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HIPPOS/76: Verdammtes Maremmana - Kein Pferd für Herrenreiter (SB)


Halbwilde Maremmanas

Von Hippotouristenträumen und den Butteri in der toskanischen Maremma


Maremma maiala - Verdammte Maremma! Der Fluch ist so alt wie die Landschaft selbst, stammt er doch aus den Zeiten, als die Maremma im Schienbein des italienischen Stiefels noch ein lebensfeindliches, malariaverseuchtes Sumpfgebiet war. Noch heute hört man ihn bei den Butteri, den letzten toskanischen Cowboys, die die weißen langhornigen Maremmarinder über die inzwischen trockengelegte und somit gebändigte weite, teils sumpfige Landschaft des toskanischen Küsten- Naturschutzgebietes "Maremma" bei Grosseto treiben, die seit etwa 3000 Jahren die gemeinsame Heimat der weißen Maremmarinder und dunklen Pferde geblieben ist. Nun sollte man meinen, daß es in einer Landschaft wie Licht und Seide, die in ihrer bizarren Schönheit das Herz jedes Photographen und jedes Naturliebhabers höher schlagen läßt, wenig Anlaß zur Beschwerde gäbe. Und richtig: Selbst ein halsstarriges Rindvieh oder ein ungehorsames Pferd würde den an harte Arbeit gewöhnten Buttero wohl kaum aus seinem gewohnten Gleichmut bringen. Außerdem ist jeder Buttero stolz auf sein Maremmana, das in Fachkreisen mit den drei "Z's": "zäh - zuverlässig - zähmbar" ausgezeichnet wird.

Mit Flüchen bedenkt der naturverbundene Rinderhirte eine ganz neue Spezies, die er nach hundert Jahren Sumpf, Pferde und Rindern nun ebenfalls zu betreuen und zu verwalten hat, den sogenannten "Hippo- Touristen".

Diese Gattung reitfreudiger Urlauber kann für etwa 50 Euro einen Morgen mit den toskanischen Butteri und auf dem Rücken eines echten Maremmanas verbringen und ihm "bei seiner Arbeit helfen". Zumindest ist das der Wunsch der geschäftstüchtigen, toskanischen Großgrundbesitzer und neuen Touristikunternehmer in Sachen "Ferien auf dem toskanischen Gut", die damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen.

Für einen Städter, der das erste Mal in seinem Leben einem Rindvieh gegenübersteht, ist diese urtümliche Art des Aktiv-Urlaubs nicht zu empfehlen, denn ein Vormittag im Sattel, der gut und gerne fünf Stunden dauern kann, beginnt bereits um sieben in der Früh. Je nach Jahreszeit werden dann die Rinder aussortiert, markiert oder auf andere Weiden getrieben. Auch als Geburtshelfer mußten sich schon einige Touristen dieser Gattung bewähren. Ausspannen und Erholen ist hierbei mit Sicherheit nicht angesagt. Nach fünf Stunden im Scarfada- Sattel schläft auch ein geübter Reiter wie ein Stein, und wer abends dennoch feiert, dem fällt der nächste Frühstart schwer. Wenn man sich dafür entscheidet, sollte man also schon ein besessener Pferdenarr sein, der gewohnt ist, mit anzupacken, und den die ungewohnt harte Arbeit nicht schreckt. Für einen Reitanfänger empfiehlt sich eher ein Trecking-Urlaub mit ausgebildetem Reitlehrer.

Doch auch der reiterfahrene Profi muß bereit sein, Neues zu lernen. Die typische Zäumung erinnert zwar ein wenig ans Westernreiten, ist jedoch auch für den erfahrenen Westernreiter zunächst ein Buch mit sieben Siegeln. Traditionell besteht sie aus einem bisweilen lederummantelten Strickhalfter, der "Cavezza maremmana", mit einem langen Lasso als Führstrick, das am schwergewichtigen Scarfada-Sattel befestigt wird. Darüber kommt ein einfaches Lederzaumzeug mit Kandare und einem Zieranhänger am Stirnriemen. Ohne die "dritte Hand" des Butteros ist die Ausrüstung aber nicht komplett: ein runder 1,50 bis 2 Meter langer, handgeschnitzter Holzstab, der sogenannte "uncino". Dieses Werkzeug läßt sich dank seines Hakengriffs vielseitig verwenden. Man kann damit zum Beispiel wunderbar einen Zaundraht zum Hindurchsteigen hochhalten oder auch Tore öffnen und schließen, ohne absteigen zu müssen. Außerdem dient er als verlängerter Arm beim Treiben der Rinder und Pferdeherden. Allerdings erfordert dieses Hilfsmittel das Reiten und Lenken des Pferdes mit einer Hand, was ebenfalls gelernt sein will.

Außerdem sollte man die italienische Sprache beherrschen, denn wenn die Herde zum zweiten oder dritten Mal wegbricht, weil keiner der Hobby-Butteri die vom Winde verwehten Kommandos des toskanischen Vorreiters versteht und der verschwitzte Tourist wie festgeschraubt auf seinem dösenden Maremmana sitzt, versteht man langsam den Sinn des alten toskanischen Fluchs: "Maremma maiala" - Schuld hat immer die böse Landschaft, ob als unwirtliches Sumpfgebiet oder als Lockmittel für ungeliebte Pseudo-Butteri.

Der Ärger wird nie an dem unfähigen Touristen selbst ausgelassen, nicht zuletzt ist es seinem Interesse und den vielen Freizeitreitern zu verdanken, daß man immer noch Maremmapferde züchtet. Nur hier, bei der Arbeit und in der Landschaft, die noch ursprünglich genug ist, um die Vorzüge dieser Rasse, die hier zu Hause ist, zu unterstreichen, lernt man ihr gutmütiges Wesen und ihre Leistungsbereitschaft ebenso schätzen und lieben, wie das stabile Fundament und die Trittsicherheit der Tiere, die kleine Schönheitsmängel allemal wettmachen. Kein Pferdefreund, der sich von ihrer umsichtigen, zarten Freundlichkeit nicht um den kleinen Finger wickeln ließe. Und so werden die Freunde und Liebhaber der Maremmanas immer zahlreicher, was die Nachfrage und Zucht der alten Rasse neu belebt.

Man unterscheidet inzwischen zwei Zuchtlinien. Zum einen den ursprünglichen bodenständigen Typus mit etwa 1,60 Meter Stockmaß, dem man noch deutlich den iberischen Einschlag ansieht. Dieser etwas behäbigere aber erstaunlich leistungsfähige Schlag wird als Kulturgut betrachtet und soll schon allein deshalb erhalten und geschützt werden.

Daneben werden modernere, hochbeinigere und großrahmigere, mit Halb- und Vollbluthengsten veredelte und dem gewöhnlichen Erscheinungsbild angepaßte Pferde gezogen, die jedoch trotz veredelter Köpfe noch unverkennbar die äußeren Merkmale des alten Schlags tragen. Sie sind zwar in sportlicher Hinsicht leichter, flexibler und somit leistungsfähiger geworden, eignen sich jedoch, genau wie ihre stämmigeren Verwandten, wegen ihrer Ausdauer und Trittsicherheit auch gut als Freizeit- und Distanzpferde. Aufgrund der auch in Italien ständig wachsenden Nachfrage nach zuverlässigen Freizeit- und preiswerten Sportpferden, eröffnen sich für die bei uns nahezu unbekannten Maremmapferde völlig neue Einsatzmöglichkeiten.

Die eigentliche und traditionelle Aufgabe beider Zuchtlinien liegt jedoch nach wie vor darin, den Buttero beim Viehtrieb zu unterstützen.

In der Maremma liebt man gerade die etwas kopflastigen Pferde, die - ähnlich wie auch die hiesigen Rinder - nach hinten hin schmaler werden. Keiner käme auf den Gedanken, daß für manch Außenstehenden ein solches Pferd bei einer brauchbaren Gurttiefe, d.h. einem guten Brustraum, relativ schwach in der Hinterhand wirken könnte. Und bei näherer Betrachtung erweist sich dies auch als Verkennung. Es gibt unter den heutigen Maremmanas durchaus springgewaltige Exemplare, die mittlerweile in Italien sehr erfolgreich im Springsport eingesetzt werden. Doch wäre es nicht das erste Mal, daß Muskelmasse mit Kraft verwechselt wird.

Auch sonst werden die Maremmanas häufig unterschätzt: Wer ein ausgebildetes Maremmapferd bei der Arbeit beobachtet, wird dem offenbar schläfrigen, trägen, selbst unter seinem Reiter mit hängendem Kopf vor sich hindösendem Pferd wohl kaum die spontane Temperamentsexplosion zutrauen, mit der es von einer Sekunde zur nächsten wie elektrisiert auf leise Hilfen antritt, beschleunigt oder mit aberwitzigen Manövern saubere, fliegende Wechsel, abrupte Stops und Wendungen vollzieht, trittsicher über den betonharten Lehmboden galoppiert, Kühen nachjagt, sie geschickt umzirkelt und zurück zur Herde treibt.

Das für die hohe Westerndressur und spontane Kraftentwicklung vielgerühmte Quarterhorse könnte es angesichts solcher Aufgaben wohl kaum besser machen - im Gegenteil. Über den Ausgang eines Wettstreits zwischen Wildweststilisten und Maremma-Reitern, der anläßlich eines Besuchs von Buffalo Bill mit seiner Wildwest-Show und amerikanischen Pferden zu Beginn des letzten Jahrhunderts in Rom stattgefunden haben soll, ist man sich allerdings bis heute noch nicht einig.

Maremmapferde zeichnen sich durch ihre Unscheinbarkeit aus: Sie haben wie viele halbwilde Rassen einen recht groben Kopf mit konvexem Profil. Auffällig sind auch die verhältnismäßig kleinen Augen und die langen Ohren. Ein kurzer, muskulöser Hals mündet in steilen Schultern und einem kräftigen Widerrist. Der lange Rücken endet in einer kantigen, abgeschlagenen Kruppe mit tief angesetztem Schweif. Bemerkenswert sind auch die extrem harten und breiten Hufe sowie trockenen Beine mit den kräftigen Gelenken. Sie machen die Maremmanas wenig anfällig für Hufkrankheiten und verleihen ihnen die beinahe legendäre Trittsicherheit. Bei überwiegend braun-, schwarz oder fuchsfarbener Fellfarbe haben die Maremmapferde nur wenige Abzeichen.

Die halbwild lebenden Pferde durchstreifen die Maremma in kleinen Familienverbänden und bekommen den Menschen zumindest in den ersten Lebensjahren nicht jeden Tag zu Gesicht. Nur ein paarmal im Jahr unterbricht ein Besuch von den Zweibeinern ihre zwanglose Freiheit, wenn Jährlinge ausgesondert oder neugeborene Fohlen kontrolliert werden oder wenn Impfung und Entwurmung der Herden anstehen. Die Absetzer werden gebrannt und dann wieder in die Freiheit entlassen. Erst nach drei Jahren unbeschwerter Jugend fängt für einige, die nicht für die Zucht ausgewählt wurden, der Ernst des Lebens an. Sie werden nach traditionellen Methoden in einer Art Roundpen, dem "tondino" eingeritten.

Die Maremmapferde werden also überwacht, sind aber im großen und ganzen sich selbst überlassen. Nur in langen Trockenzeiten, in denen das Grünfutter der Ebene nur spärlich nachwächst, wird etwas Stroh hinzugefüttert.

Kein Pferd für Herrenreiter

Den Stammbaum der heutigen Maremmanas führt man auf die Pferde zurück, die bereits die Etrusker etwa 900 vor Christus in dem lebensfeindlichen Sumpfgebiet nördlich von Rom gezüchtet haben sollen. Frisches Blut brachten die Römer von ihren Eroberungszügen aus Germanien und Gallien mit und nach den Barbareneinfällen von Goten und Langobarden wurden die Einkreuzungen fortgesetzt. Da auch damals Pferde vorzugsweise halbwild gehalten wurden und diese Kreuzungen recht willkürlich und auch mit Herden vorbeiziehender Wildpferde unkontrolliert vonstatten gingen, kann man wirklich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, welche alten Pferderassen sich im Blut der heutigen Maremmanas vereinigen. Eines jedoch ist sicher, die Selektion - wer hier überleben konnte, und wer nicht - wurde überwiegend von der Landschaft getroffen.

Im 16. Jahrhundert sollen die ebenfalls pferdebesessenen Medicis (auf Katharina von Medici geht beispielsweise der noch heute verwendete Damensattel zurück) nordafrikanische und iberische Pferde in Italien eingeführt und u.a. die Maremmanas damit veredelt haben. Auch die berühmten neapolitanischen Pferde sollen zu einer weiteren Blutverbesserung beigetragen haben.

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde es unter den Adligen in Florenz plötzlich Mode, riesige Landgüter in dem menschenfeindlichen, malariaverseuchten Sumpfgebiet zu erwerben, die wegen Malariagefahr und den unerträglichen klimatischen Verhältnissen nur im Herbst und Winter von Leibeigenen und armen Landarbeitern mühsam bewirtschaftet werden konnten. Da in dem Morast gar nichts, darüber hinaus nur Maccie- Gestrüpp und urwaldähnliche Pinienwälder wuchsen und sich keine "normale", vielseitige Landwirtschaft etablieren konnte, setzte sich in den Sümpfen nach und nach die extensive Rinderzucht durch.

Die endlosen Weidestrecken, die die halbwild gezogenen Herden auf ihrer Nahrungssuche zurücklegen mußten, und die Größe der Güter verlangten geradezu nach berittenen Rinderhirten, was für die damalige Zeit beinahe eine Revolution darstellte. Denn bis dahin hatte sich der Adel das Privileg vorenthalten, Pferde als Reittiere zu nutzen und entsprechend waren Reitpferde in erster Linie hochnervige, überzüchtete Luxusgeschöpfe, die sich nicht für diese Aufgabe eigneten. Die Arbeitstiere wurden dagegen überwiegend als Zugpferde eingesetzt.

Der Buttero im Sattel nahm verständlicherweise beim einfachen Volk sofort eine besonders gehobene soziale Stellung ein, die ihn aber auch isolierte. Von den einfachen Arbeitern durften nur die Butteri Pferde reiten. Gleichzeitig wurden sie dadurch in die Rolle der Aufseher gedrängt, die u.a. auch die Arbeit der anderen Leibeigenen kontrollieren mußten.

Der Beruf des Buttero verlangte nach einem leistungsfähigen und -willigen, ausdauernden, wendigen und starken Arbeitspferd, das sich äußerlich sofort von den Luxustieren der "Herren" unterscheiden ließ. Da in den unwirtlichen Sümpfen einzig und allein die ursprünglich in der Maremma beheimateten Rinder und Pferde in der Lage waren zu überleben, bot sich diese alte und etwas klotzig wirkende Rasse geradezu an.

Später bemühte man sich also um eine züchterische Verbesserung des Tierbestandes. Im 19. Jahrhundert wurden das englische Norfolk Roadstern und Halbbluthengste eingekreuzt. Die Nachfahren dieser Kreuzungen gewannen an Verläßlichkeit, Härte und Kraft, aber auch an Schnelligkeit, ohne ihre anderen "gut brauchbaren" Eigenschaften einzubüßen. Damit war das Maremmapferd im 19. und Anfang des 20. Jahrhundert auch als italienisches Kavalleriepferd hoch geschätzt.

Die Hochzeit für die Rinder und Pferde der Maremma endete mit dem Trockenlegen der Sümpfe um Grosseto in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Mussolini hatte dies im Rahmen von Landgewinnungsmaßnahmen angeordnet, denn dadurch wurde die Maremma ganzjährig bewohnbar und das Land konnte auch für den Ackerbau intensiver genutzt werden. Die Rinderzucht entwickelte sich zwangsläufig zurück und attraktivere und wirtschaftlichere Nutztierrassen, die hier unter den veränderten Bedingungen ebenfalls leben konnten, verdrängten teilweise das weiße Maremmarind mit seinen sehenswerten bis zu einem Meter langen Hörnern. Gerade in den letzten Jahren gingen immer mehr Landwirte aus Rentabilitätsgründen dazu über, ihre Herden komplett zu verkaufen. Der Bestand der Maremmarinder reduzierte sich von ehemals 100.000 auf rund 8.000 Tiere.

Der italienischen Regierung ist zu verdanken, daß durch ihre Initiative in Alberese bei Grosseto ein landwirtschaftliches Zentrum entstand, das sich zur Aufgabe gemacht hat, das "Kulturgut Maremmarind" und mit ihm auch die typischen Maremmapferde zu schützen und zu erhalten.

Die Zucht blieb jedoch nach wie vor in den Händen einiger ehemaliger Großgrundbesitzer, die sich teils aus nostalgischer Erinnerung an die alte Glanzzeit, teils aus Liebe zu diesen Tieren von ganzem Herzen dem Erhalt der traditionellen Rassen verschrieben haben.

Um die ursprünglichen Eigenschaften der Rasse trotz der Einkreuzungen zu bewahren und zu fördern, wachsen die Pferde nach wie vor halbwild in der toskanischen Ebene auf. So ist wieder einmal die doch nur teilweise gezähmte Landschaft traditionelle Kinderstube und Lehrmeister, die Mensch und Tier ihren charakteristischen Stempel aufdrückt: die Maremma maiala - die böse, die schlechte, die verdammte Maremma!

1. Februar 2008