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INTERVIEW/034: Mexikospektive - im Spiegel der Kämpfe ...    Jaciel Neri im Gespräch (SB)


"Horse(m)en" - Ein Ritterspiel um Macht und Ohnmacht

Interview mit Jaciel Neri am 4. März 2017 in Hamburg


Der öffentliche Raum in Mexiko ist ein umkämpftes Feld. Hier tobt der zivile Krieg der Institutionen und Presseorgane um Deutungshoheit, aber hier fallen auch Schüsse oder werden Menschen auf offener Straße entführt, die dann für immer verschwinden. Auf der Ebene der Korruption geht es um Geld und Politik. Doch diese Demarkationslinien sind kaum zu unterscheiden von den im Reich der Kriminalität vernetzten Strukturen eines weltweiten Drogen- und Organhandels. Jeder hält die Hand auf. Das Geschäft mit der Ausbeutung und dem Leid von Menschen blüht prächtig. Daß inmitten der Gewalt und beklemmenden Enge der Widersprüche das Vergessen und Verdrängen zur Überlebensmaxime gerät, ist in kaum einem anderen Land derart Alltag geworden wie in Mexiko. Die Zivilgesellschaft schweigt zu alledem und zahlt doch den Preis dafür.


Jaciel Neri vor der leeren Zuschauertribüne auf Kampfnagel stehend - Foto: © 2017 by Schattenblick

Jaciel Neri
Foto: © 2017 by Schattenblick

Für den international erfolgreichen Choreografen Jaciel Neri liegen die Wurzeln dieses Schweigens weit in der Geschichte, aus der nicht nur der farbenfrohe Teil der überlieferten Folklore sprießt. Mitunter verwirbeln landeseigene Traditionen und Elemente der längst nicht überwundenen Kolonialherrschaft in gegenseitiger Durchdringung zu neuen Ausdrucksformen einer Heroisierung von Figuren aus dem sozio-kulturellen Raum. Diese müssen nicht einmal real sein. Je höher der Abstraktionsgrad, der sich zwischen Wirklichkeit und Fiktion schiebt, desto besser gedeiht die Saat der Idealisierung. In seiner neuesten Produktion "Horse[m]en" hat Neri den Typus des überdimensionierten Helden ins Fadenkreuz seiner Kulturkritik genommen, der in Mexiko in vielerlei Facetten auftritt, aber im historischen Rückblick als Reiter auf dem Pferd, diesem Symbol kolonialer Unterwerfung, sein prägnantestes Motiv findet. Nicht von ungefähr erfreuen sind Charreadas, dem Rodeo verwandte Reiterspiele, in Mexiko großer Beliebtheit, die auf die Zeiten der Großgrundbesitzer und Haciendas zurückgehen und die klassische Arbeit auf der Ranch im Grunde artistisch überhöhen. Dieser Kult um stolze Männer, die sogenannten Charros, in engen Hosen mit seitlichen Silberknöpfen, Sombreros und schwingenden Lassos steht synonym für eine Herrschaftskultur, die es den Indios beispielsweise für lange Zeit verbot, Pferde zu besitzen.


Ceprodac-Tänzer in zentauren-ähnlicher Kostümierung - Foto: © 2017 by Schattenblick

Mexikanische Cowboys im vollen Ritt
Foto: © 2017 by Schattenblick

Als Promoter mexikanischer Kultur läßt Neri einmal mehr traditionelle Musiken, Volkstänze und moderne Choreografie aufeinanderprallen, um die Grenzen experimenteller Darstellung neu auszuloten. Doch geht es ihm dabei nicht so sehr darum, ästhetische Stilelemente aus bloßer Verliebtheit am Spektakel aufzusprengen; so führt die bunte Weitschweifigkeit der Bilder keineswegs ein kopfloses Eigenleben. Vielmehr zwingt sie Neri immer wieder in eine narrative Dichte zurück, deren alles übergipfelnder Tenor und innerer Faden im sarkastischen Humor wurzelt. Und darin geizt er keineswegs mit subtil verstörenden Einschüben, wenn beispielsweise der folkloristische Überschwang an Kostümen und zeremonialer Musik sanft hinübergleitet in die Hinrichtung von Männern mit Kapuzen über den Köpfen. Als Stochern ins Makabre kommt auch die Pose eines Überlegenheitsgefühls herüber, wenn ein Macho-Ganove mit Goldkette breitbeinig über den Leichen von Indios in ein triumphales Lachen ausbricht und dabei Selfies schießt. So zieht sich durch "Horse[m]en" ein tiefer kulturhistorischer Riß, der die Koketterien der durch den Reiter quasi symbolisierten Auferstehung des Mannes als Sinnbild für Unterwerfung und Führungsanspruch in nicht zu verleugnender Absicht ins Possenhafte verdreht. Wenn die Gesellschaft im Schweigen verharrt, muß die Bühne Neri zufolge zum öffentlichen Raum der Auseinandersetzung werden. Im Anschluß an die Aufführung sprach der Schattenblick mit dem Choreographen aus Mexiko.


Drogenkrimineller im Playboy-Look schießt Selfie mit der Leiche eines Getöteten - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der mörderische Narco verhöhnt sein Opfer
Foto: © 2017 by Schattenblick

Schattenblick: Herr Neri, wie ist es zur Zusammenarbeit mit Ceprotac gekommen?

Jaciel Neri: Ceprodac ist das Zentrum für modernen Tanz in Mexiko. Meine eigene Compagnie heißt moving borders. Der Direktor von Ceprotac kennt mich und meine Arbeit gut und hat mich daher engagiert, diese Produktion zu machen, aber Idee und Inhalt von "Horse[m]en" stammen von mir.

SB: Was hat Sie dazu bewogen, die leidvolle Eroberungsgeschichte Mexikos über das Sinnbild des berittenen Kriegers aufzuarbeiten?

JN: Die Spanier kamen auf Pferden und eroberten Mexiko. So zieht sich durch unsere Geschichte das Symbol des Mannes, der Kontrolle über das Pferd ausübt. In diesem Sinne hat es ganz verschiedene Arten von Herrschern gegeben - von politischen und militärischen Führern bis zu hohen Amtsträgern in den verschiedenen Religionen oder volksnahen Personen, die Protestaktionen leiteten -, die dieses Symbol benutzten. In der Sphäre der Imagination taucht dann noch die Figur des Superhelden auf, der in Mexiko jedoch oft eine Art Anti-Held darstellt.

SB: Und welche Funktion hat eine solche Führungspersönlichkeit, ob nun real oder abstrakt?

JN: Zu manchen Zeiten müssen die Mexikaner an jemanden oder an etwas glauben, das ihnen Schutz oder Orientierung bietet. Es ist ein tiefes Bedürfnis in der Psyche der mexikanischen Bevölkerung. So ist es nicht weiter erstaunlich, daß unsere Geschichte viele Helden hervorgebracht hat. Nicht zwangsläufig müssen es Staatsmänner oder Widerstandskämpfer sein. Gómez Bolaños beispielsweise war ein mexikanischer Komiker, der mit seiner bekanntesten Figur "El Chavo del Ocho" in den 1970er und 1980er Jahren in ganz Lateinamerika gefeiert wurde. Die Figur des Helden kann auch aus dem Wrestling kommen, was typisch mexikanisch ist. Ein Held wird immer von der Gesellschaft aufgebaut, und das Symbol für diese Charaktere ist der Reiter.


Der Superheld als Kombination aus Charro, Militär und maskiertem Luchador - Foto: © 2017 by Schattenblick

Mexikanischer Macho-Mann
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Offensichtlich hatten Sie ein großes Vergnügen an der bissig-humorvollen Bloßstellung von Männlichkeitsmasken. Inwieweit kann Sarkasmus ein Stilmittel sein, der Kultur von Stärke und Gewalt den Rang streitig zu machen?

JN: Wir Mexikaner sind ein sehr optimistisches Volk, und weil ich das weiß, schien mir der beste Weg, sie mit den Auswüchsen von Gewalt und Armut, unter denen das Land im Moment leidet, zu konfrontieren, darin zu bestehen, den Humor gegen die Verdrängung der aktuellen Situation zu wenden. Daß in dieser Umkehrung auch der Sarkasmus als Form der Überspitzung seinen Platz findet, ist insofern legitim, als ich einen Prozeß aufzeige, damit die Menschen die Realität und damit auch einen Teil ihres Alltags reflektieren müssen. Man kann lachen, sich über bestimmte Szenen lustig machen, auch wenn auf der Bühne gerade jemand ermordet wird. Dadurch, daß die Grausamkeit verdeckt wird, soll eine Annäherung geschaffen werden. Das ist die Idee hinter dem Humor. Ich glaube, als Spiegel kann er die Menschen dazu bringen, darüber nachzudenken, was mit uns gerade in Mexiko passiert.

SB: Wie aufgeklärt oder auch humanistisch müßte eine mexikanische Gesellschaft sein, um eine Koexistenz auch ganz verschiedener Lebensauffassungen zu gewährleisten? Meine Frage lautet also: Was fehlt?

JN: In der mexikanischen Gesellschaft hat die Frau immer eine sehr wichtige Rolle gespielt, aber heutzutage ist das leider nicht anerkannt. Die Geschichte wird verdrängt und die Frau schlecht behandelt. Es gibt einen Spruch in Mexiko: Die Männer kommen so weit, wie die Frau es erlaubt. Die Frau ist immer da, ob als Gattin, Oma, Freundin, Tochter oder Tante. Bedauerlicherweise ist die Stimme der Frauen in Mexiko sehr leise, fast schon stumm geworden, aber Stück für Stück nimmt sie wieder einen Platz in der Gesellschaft ein. Es geht um Gleichheit. In einigen Szenen wird kräftig auf die Männer eingehauen, um zu veranschaulichen, daß der Mann ohne die Frau nicht existieren kann.


Neris Pferdemänner buhlen um das Weib - Foto: © 2017 by Schattenblick

Die Frau als Objekt männlicher Begierde
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: In Ihrem Tanzstück haben Sie den Katholizismus und seine Sexualmoral mit der Friedenssymbolik einer "We are the world"-Mentalität kontrastiert, aber beides gleichermaßen ins Lächerliche gezogen. Welche Kulturkritik schwebte Ihnen da vor?

JN: Mexiko hat immer eine Doppelmoral gehabt. Es ist eine sehr traurige Geschichte, daß die Religion in Mexiko und Lateinamerika als Werkzeug dient, um die Leute unter Druck zu setzen. Religion stellt also ein Herrschaftsmittel dar. Was ich in dem Stück zeige, ist nicht der Glaube, als vielmehr die Religion als Institution. Ich denke, die Menschen müssen einen Glauben haben, aber was um diesen herum aufgebaut ist, sei es der Vatikan oder andere kirchliche Institutionen, gleicht einem sehr komplexen Geflecht von Manipulationen, die schwer zu durchschauen sind.

SB: Das Christentum beansprucht, eine Religion der Liebe zu sein, während die Blumenkinder, auf die Sie offenbar anspielen, eine Kultur von Freiheit und Frieden leben wollten. Ging es Ihnen darum, die Widersprüche beider Seiten aufzudecken?

JN: Ja. Ein Beispiel dazu: Das Symbol in der katholischen Religion ist Frieden. Wenn der Priester die Menschen segnet, macht er eine Handbewegung in der Luft, aber diese bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn man die Hand an die Schläfe eines Menschen hält. Dann wird daraus eine Pistole, das Friedenssymbol wandelt sich in die Absicht des Tötens. Dieser hintergründige Sarkasmus soll zeigen, daß Zeichen, Mimiken und Gesten - feste Bestandteile des Alltags - auch eine andere Realität zum Ausdruck bringen können.


Die Ceprodac-Darsteller zielen wechselseitig auf den Kopf des anderen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Der klassische Mexican Standoff
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Folklore könnte man auch deuten als den Schmerzensschrei einer untergegangenen Kultur. Was macht heute die mexikanische Identität aus?

JN: Die erste Szene, in der die Schauspieler als Reiter wild hin und her laufen, ist mexikanische Folklore, ein Ausdruck von Vitalität, Freude und Freiheit. Dieser Reichtum aus der Vergangenheit legt sich wie ein Tuch um die Gegenwart, auch wenn das heute nicht immer kenntlich ist. Deswegen ist es für mich wichtig, hinter die Geschichte zu schauen, damit wir wieder in den Diskurs über unsere Werte wie Solidarität, Respekt vor dem anderen und Mitmenschlichkeit treten. Das, was sich aus der Folklore herleitet, ist nur ein Teil meiner Arbeit, der andere entsteht aus der engen Zusammenarbeit mit verschiedenen Sektoren der Gesellschaft. Daraus entnehme ich die Problematiken für viele meiner Stücke und setze sie in Choreografie um. Über den Umweg der Kunst ermögliche ich so einen unverschleierten Blick auf die Realität, damit die Menschen ihre Probleme erkennen, vielleicht sogar überkommene Strukturen in Frage stellen.

In Mexiko fehlt die Reflexion über unsere eigene Situation. Aber es geht nicht nur darum, ein Bewußtsein dafür zu schaffen; wir müssen auch etwas tun, aktiven Protest leisten. In der Schlußszene, wo wir die Zuschauer einladen, mit uns auf der Bühne zu tanzen, steckt das Kernmoment meiner Intention. Die Erfahrung des Miteinanders nimmt jeder mit und kann sie weitergeben. Es ist die Erinnerung an das Kollektivistische, die in der heutigen Gesellschaft weitestgehend verlorengegangen ist. Es geht darum, die Menschen fühlen zu lassen, daß sie ein Teil davon sind.


Darsteller und Publikum wedeln gemeinsam mit den Armen - Foto: © 2017 by Schattenblick

Audience Participation auf Mexikanisch
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Ein wiederkehrendes Motiv im Stück ist die Zähmung und Dressur des Pferdes, also daß man einem Wesen seinen eigenen Willen aufdrückt. Welchen Einfluß hatte die Domestizierung aus Ihrer Sicht auf die Entwicklung von Geschlechterrollen sowie Macht- und Unterwerfungsritualen in den menschlichen Gesellschaften, die immer auch auf Ambivalenz beruhen?

JN: In der Geschichte wurde das Pferd benutzt, weil es einfach zu domestizieren und für den Transport geeignet war. Man kann auch ein Kamel oder einen Elefanten domestizieren, aber es ist schwierig, diese Tiere zu transportieren. In der Zähmung eines Tieres treffen Dominanzstreben und Kontrolle zusammen. Das Tier stellt aber auch eine Stufe dar. Indem ich auf ein Pferd steige, erlebe ich das Gefühl, oben zu sein und Macht zu haben. Meines Erachtens geht es in der Menschheitsgeschichte stets um diesen Aufstieg, immer höher und höher. Aber wie uns die Historie als auch das, was aktuell passiert, lehrt, ist dieses Emporsteigen einzelner Menschen über die Masse im Schwinden begriffen. Alle politischen, spirituellen oder Militärführer fallen oder gehen langsam unter.

Als in den 1980er Jahren Superhelden wie Batman und Robin in Mexiko populär wurden, gab es dafür in der Gesellschaft ein spirituelles Bedürfnis. Die Leute wollten an etwas glauben, vielleicht, daß die Ordnung zuletzt immer siegt. Heute reicht das nicht mehr, heute müssen Superhelden in sich die Fähigkeiten von fünf oder zehn Superhelden vereinen, um diese Rolle noch spielen zu können. Das Ganze hat einen absurden Verlauf genommen. Ich denke, jetzt ist die Zeit gekommen, daß die Menschen wieder über sich sprechen. Superhelden sind nur ein Symbol dafür, daß unsere Führer uns unterdrücken; wie beim Reiter auf dem Pferd stehen sie über den Menschen.


Abgesperrter Tatort mit mehreren Leichen am Boden - Foto: © 2017 by Schattenblick

Massaker im Drogenkrieg
Foto: © 2017 by Schattenblick

SB: Wo würden Sie heute die Narben der Kolonialzeit verorten, und welche Emanzipation wäre nötig, um die aktuellen politischen Widersprüche aufzulösen?

JN: In Mexiko existiert eine sehr große Narbe in bezug auf die Sklaverei. Damit meine ich nicht die direkte Kontrolle über den Körper im Sinne einer Leibeigenschaft, sondern in Form einer spirituellen und intellektuellen Kontrolle über Menschen. Wir sind ein Teil dieses Manipulationsapparats, aber die Leute fangen an, sich dagegen zu wehren. In Mexiko und Lateinamerika existiert jetzt eine Gesellschaft, die sehr nervös und wütend ist mit der Situation. Ich glaube, der nächste Schritt muß darin bestehen, den Dialog zwischen den Menschen in den Gesellschaften wieder aufleben zu lassen und wehrhafte Formen zu organisieren, damit wir die Zukunft wieder in unsere Hände bekommen. Es geht nicht um isolierte Gruppen, wir alle sind aufgerufen, etwas zu tun.

SB: Was ist für Sie der Inbegriff des Mißbrauchs von Menschen?

JN: Es ist sehr traurig, daß wir alle mehr oder weniger diesen Mißbrauch praktiziert haben, und es daher viel Arbeit kosten wird, uns bewußt zu machen, daß wir das nicht müssen. Die Frage ist doch, wie wir uns vergegenwärtigen können, was gerade passiert, um endlich anzufangen, das Bewußtsein, daß wir Menschen gleich sind, an die Stelle der Superhelden zu setzen.

SB: Herr Neri, vielen Dank für das Interview.


Ceprodac-Tänzer, zum Teil maskiert, posieren gestikulierend - Foto: © 2017 by Schattenblick

'Strike a pose!'
Foto: © 2017 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum Kampnagel-Festival Kontext Mexiko im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → THEATER → REPORT:

INTERVIEW/031: Mexikospektive - Die junge, alte, neue Sicht ...    Uta Lambertz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/032: Mexikospektive - flüchtig und konkret ...    Lukas Avendaño im Gespräch (SB)
INTERVIEW/033: Mexikospektive - Ein loser Tanz ...    Knut Klaßen im Gespräch (SB)


18. März 2017


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