Schattenblick → INFOPOOL → THEATER UND TANZ → REPORT


INTERVIEW/031: Mexikospektive - Die junge, alte, neue Sicht ...    Uta Lambertz im Gespräch (SB)


Kampnagel lädt zur Neuentdeckung Mexikos ein

Interview mit Uta Lambertz am 2. März 2017 im Hamburg


Mexiko ist ein Land der krassen Gegensätze. Sagenhafte Landschaften, von Wüste bis subtropischen Regenwald, ein ungeheurer Reichtum an Tieren und Pflanzen und ein unübertreffliches Angebot an Kultur und Denkmälern aus der präkolumbianischen Ära locken jedes Jahr Millionen von Touristen an. Mexiko-Stadt steht mit mehr als 20 Millionen Einwohnern Tokio, Shanghai, Sao Paulo und New York in Sachen Aufregung und Modernität in nichts nach. Mexiko gehört als Mitgliedsstaat der G20 zu den aufstrebenden Mächten. Bis 2050 könnte das Land mit der größten spanisch-sprechenden Bevölkerung der Welt - 120 Millionen - laut PricewaterhouseCoopers bis auf Platz fünf der wirtschaftsstärksten Nationen der Welt avancieren.

Der große Sprung nach vorn verlangt jedoch von Mexikos Bürgern einen enormen Preis. Seit dem Inkrafttreten des North American Free Trade Agreement (NAFTA) 1994 schuften unzählige Mexikaner in den Fabriken, die an der Grenze zu den USA entstanden sind. Die Öffnung des mexikanischen Marktes für die Produkte der US-Agroindustrie hat das Kleinbauerntum südlich des Rio Grande dezimiert und eine unvorstellbare Landflucht ausgelöst. Millionen von armen, meist indigenen Landbewohnern sind entweder in die Städte Mexikos gezogen oder gleich illegal über die Grenze in die USA eingewandert. Seit 2006 ist Mexiko im Rahmen der "Merida Initiative" zum Hauptschlachtfeld jenes "Antidrogenkriegs" geworden, mit dem die USA parallel zum Kampf gegen den "Terrorismus" weltweit eine hochaggressive Strategie des militarisierten Neokolonialismus verfolgen. In den vergangenen zehn Jahren sind in Mexiko mehrere zehntausend Menschen von Drogenkartellen, Polizei oder Militärs umgebracht worden - zum Teil auf bestialische Weise. Damit ist die Sicherheitslage in Mexiko, das sich formell im Frieden befindet, schlimmer als die Afghanistans, das Taliban und NATO zusammen seit mehr als 16 Jahren zugrunde richten.


Edgar Pol-Toto mit Nashorn-Maske - Foto: © 2017 by Schattenblick

¡Quédate!
Foto: © 2017 by Schattenblick

Vom 1. bis zum 5. März bot sich auf Kampnagel in Hamburg die einzigartige Gelegenheit, Mexiko aus einer ganz anderen Perspektive kennenzulernen. Die Kulturfabrik hatte die mexikanische Avantgarde - oder zumindest einen Teil davon - in die Hansestadt eingeladen. Zu sehen waren mehrere Premieren, darunter "Anti-Formalismo - Ein Mexorzismus", ein Stück des Künstler-Duos Gintersdorfer/Klassen, in dem sich die Tänzer im Rahmen persönlicher Geschichten mit der Architektur von Mexiko-Stadt auseinandersetzen, Edgar Pol-Totos "¡Quédate!", das sich an David Bowies Außerirdischen-Tragödie "Der Mann, der vom Himmel fiel" anlehnt, und "Habitante" von Shanti Vera aus dem südlichen Bundesstaat Chiapas, wo seit 1994 die Zapatistas bewaffnet für die Rechte der verarmten Urbevölkerung eintreten.

Darüber hinaus gab es ein hochinteressantes Begleitprogramm. Unter dem Titel "Mexican Spirit" fanden vor den abendlichen Aufführungen Diskussionen, Filme und Workshops statt. Der Dokumentarfilmemacher Ricardo Braojos stellte unter dem Stichwort "Crossover Identities" mehrere Werke vor, die sich mit den Bemühungen von Mexikanern im eigenen Land und mexikanischen Einwanderern in den USA um den Erhalt traditioneller Gitarrenspiel- und Tanzformen befassen. In dem Workshop "Theater of Crisis" ging der Autor, Medienkünstler und Netz-Aktivist Fran Ilich aus Tijuana der Frage der Parallelität von gesellschaftlichen Problemen innerhalb und außerhalb Mexikos nach. Für eine absolute Sensation sorgte der Berufsprovokateur Orgy Punk mit der skurril-schrägen Voodoo-Performance "Die Salbung des Kranken - Ein Anti-Trump-Protest". Am Ende eines jeden Abends setzte DJ Pancita Peligro bei Cocktails und Cervezas mit Latin Sounds den "Mexican Spirit" bis in die frühen Morgenstunden fort. Am 2. März sprach der Schattenblick mit Uta Lambertz, die als Kuratorin das spannende und vielschichtige Programm zusammengestellt hatte.


Dokumentarfilmemacher im Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ricardo Braojos
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Lambertz, welcher Kunstrichtung stehen Sie am nächsten, wie sind Sie zu Kampnagel gekommen und was ist hier Ihre Haupttätigkeit?

Uta Lambertz: Ich komme ursprünglich aus dem Theaterbereich. Ich habe Theaterwissenschaft und Medienwissenschaft studiert, aber schon während meines Studiums eine große Nähe zum postdramatischen Theater entwickelt, d.h. eine Art von Darstellung, die sich gegen jegliche Form von Dramatisierung und Repräsentation richtet.

SB: Auch vom Narrativ?

UL: Auch vom Narrativ natürlich, das impliziert der Begriff. Ich stehe der Performance am nächsten, würde ich sagen. Zu Kampnagel gekommen bin ich im Jahr 2010 damals als persönliche Assistentin von Amelie Deuflhard, der künstlerischen Leiterin hier. Das habe ich etwas über ein Jahr gemacht, bin dann in die Dramaturgie gewechselt und habe so mit leicht sich verschiebender Tätigkeit seither eine Stelle zwischen Dramaturgie, Kuration inne und bin gleichzeitig für Kooperation verantwortlich. Das heißt, ich mache relativ viele Veranstaltungen an der Schnittstelle von Kunst und Theorie sowie mit Partnern aus dem nicht-künstlerischen Bereich. Kampnagel arbeitet mit Universitäten, Stiftungen und Hamburger Einrichtungen wie der Kreativgesellschaft zusammen, was stets den Vorteil mit sich bringt, daß man so der Außenbeobachtung ausgesetzt ist, nicht sein eigenes Süppchen kocht, sondern sich quasi mit ganz unterschiedlichen Partnern zusammensetzt, mit anderen Ideen konfrontiert wird und gemeinsam an Inhalten arbeitet.

SB: Es geht also insbesondere darum, die eigene Tätigkeit im positiven Sinne zu hinterfragen?

UL: Genau. Man teilt dadurch nicht nur Erfahrungen, sondern auch Publika und erreicht damit auch andere Zielgruppen für das eigentliche Kernprogramm von Kampnagel.


Ceprodac-Tänzer im vollen Ritt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Horse(m)en
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Wie kamen Sie darauf, ein mehrtägiges Festival zum Thema Mexiko zu konzipieren und umzusetzen?

UL: Das ist eine lange Geschichte. Kampnagel macht über das Jahr verteilt immer wieder verschiedene Festivals und Themenschwerpunkte. Seit langem setzen wir uns auch mit dem Thema Post- und Neokolonialismus auseinander. Es geht darum, nicht nur Geschichte, sondern auch quasi die daraus resultierenden, heute noch wirkenden Machtstrukturen zu hinterfragen. Jetzt den Fokus auf Lateinamerika, vor allem auf Mexiko, zu richten, basiert auf zwei Geschichten. Zum einen feiern wir gerade das duale Jahr zwischen Deutschland und Mexiko. Das war aber nicht mein Anlaß, mich mit Mexiko zu beschäftigen. Da spielte eher der Zufall die Hauptrolle.

Ich bin das erste Mal vor zweieinhalb Jahren auf Einladung des Goethe-Instituts nach Mexiko gereist, wo ich ein Festival in Xalapa besuchte. Seit dieser Erfahrung habe ich mich laufend mit Mexiko und der Kunstszene dort beschäftigt und auseinandergesetzt. Von daher bot sich das duale Jahr als Anlaß an, um das, was ich im Laufe der vielen Recherchen zu Mexiko entdeckt habe, zu zeigen und zu präsentieren. Das fügt sich auch mit dem besagten Interesse Kampnagels an Geschichte von Besatzung und Postkolonialismus. Im Mittelpunkt des Festivals steht zwar Mexiko, doch das Hauptaugenmerk richtet sich auf Fragen der Transformation und der Gegenwart. Bei den Aufführungen haben wir Arbeiten ausgewählt, die sich aus künstlerischer Perspektive mit Mexiko als Habitat, als Arbeits- und Lebenskontext, aber auch als politischer Raum auseinandersetzen.


Lukas Avendaño im Schmetterlingskostüm - Foto: © 2017 by Schattenblick

No Soy Persona, Soy Mariposa
Foto: © 2017 by Schattenblick

Folglich kann man im Mexican Spirit, unserem Diskurs-Salon während des Festivals, auch spannende Auseinandersetzungen mit der Frage, was das eigentlich alles mit uns in Deutschland und Europa zu tun hat, erleben bzw. sich daran beteiligen. Gestern haben wir das Festival mit einem Gespräch mit Anabel Hernández, der vielleicht wichtigsten Investigativjournalistin Mexikos, die seit Jahren der Verstrickung des Staates in den Narcotráfico, den Drogenhandel, nachgeht, eröffnet. In ihrem jüngsten Buch "La Verdadera Noche de Iguala" (Die wahre Nacht von Iguala) beleuchtet Hernández den schockierenden Fall der Entführung und Ermordung von 43 Lehrerstudenten im September 2014 im Bundesstaat Guerrero. In der gestrigen Behandlung dieses Themas ging es auch darum, klar zu machen, daß es auch eine Verbindung Deutschlands zu dem Massaker gibt. Schnellfeuerwaffen aus Deutschland, die zuvor an die mexikanischen Sicherheitskräfte exportiert wurden, sind nachweislich in der Mordnacht von Iguala zum Einsatz gekommen.

SB: Waffen, welche die Täter illegal besaßen?

UL: Das vermag ich nicht zu beurteilen. Man weiß jedoch, daß sie aus der Produktion des Baden-Württembergischen Waffenherstellers Heckler & Koch stammen. Aber da will ich jetzt gar nicht so weit ausholen. Eigentlich wollte ich nur betonen, daß es beim Forum Mexican Spirit auch darum geht, die globalen Verwicklungen dessen, was in Mexiko passiert, und die politische Situation dort aufzuzeigen. Mit der Wahl von Donald Trump zum neuen US-Präsidenten hat das Thema Mexiko bekanntlich an Aktualität - Stichwort Migration - gewonnen. Im Diskurs-Salon ist es unser Anliegen, auch die Beteiligung Deutschlands an den Zuständen in Mexiko deutlich zu machen und zu hinterfragen.


Enthüllungsjournalistin berichtet vom Drogenkrieg in Mexiko - Foto: © 2017 by Schattenblick

Anabel Hernández
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Nach welchen Kriterien sind Sie bei der Auswahl der präsentierten Künstler und Künstlergruppen vorgegangen?

UL: Ich bin in den letzten zwei Jahren insgesamt siebenmal in Mexiko gewesen. Den Sommer 2016 habe ich in Mexiko-Stadt verbracht und dort acht Wochen lang fast jeden Tag Theater- und Tanzveranstaltungen besucht. Ich bin auch in vielen anderen Städten wie San Louis Potosí und Xalapa gewesen und habe zum Beispiel einem kleinen Festival in Chiapas beigewohnt, wo es um das Thema Migration ging. Bei der Auswahl für das Festival habe ich mich vor allem für Künstler interessiert, die den eigenen gesellschaftlichen Kontext in ihren Arbeiten reflektieren. Darüber hinaus habe ich das Hauptaugenmerk auf Arbeiten von jungen Künstlern und Positionen gerichtet, die in Europa noch nicht gezeigt wurden. Man könnte natürlich die größten Kompanien Mexikos einladen, aber es war mein Bestreben zu zeigen, was man alles in Mexiko findet, wenn man etwas hinter die Oberfläche des üblicherweise Repräsentierten und Präsentierten schaut.


Eine weiße Frau und ein schwarzer Mann in Tanzpose - Foto: © 2017 by Schattenblick

Anti-Formalismo - Ein Mexorzismus
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Gibt es vielleicht Aspekte der Kunst bzw. des Alltagslebens in Mexiko, die in Europa bzw. in Deutschland unbekannt sind und denen Sie hier eine Bühne geben wollten?

UL: Um die Frage zu beantworten, muß ich etwas weiter ausholen. Ich glaube, daß wir in Deutschland und in Europa einen relativ reduzierten Blick auf Mexiko haben. Eigentlich ist Mexiko über die US-Präsidentenwahl wieder in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit gerückt. Vorher war Mexiko lediglich das Land, das südlich an die USA grenzt. Wegen der Kontroverse um den geplanten Bau einer riesigen Grenzmauer ist Mexiko weltweit in aller Munde. Vorher wußten wir vielleicht Dinge wie zum Beispiel, daß Mexiko wegen des Drogenkriegs ein sehr gefährliches Land ist, dort aber gleichzeitig alles sehr bunt mit Figuren wie Diego Rivera und Frida Kahlo zugeht. Dazu kommen vielleicht noch die Kinobilder von Wüstenlandschaften und Cowboyhüten.

Also wissen wir tatsächlich über Mexiko, über die zeitgenössische Kunst dort, über die Choreographie- und Performanceszene praktisch gar nichts. Ich glaube, daß man anhand dieses Festivals eine Idee davon bekommt, wie reich die mexikanische Kunstszene an jungen politischen Künstlern ist, die eine eigene Ästhetik mitbringen, die mit ihren Arbeiten Fragen stellen, sich zum Teil zwischen Kunst und Aktivismus bewegen, mit ihren Arbeiten Risiken eingehen und die Klischees über ihr Land auf eine sehr ironische und sarkastische Art und Weise konterkarieren. Das sieht man zum Beispiel in dem Stück "Horse[m]en" von Jaciel Neri und Ceprodac, das zunächst als eine relativ klamaukige Arbeit daherkommt, aber mit den ganzen Klischees von Cowboykultur und Machismo und so weiter spielt.


Der eine Totenmaske tragende Orgy Punk beschwört bei Kernzenlicht die Geister - Foto: © 2017 by Schattenblick

Ein Anti-Trump-Protest
Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Arbeiten sind alle sehr unterschiedlich - also von düster-installativ, festlich-ironisch bis sarkastisch-humorvoll. Es gibt zwei Vorführungen auf dem Festival, die sehr interessant sind, da man bei ihnen wirklich etwas über die indigene Kultur Mexikos erfährt. Ich spreche von den beiden Shows von Lukas Avendaño, einem Performer aus Oaxaca, der sich intensiv mit der Stellung der Muxe bei den Zapoteken beschäftigt. Die Muxe ist in der Zapoteken-Kultur die Transfrau bzw. der Schwule, der traditionell in der Gesellschaft die Rolle der Frau annimmt. In "No Soy Persona, Soy Mariposa" (Ich bin keine Person, ich bin Schmetterling) thematisiert Avendaño zum einen die Lage der Homosexuellen in Mexiko, ihre Erfahrung von Unterdrückung und Diskriminierung. Mariposa - Schmetterling - nutzt er in vielfältiger Ausdeutung, denn es wird in Mexiko als Schimpfwort für die Schwulen benutzt, gleichzeitig beschwört er die Schönheit jenes zerbrechlichen Tieres, verführt die Zuschauer und appelliert an sie, sich im Grunde zum Schmetterlingssein zu bekennen. In dem zweiten Stück "Réquiem Para Un Alcaraván" macht er das Publikum mit den Ritualen der Muxe-Frau, den Transformationsritualen vom Mann zur Transfrau, vertraut. Das ist sicherlich ein Element der mexikanischen Kultur, das man hier in Deutschland bisher noch nicht zu sehen bekommen haben dürfte.

SB: Die Fragen von Gender und Geschlechterrollen tauchen in den dargebotenen Aufführungen des Festivals häufiger auf. Gehen die Mexikaner mit diesem Thema anders als die Menschen in Europa um bzw. haben vielleicht auf Grund der vorkolumbianischen Kultur einen anderen Zugang dazu?


Ilich, mit Mikrophon in der Hand, macht auf der Bühne eine Power-Point-Präsentation - Foto: © 2017 by Schattenblick

Fran Ilich
Foto: © 2017 by Schattenblick

UL: Nun, die Muxe stellt ein in der Zapotekenkultur in Oaxaca spezifisches Phänomen dar. Aus dem, was ich über die Gespräche mit den mexikanischen Künstlerinnen und Künstlern erfahren habe und lediglich aus der Perspektive des Gastes beurteilen kann, läßt sich sagen, daß die Kultur Mexikos, vor allem im ländlichen Bereich, sehr christlich im konservativ-katholischen Sinne geprägt ist. Mexiko-Stadt wiederum ist eine große Weltmetropole, die in den letzten Jahren sehr viele Gentrifizierungsprozesse durchlebt hat und sich als schwulenfreundlich gibt. Dort ist die Homosexualität mittlerweile erlaubt. Schwulen und Lesben dürfen Kinder adoptieren, haben ungehinderten Zugang zum Gesundheitssystem et cetera. Das war vorher nicht so. Also, auf der Fassade sieht alles irgendwie ganz gut aus, doch blickt man dahinter, ist es für die LBGTQI-Community, so wie ich das erzählt bekommen habe, nach wie vor sehr schwierig, quasi öffentlich mit dem Thema umzugehen.

Da bildet die Hauptstadt mittlerweile vielleicht eine kleine Ausnahme, aber ansonsten ist es in Mexiko nicht anders als in ganz Lateinamerika, wo Haßverbrechen und so weiter an der Tagesordnung sind. Im Mai 2016, wenige Wochen vor dem blutigen Überfall auf einen Nachtclub in Orlando, Florida, der mit 49 Todesopfern weltweit für Schlagzeilen sorgte, kam es in Xalapa, der Hauptstadt des Bundesstaats Veracruz, zu einem ähnlichen Vorfall, von dem aber praktisch niemand Notiz genommen hat, weil so wenig darüber berichtet wurde. Drei schwerbewaffnete Personen stürmten nachts in ein beliebtes Schwulenlokal, schossen um sich und töteten 15 Menschen.

Gehen die mexikanischen Künstlerinnen und Künstler mit dem Thema Sexualität und Geschlechterverhältnis anders als wir hier in Europa um? Ich denke, daß in Mexiko der Aktivismus in der Kunst einfach relevanter ist, weil sich in Mexiko als Aktivist, Menschenrechtler, investigative Journalistin oder gesellschaftskritischer Künstler zu betätigen gefährlich ist. Ich habe das Gefühl, daß der Kunst in Mexiko insgesamt eine höhere Bedeutung beizumessen ist, weil sie den Beteiligten einen Schutzraum bietet, Dinge zu artikulieren, wie man es in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht ohne weiteres, vielleicht sogar, nicht ohne sich in Lebensgefahr zu bringen, tun kann. Die aufgeworfenen Fragen werden als brisanter wahrgenommen. Das ist mein subjektiver Eindruck.


Drei Vermummte in Regenmantel und orangenem Licht strahlen Verzweiflung heraus - Foto: © 2017 by Schattenblick

Habitante
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Welche Anregungen können Europäer, ob Kunstschaffende oder nicht, vielleicht aus dem Umgang der Mexikaner mit ihrer Kultur und ihrer zum Teil verschiedenen Herkunft bei der Behandlung gesellschaftlicher Probleme mitnehmen?

UL: Ich kann das natürlich jetzt nicht mit Blick auf die Arbeiten aller mexikanischen Künstler beantworten, denn das wäre vermessen. Was man vielleicht über die bei Kontext Mexiko zu erlebenden Darbietungen und Diskussionen sagen kann, ist, daß es sich allesamt um Arbeiten handelt, die den sozialen und politischen Kontext auf eine eigentümliche Art und Weise reflektieren. Die Künstler beziehen sich auf sich selbst und ihr Dasein als Mexikaner, statt die Kultur ihres Landes folkloristisch darzustellen. Die Europäer haben immer einen sehr eingeschränkten Blick auf künstlerische Arbeiten, die nicht europäisch sind. Häufig wird das Exotische, das Folkloristische und so weiter gesehen und auch gesucht, weil es im Zweifel das ist, was einem fremd und dadurch interessant erscheint.

Ich glaube, was man hier bei Kontext Mexiko vielleicht lernen kann, ist, den Blick für das, was über die üblichen Klischees hinaus geht, zu öffnen. Alle in diesen Tagen dargebotenen Arbeiten laden gerade dazu ein, hinter die Fassade, hinter die Repräsentation, zu schauen. Und was wiederum die Künstlerinnen und Künstler davon lernen können, da würde ich gar nicht so sehr unterscheiden wollen zwischen mexikanischer und nicht-mexikanischer Kunst. Künstler können im Grunde immer voneinander lernen, wenn sie ihre Ästhetiken und ihr politisches Denken zusammenbringen und sich dadurch bereichern. Das ist vielleicht das Wichtigste. Es geht bei der Fokussierung auf Mexiko nicht darum, zu vermitteln, nach dem Motto: "Seht mal. Mexiko ist so und so", und damit lediglich eine Erweiterung der Klischees anzubieten, sondern tatsächlich darum, einen Diskurs-, Erfahrungs- und politischen Raum für einen kurzen Moment zu schaffen, in dem das Publikum die Möglichkeit erhält, sich mit den Künstlerinnen und Künstlern, die im Rahmem von Kontext Mexiko auftreten, auch auszutauschen.

SB: Frau Lambertz, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch.


Uta Lambertz im Porträt - Foto: © 2017 by Schattenblick

Uta Lambertz
Foto: © 2017 by Schattenblick


9. März 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang