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INTERVIEW/032: Mexikospektive - flüchtig und konkret ...    Lukas Avendaño im Gespräch (SB)


Eintauchen in die Welt der Muxes bei den Zapoteken

Interview mit Lukas Avendaño am 5. März 2017 in Hamburg


Am Diskurs um Transgender, Transsexualität und Travestie bricht sich das klassische Geschlechtermodell von Mann und Frau. Hinter der Maske des Normativen hat es immer auch Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen gegeben. Dazu bedarf es keines dritten Geschlechts, weil die Frage der Geschlechtlichkeit nicht von der Frage der Definitionsgewalt zu trennen ist. Gott schuf, um es einmal in der Sprache der religiösen Verklärung auszudrücken, nicht nur Adam und Eva. Was als fremd, gar pervers oder abartig noch heute in vielen Teilen der Welt diskreditiert, unterdrückt und mit dem Tode bestraft wird, hat nicht immer den Charakter des Sanktionierten getragen. Die Figur der Muxe in der indigenen Zapotec-Kultur im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca ist ein Fingerzeig darauf, daß die Geschlechtsidentität in erster Linie ein gesellschaftliches Konstrukt darstellt, die jedoch dazu mißbraucht werden kann, um alle anderen, in der Sache ebenbürtigen Formen eines identitären Selbstverständnisses zu tabuisieren und der Verfolgung auszusetzen.

Lukas Avendaño, der in der Landenge von Tehuantepec geboren wurde und dort in einer Gemeinschaft von Zapoteken aufwuchs, hat mit seinen Performances "No soy persona, soy mariposa" und "Requiem für einen Alcaravan" den Versuch unternommen, den Zuschauern auf Kampnagel die Muxe-Kultur, die weit über die Kontextualisierung von Sexus und Libido hinausgeht, in ihrer ganzen Komplexität nachvollziehbar näherzubringen. Was den Brückenschlag von der Zapotec-Kultur zu den westlichen Gesellschaften nicht gerade erleichtert, hat seinen Grund insbesondere darin, daß wir es gewohnt sind, eine Person in ihrer Geschlechtszugehörigkeit als er, sie oder es zu definieren und daher konfus reagieren, wenn diese Grenzen ins Haltlose verschwimmen, was für Avendaño jedoch nur eine Problematik für Leute darstellt, die sich das Leben unnötig schwermachen wollen.


Avendaño im grellroten Licht in seinem Schmetterlingskostüm - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Mensch wird zum Schmetterling
Foto: © 2017 by Schattenblick

Muxe ist ihm zufolge eine Person, die mit dem Geschlechtsorgan des Mannes auf die Welt kommt, aber in ihrer Affektbezogenheit und Emotionalität eine Rolle annimmt, die kulturell der Frau zugeschrieben wird. Um all diese Aspekte und Feinheiten zu verstehen, kommt man nicht umhin, die Integrität der Jungfräulichkeit in der katholisch geprägten mexikanischen Kultur zu beleuchten. Da Männer in der Regel einen ausgeprägten Sexualtrieb haben, in Mexiko jedoch dem Performancekünstler zufolge eine unversehrte Vagina ungleich wertvoller ist als hundert Ejakulationen, war in diesem hormonalen Grundkonflikt der "Arsch einer Muxe", wie sich Avendaño recht frivol für westliche Ohren ausdrückte, "für die heißen Machos die natürlichste aller Lösungen". Dennoch bekennen sich auch verheiratete Männer, die Geschlechtsverkehr mit einer Muxe haben, nicht zwangsläufig als bi- oder homosexuell.

Um diesen Widerspruch angemessen und kritisch reflektieren zu können, muß man sich die Eroberungs- und Missionierungsgeschichte Mexikos vor Augen halten. Die Missionare, vor allem in Gestalt der Franziskaner, prangerten die Polygamie, den Vielgötterkult und die Sodomie unter den Ureinwohnern des Landes als sündhaftes Treiben an. In den Fängen von Bekehrung, drohendem Tod und der Unterwerfung unter das Regime der neuen Herrscher, die mit dem Hammer religiöser Verbote und Vorschriften die althergebrachten Lebensstrukturen zerschlugen, mutierte, was heute als mexikanisch gilt, zu einem katholizistischen Zerrbild dessen, was mit der Ankunft der Konquistadore dem Untergang geweiht war. Aufgrund der inneren Kohärenz zum Jungfrauenkult könnte die Muxe als Typologisierung der Gender-Frau kulturgeschichtlich vielleicht verstanden werden als die Institutionalisierung eines sozialen Regulativs, mit dessen Hilfe die Implantation der in ihren Sexualbegriffen seit jeher restriktiv operierenden katholischen Lehre in die indigenen Kulturen weniger konfliktanfällig verlief. Wichtig in den Augen Avendaños ist jedoch, daß dieses Erklärungsmodell von Muxe nur einen Teilaspekt ihrer kulturellen Eingebettetheit in die zapotekische Tradition und Folklore abdeckt. Im Anschluß an seine zweite Performance hatte der Schattenblick Gelegenheit für weitergehende Fragen.


Avendaño mit bemaltem Gesicht und Federn im Haar streckt eine Hand dem Publikum entgegen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Eine symbolische Handreichung
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Welche Besonderheit zeichnet die Zapotekenkultur in der Gesamtschau der indigenen Bevölkerungen in Mexiko aus?

Lukas Avendaño: Sie ist weniger orthodox in Sicht auf die Heterogenität. Im Grunde sind es sehr offene Menschen. Wenn man auf eine solche Kultur trifft, kann man sich entweder damit identifizieren oder nicht. Tut man es, nimmt man ihren Lebensstil bewußt an. Das Besondere an dieser Kultur liegt gerade darin, daß sie für sich allein stehen kann.

SB: Aus Ihren Worten entnehme ich, daß Sie als Kulturethnologe keinen Vergleich zwischen den Völkern und Kulturen machen.

LA: Jedenfalls nicht nach einer systematisierten Methode. Natürlich vergleicht man immer unbewußt, denn wir sind Menschen, aber ich versuche in meiner wissenschaftlichen Arbeit eine vergleichende Bewertung auszublenden. Es ist, wie wenn man auswählt, welches Bier man trinken möchte. Man vergleicht nicht, sondern geht danach, was einem schmeckt.

SB: Könnten Sie erzählen, wie Sie in die Kultur der Zapoteken aufgenommen wurden. Hat es eine Art Initiation gegeben?

LA: Ich bin dort als einer von fünf Brüdern geboren worden. Mein Vater war Baseballtrainer. Natürlich wollte er, daß auch seine Söhne diesen Sport betreiben, aber ich war schon immer ein Außenseiter gewesen. Trotzdem hat mein Vater mich nicht dazu gezwungen. Wenn ich bei der Feldarbeit mithelfen sollte, habe ich geweint, wußte aber nicht, warum. Ich wußte jedoch, daß irgend etwas nicht stimmt und ich es nicht mochte, dort zu arbeiten. Daraufhin haben meine Eltern beschlossen, daß ich zu Hause bleiben durfte. So bin ich mehr mit meiner Mutter und meiner Schwester aufgewachsen, denen ich im Haushalt geholfen habe. Das ist ein Paradebeispiel dafür, wie man sich mehr in eine andere Richtung entwickelt. Man fragt sich nicht: 'Was passiert da gerade?' - es ist ein ganz natürlicher Prozeß. Erst wenn man alt genug ist, entscheidet man sich dafür oder dagegen. Als Sie sich heute eine Hose angezogen haben, war es da nicht Ihre freie Entscheidung?

SB: Ja, auf jeden Fall.

LA: Auch ich habe früher Hosen angezogen. Aber wenn man die Fähigkeit erlangt, bewußte Entscheidungen zu treffen, geht man danach, was einem am meisten gefällt.

SB: Demnach hat es bei Ihnen keine spezielle Einführung in die Zapotekenkultur gegeben?

LA: So wie man Sie in die deutsche Kultur eingeführt hat bzw. wie Sie Ihre Relation zum Deutschen beschreiben würden, ist es bei mir gewesen. Ich habe nie darüber nachgedacht, daß ich unter Zapoteken lebe. Es gab weder ein spezielles Moment noch habe ich mich jemals in einen Vergleich mit den Kulturen anderer Landesteile gesetzt. Es war einfach so. Mir ist noch nicht einmal aufgefallen, daß die Zapoteken etwas Besonderes waren. Ich dachte, daß es überall auf der Welt so sei und daß jeder so schöne Röcke tragen würde. Das änderte sich erst, als ich zur Universität kam und feststellen mußte, daß die Welt nicht so ist.


Avendaño im Brautkleid und ein Mann aus dem Publikum werden zum Schein getraut - Foto: © 2017 by Schattenblick

Zwei Liebende finden zueinander
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: In Ihren Performances spielt die Figur der Muxe eine zentrale Rolle, die mit Homosexualität oder entsprechenden Dienstleistungen konnotiert ist. Könnten Sie aus Ihren eigenen Erfahrungen heraus schildern, wie man zu einer Muxe wird und ob damit eine spezifische Geschlechtsidentität verbunden ist?

LA: Die Sexualität ist nur eine Form der Möglichkeit, die eher von der Wahl, die man trifft, abhängt; es ist eine persönliche Entscheidung. In vielen Fällen gibt es diese Freiheit nicht, aber dennoch ist es der Muxe oder den Homosexuellen nicht vorherbestimmt. Viele kleine Jungs spielen mit ihrer Sexualität, ohne daß man sie gleich in eine Ecke drängt oder determiniert, was sie sind. Deshalb habe ich bei meinem Auftritt auch zu betonen versucht, daß bei der Muxe nicht nur ein sexuelles Motiv, sondern viel mehr dahintersteckt, daß es auch eine kollektive Bedeutung ebenso wie eine religiöse, soziale, kulturelle und sogar wirtschaftliche hat.

SB: Könnten Sie den sozialen Zusammenhang der Muxe einmal ausführlicher erläutern?

LA: Man könnte es vielleicht so definieren: Wenn jemand entschlossen ist, geht er von zu Hause weg, aber bei der Muxe ist es nicht so. Eine Muxe heiratet nicht, und weil sie ungebunden ist, bleibt sie im Hause der Eltern und begleitet ihren Prozeß des Alterns als Pfleger. Das gehört unter anderem mit zur Funktion der Muxe. Deshalb gibt es auch keine Pflegeheime oder Hospize bei den Zapoteken. Im religiösen Kontext sind sie es, welche die Jungfrauen, die im Katholischen sehr wichtig sind, schmücken und dekorieren. Sie leiten oft auch die Gebete und festlichen Aktivitäten zur Ehrung der Heiligen.


Ein betender Avendaño auf den Knien im traditionellen Mädchenkleid - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der Jugendliche beginnt die Muxe-Initiation
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Warum muß eine Muxe allein leben und darf keine homosexuelle Beziehung zu einem Mann eingehen? Ist diese Neigung sanktioniert oder gibt es andere, vielleicht kulturelle Gründe dafür?

LA: Weil es sozial nicht anerkannt ist, daß eine Muxe mit einem Mann leben kann. Das ist jetzt eine spontane Antwort. Man muß dies auch im Zusammenhang mit dem Krieg denken. Lange bevor der Kontinent von den Konquistadoren entdeckt wurde, herrschte hier schon Krieg, und dieser Krieg geht in den Köpfen weiter. Mit dem Verlust so vieler Männer, die in den Auseinandersetzungen starben, mußte darauf geachtet werden, daß die Bevölkerung weiter wuchs. Biologisch gesehen ist zwischen Männern keine Nachkommenschaft möglich. Die Frage, warum eine Muxe kein festes Verhältnis mit einem Mann eingehen kann, bedarf noch weiterer Forschung, weil dies in der zapotekischen Kultur und Gesellschaft noch nicht endgültig geklärt ist.


Avendaño mit ausgetreckten Armen springt ballettähnlich durch die Luft - Foto: © 2017 by Schattenblick

In voller Pracht schwebt die Muxe davon
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: In Ihrer Ästhetik spielen Sie auf die Überschreitung tabuisierter Grenzen an, indem Sie dem Konzept der Person den Entwurf des Schmetterlings - Mariposa - gegenüberstellen. Verfolgen Sie damit ein politisches Ziel auch im Sinne der LGBTQI-Bewegung?

LA: Ja und nein. Es war nicht meine Priorität, aber es ist ungeachtet dessen nicht möglich, dieses Thema nicht zu berühren bzw. keine Stellung dazu einzunehmen. Besonders in dem Stück "No soy persona, soy mariposa" geht es darum, Grenzen zu überschreiten. Die eine ist ideologisch, weil es in den Vereinigten Staaten und Kanada das Phänomen gibt, daß die Schmetterlinge nach Mexiko immigrieren. Sie brauchen dazu kein Visum, keine Dokumente. Das ist genau das, was ich getan habe, als ich meinen Anspruch darauf, eine Person zu sein, denunzierte. Als Schmetterling kann ich ganz leicht überallhin reisen, wo ich möchte. Es ist eine Utopie.

Die zweite Grenze in der Bedeutung des Schmetterlings ist die im Sinne des heterosexuellen Definitionskontextes, wo Schmetterling mit Homosexualität gleichgestellt wird. Doch wenn wir Schmetterling als ein Recht ansehen, frei zu reisen, verliert das Wort diese vorverurteilende Konnotation. Dann darf jeder ein Schmetterling sein und überallhin reisen, weil es egal ist, ob man heterosexual ist oder nicht. Mit dieser zweiten Grenze wird der Begriff enger und plastischer gemacht.

Die dritte Grenze hat damit zu tun, was möglich ist und was nicht. Vielen, die Träume haben, wird gesagt, daß es unmöglich ist, sie zu verwirklichen. Das ist nicht meine Sichtweise, meine Wahrheit ist das, was ich lebe, aber für viele bleibt es ein Traum. Was als Utopie erscheint, ist eigentlich keine Utopie, sondern eine Möglichkeit, so zu leben, wie man möchte. Die dritte Grenze bedeutet, daß Utopie nicht immer utopisch sein muß. Es ist möglich, die Grenze zu überschreiten, die uns zwischen Realität und Utopie gefangenhält. Das ist meine Intention in diesem Stück.


Avendaño, ganz in schwarzen Trauerkleidern, stellt sich dem Tod entgegen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Muxe als Sterbebegleiter
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Auf der Bühne haben Sie die Adaptation eines Originaltextes von Felipe Osornio verwendet, verstanden als Anklage gegen die Heuchelei und doppelzüngige Moral im Umgang mit Menschen, die nicht in das normative Geschlechterkorsett von Mann und Frau hineinpassen. Sehr eindringlich zeigen Sie die menschliche Verletzlichkeit, aber auch eine Entschlossenheit, die ausdrückt, 'Ich weiche nicht; Ich bin der Widerstand, der Krieg erklärt'. Woher nehmen Sie diesen Willen?

LA: Weil ich immer hier war und niemanden um Erlaubnis bitten muß, um zu existieren und auf die Art glücklich zu sein, wie ich es möchte, auch wenn ich alleine stehe. Diese Haltung ist mein Leben. Es aus welchen Gründen auch immer nicht zu tun, ist keine Entschuldigung. Oder einfacher gesagt: Es ist mein Naturell, immer zu tun, worauf ich Lust habe. Ich beuge mich nicht, und deshalb bin ich heute hier.

SB: Vom Publikum haben Sie viel Applaus und Zuspruch erhalten, auch für Ihren Mut, die Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Dennoch treffen Sie immer wieder auf Menschen, die mit Ihrer Art zu leben nicht klarkommen. Wie gehen Sie mit dem Widerspruch um, für Ihre Unerschrockenheit geliebt und zugleich als Mensch auf Distanz gehalten zu werden?

LA: Beispielsweise durch Interviews, indem ich einfach rede wie jetzt mit Ihnen. Und überhaupt stehle auch ich den anderen Leuten die Zeit. (lacht)

SB: (lacht ebenfalls) In der Texteinblendung auf der Leinwand war zu lesen: 'Vom Mann habe ich nur die linke Pfote.' Was bedeutet das?

LA: Man sagt vom Teufel, daß sein linkes Bein ein Eselsbein sei oder von einem Schaf oder einer Ziege. Das macht ihn als männliches Wesen erkennbar und sichtbar. Wenn ich etwas von einem Mann oder einem Macho habe, dann ist dies nur in der Form des Diablos möglich. Das ist der Unbeugsame, aber nicht nur jemand, der sich nicht unterdrücken läßt, sondern der auch die Religion hinterfragt. Viele möchten eine Heilige oder ein Engel sein. Ich nicht. Das können ruhig andere sein, ich bin dann doch lieber der kleine Teufel.

SB: Vielen Dank, Herr Avendaño, für das Interview.


Interviewszene im Sitzen auf den Stufen der Bühne - Foto: © 2017 by Schattenblick

SB-Redakteur und Lukas Avendaño
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum Kampnagel-Festival Kontext Mexiko im Schattenblick unter
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INTERVIEW/031: Mexikospektive - Die junge, alte, neue Sicht ...    Uta Lambertz im Gespräch (SB)


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