG: Wir haben viele Anfragen erhalten.

SB: Abschließend vielleicht noch etwas zur heutigen Premiere?

LG: Seit heute gehört das Stück den Kindern, nicht mehr uns.

SB: Ich bedanke mich bei Ihnen beiden für das Gespräch.


Anmerkungen:

[1] K3 - Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg auf Kampnagel ist Ansprechpartner für zeitgenössischen Tanz und Choreographie:
http://www.k3-hamburg.de/de/ueber_k3/residenz/
http://www.hamburg.de/tanz-ballett/4306944/k3-zentrum-fuer- choreographie-tanzplan-hamburg/

[2] Als "vierte Wand" wird die dem Publikum zugewandte Seite der Bühne bezeichnet, also eine imaginäre Wand. Für die Darsteller scheint sie vorhanden, sie wird nicht überschritten und es gibt auch keine Verbindung zum Publikum. Die vierte Wand kann durchbrochen werden, wenn der Spieler beispielsweise auf Applaus oder Zurufe reagiert oder in den Zuschauerraum tritt.
In der Theorie des naturalistischen Theaters Ende des 19. Jahrhunderts wurde "die vierte Wand" zum zentralen Begriff.


Den Bericht zur Aufführung "Was uns bewegt, was wir bewegen" finden Sie unter
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BERICHT/061: Umtanz und Decken ... Klamaukkissen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/theater/report/trpb0061.html



10. Oktober 2015


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