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HIPPOS/73: "Artgerecht" wird nicht jedem Pferd gerecht (SB)


Rührselige Geschichte mit ernstem Hintergrund

Pferde sind schließlich auch nur Menschen ...


Die Geschichte von Meliksahs Rettung, so traumhaft schön und tränenrührend, daß sie den Stoff für eine Hollywoodverfilmung liefern könnte, ist eigentlich vom Standpunkt des echten Pferdefreundes und -kenners, der in dem Tier nicht nur das Sportinstrument, sondern ein Mitgeschöpf bzw. einen Gefährten sieht, nicht so außergewöhnlich.

Wir, die wir außer unserem gesunden Menschen- auch mit ausreichend Pferdeverstand in unseren Köpfen gesegnet sind, wissen doch genau, daß nicht einmal Geschwisterpferde oder Zwillinge, die unter den gleichen Bedingungen und mit den gleichen sozialen Kontakten aufgewachsen sind, auch die gleichen Charaktereigenschaften oder sportlichen Fähigkeiten entwickeln. Ganz im Gegenteil hat jedes Pferd, so wie jedes menschliche Individuum, die unterschiedlichsten Vorlieben und Bedürfnisse, vor allem aber, und da sind sie sich schließlich doch ziemlich gleich, den Wunsch nach sozialer Geborgenheit in einer Herde. Die Vorstellung darüber, wie diese beschaffen sein muß, sind dann allerdings wieder recht verschieden.

Kein Wunder also, daß von der Normbehandlung, mit der Fohlen gewöhnlich zu Rennpferden und letztlich zu genügsamen, vereinzelten Leistungsmaschinen herangezogen werden, die fressen, trainieren und schließlich gewinnen sollen, manche der edlen nur für diesen Zweck herangezüchteten Rösser im wahrsten Sinne des Wortes "das Maul voll haben" und sich dem Fron in jeder möglichen Form verweigern.

Geschieht das im "sportlichen" Sinne, d.h. indem sie einfach in der Startbox stehen bleiben, nicht die geforderte Leistung bringen oder aggressiv gegen Pfleger und Reiter vorgehen, so versucht man den Willen der Tiere zunächst meist mit Gewalt zu brechen. Gelingt das nicht oder werden die Pferde darüber hinaus schwermütig oder krank, so steht diesen ungebrochenen oder unbrechbaren Ausnahmecharakteren, oder sagen wir mal, jenen Rennpferden, die sich ihren eigenen Kopf bewahrt haben und zumindest irgendwie versuchen, ihren Emotionen und Bedürfnissen demzufolge noch Ausdruck zu verleihen, eigentlich nur ein Schicksal bevor: Sie sind für ihren Beruf nicht geeignet und damit "Hundefutter".

Wie man in einer der letzten Ausgaben der Werbezeitschrift des Tierfuttermarktes "Freßnapf" lesen konnte, ging das dem Pferd Meliksah kaum anders: Nach sechs Jahren im Rennbetrieb bei mäßiger Leistung war er aus Sicht des Besitzer ohnehin zu alt für den Rennsport und mit nur sechs gewonnenen und 15 zweiten oder dritten Plätzen nach 42 Rennen auch kein Kandidat für die Leistungszucht. Kurzum lohnte es sich nicht, die Folgekrankheiten des Vollblüters zu behandeln. Als überflüssiger "Fresser" war ihm der Weg zum Metzger somit vorbestimmt.

Daß es anders kam, hat er gewissermaßen Heike Kuhse aus Mülheim zu verdanken, die per Zufall von dem traurigen Schicksal des Wallachs erfuhr und daran einfach nicht vorbeisehen konnte. Als gelernte Sattlerin und Pferdenärrin lagen ihr Pferde schon immer am Herzen, auch wenn sie ihnen in ihrem Beruf bisher nur ein möglichst erträgliches Joch (sprich: einen nicht drückenden und möglichst leichten Sattel) verpassen konnte.

Leider reichten die Mittel der Sattlerin nicht, um auch nur die Kosten für die Haltung von Meliksah aufzubringen, was sie jedoch nicht davon abhielt, die erkannte Not zu lindern. Mit Hilfe einer Freundin ging es schließlich doch. Beide Frauen legten zusammen und brachten das Pferd auf einen Bauernhof, wo er ein schönes, gemütliches Pferdeleben mit anderen, ganz normalen Pferden und Tieren zur Gesellschaft haben sollte.

Darüber hinaus nahmen sich die beiden seiner angeschlagenen Gesundheit an, denn das Pferd litt zu diesem Zeitpunkt schon an massiven Symptomen gesundheitlicher Vernachlässigung, die eigentlich an Tierquälerei grenzten.

Vorrangig mußte eine chronische Bronchitis und eine Nasennebenhöhlenentzündung behandelt werden, übrigens eine nicht unübliche Symptomatik bei auf Hochleistung gedrillten, meist nicht besonders widerstandsfähigen, ausgepowerten Pferden, die sich nach den Rennen in den zugigen Rennbahnställen oder in den Transportern aufhalten müssen und sich, wenn sie nicht gleich sorgfältig gepflegt und trocken gerieben werden, sehr schnell Erkältungen zuziehen können.

Gerade bei Tieren, die nicht die von ihnen erwartete Leistung bringen und um die sich dann nur nachlässig gekümmert wird, sind Erkältung oder gar Lungenentzündungen oft der nächstbeste Grund, um sie vom Rennbetrieb ausscheiden bzw. schlachten zu lassen.

Meliksah mußte aber außerdem noch mit einer Hufrehe, einer Staub- und Strohallergie, Leberproblemen und einem Kehlkopfpfeifen kämpfen. Daß all diese Probleme möglicherweise auch eine Art stummer Hilfeschrei der vernachlässigten Pferdeseele waren, die sich auf diese Weise schlicht verweigerte, wurde eigentlich erst im Rückblick deutlich, als die Symptome nach und nach ausblieben und sich Meliksah, der inzwischen zärtlich "Willy" gerufen wird, in ein ausgesprochen fröhliches, geselliges und sozial zugewandtes Pferd verwandelte.

Die neuen Besitzerinnen taten hingegen auch nicht mehr und nicht weniger, als sich um das Tier und seine Belange zu kümmern, und das gründlich und vorbehaltlos.

Für die angeschlagene Gesundheit riefen sie eine bekannte Physiotherapeutin aus Krefeld (Carola Ortlieb) zu Hilfe, die, wie es im "Fressnapf" heißt, "schon vielen Pferden wieder auf die Hufe geholfen" hatte. Durch diese Zuwendung und liebevolle Pflege ging es dem Wallach zunehmend besser, und er konnte bald von der Tochter der Sattlerin auch wieder bewegt, d.h. geritten werden.

Er zeigte seinen neuen Freundinnen jedoch schon bald, daß er statt brav und freundlich durch die Gegend zu spazieren und sie mit seinen Kapriolen zu unterhalten, außerdem furchtbar gerne laufen wollte, und zwar so schnell wie möglich.

Daß die Damen sich entschieden, ihren Pflegling wieder in den Rennbetrieb zurückzugeben, und zwar diesmal unter die kundigen Hände der bekannten Galopptrainerin Erika Mäder aus Krefeld, war gewissermaßen auf seinen eigenen Wunsch.

Und so war es offensichtlich nicht der Rennbetrieb an sich, an dem auch heute noch immer viel auszusetzen ist (siehe auch HIPPOS/46: Galopprennen - Pferde bleiben auf der Strecke (SB)), der diesem Pferd die Lebensfreude brach, sondern allein die Behandlung, seine Vereinsamung und Vereinzelung bzw. Reduktion zur Rennmaschine.

Mit seiner neuen und zunehmend wachsenden Familie als sozialen Angel- und Ankerpunkt, bei der er in den Rennpausen nach Herzenslust Pferd, Mensch oder wie Heike Kuhse behauptet "eigentlich ein Hund" sein darf, so wie er sich frei über den Hof bewegt und in alles seine Nase steckt, bekam der inzwischen eigentlich viel zu alte Wallach auch wieder Spaß am Sport.

Inzwischen ist er zwölf Jahre alt und läuft immer noch mit Begeisterung Rennen. In den vergangenen sechs Jahren soll er in 57 Rennen gestartet sein, hat zwölf Mal den zweiten bzw. den dritten Platz belegt und ging zwölf Mal als Sieger durchs Ziel. Das ist für einen Hobbyathleten schon eine ganz passable Bilanz, mit der er seinen "Retterinnen" nebenbei auch noch 135.000 Euro als Gewinnsumme ergallopierte. Daß ist diesen aber überhaupt nicht wichtig; Willy soll nur so lange an Rennen teilnehmen, so lange er Freude daran hat.

Und die hat er ganz offensichtlich: Laut "Fressnapf" stellte er auf den Rennbahnen in Hoppegarten und in München jeweils einen Bahnrekord über 1.000 Meter auf, seiner Lieblingsdisziplin. Selbst beim Rennen "Am Tag des Arc de Triomphe Lucien Barriere" in Paris, wo die schnellsten Rennpferde Europas über 1000 Meter an den Start gehen, lief der alte Herr der jüngeren Konkurrenz davon.

Seine neue Fangemeinde, die ihm zu allen Rennen in Deutschland und ins Ausland folgt, ist immer mit von der Partie, denn der charakterfeste und stets zu Scherzen aufgelegte Pferdeopa gewinnt zunehmend Freunde, die ihn anfeuern und seine Erfolge wie Niederlagen feiern.

Auch sonst ist der reizende, alte Willy eine echte Ausnahmeerscheinung unter den sensiblen Rennathleten, die gemeinhin zu sensibel für echte Publikumskontakte oder so etwas wie ein Bad in der Menge sind und daher von allem ferngehalten werden, was sie echauffieren oder ihnen auf die zarten Nerven gehen könnte. Und das ist offenbar alles, was Willy als Meliksah seinerzeit gefehlt hat:

Er ist überhaupt nicht nervös oder schreckhaft, sondern eher ein gut gelauntes, unternehmungslustiges und immer neugierig interessiertes Pferd, das es vollkommen normal findet, wenn Heike Kuhse mit ihrer kleinen Promenadenmischung im Arm in den Sattel steigt oder wenn sie "Willy" als geschmücktes Martinsroß mit in den jährlichen Festzug einreiht. Bei Trompeten, Pauken, Feuerwerk, Hundegebell und lachenden Kinderscharen fühlt sich Willy alias Meliksah richtig wohl und zuhause. Von Hufrehe, Nasenkatarrh oder Allergie ist schon lange keine Rede, pardon, kein Gewieher mehr.

Und so ist Willy ein Beispiel für viele Sport- und Arbeitspferde, das deutlich werden läßt, daß Pferde doch noch etwas mehr zum Wohlbefinden brauchen, als Hafer, Wasser und einen Platz zum Schlafen.

13. März 2007