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HIPPOS/83: Falabella - Minipferde bewähren sich als Blindenführer (SB)


Die kleinsten Pferde der Welt leisten soziale Schwerstarbeit


"Ist das nun ein Hund oder ein Pony?", solche als Scherz getarnte Verhöhnungen kennt jeder Halter eines größeren Hundes. In North Carolina (USA) und inzwischen auch an vielen anderen Orten könnten derart ignorante Fragesteller, die ein Tier nur über seine Größe definieren, tatsächlich ins Schleudern kommen. Denn das pelzige Etwas mit treuem Steiftierblick, das ihnen möglicherweise begegnet und mit sicherem Tritt und Halt eine blinde Dame oder einen blinden Herrn über die Straße leitet, ist kein Blindenhund, auch wenn man das vielleicht im ersten Moment erwartet. Die samtweichen Nüstern, die übergroßen sanften Augen, die plüschigen Ohren, die wuschelige Mähne und der hohe Schweif lassen den Pferdefreund gleich erkennen, daß er es hier mit einem Falabella zu tun hat, einem Vertreter der kleinsten Miniaturpferderasse der Welt, die nicht mehr als 76 Zentimeter Stockmaß erreicht. Bisher kannte man die zottigen Minis, die für manches Plüschpony Modell gestanden haben, nur als spleenige Liebhaberei manch exentrischer Amerikaner oder Engländer, aus Kuschelzoos oder als lustige Einlage bei einer Clownnummer im Zirkus. Abgesehen von manchen Häusern, in denen diese Pferde wie "Schoßpferdchen" als exotisches Haustier verhätschelt und keineswegs artgerecht gehalten werden, konnte man sich doch immerhin der Hoffnung hingeben, daß zumindest diese Tiere ob ihrer geringen Größe dem Arbeitsfron entronnen sind. Wer sollte ihnen schon die Hohe Schule der Dressur aufzwingen oder sie gar über einen Hindernisparcour jagen. Doch weit gefehlt.

Falabellas, die ebenso gelehrig und intelligent sind wie ihre großen Brüder und Schwestern, werden auch ebenso ausgenutzt. Ihre Arbeitskleidung besteht aus einem Geschirr, einem Halfter (ohne Gebiß), an dem eine steife Führvorrichtung befestigt ist (mit der sich der Patient zur Not auch mal Entlastung vom eigenen Körpergewicht verschaffen kann) und einem Paar maßgefertigter Turnschuhe in Ponyhufgröße. Letztere sind für die empfindlichen kleinen Hufe bei der hohen Arbeitsbelastung auf dem harten Asphalt des amerikanischen Großstadtdschungels besonders wichtig, um einerseits die Hufe vor zu großem Verschleiß zu bewahren, andererseits aber auch Gehwege, Rolltreppen oder Fliesen in U-Bahnhallen, Bahnhöfen, Bankgebäuden, Restaurants usw. zu schonen. Denn die scharfen Kratzer kleiner Pferdehufe wären mit Sicherheit ein erster Stein des Anstoßes für diese ungewöhnliche, neue "Einrichtung". Ein Schild an beiden Seiten des Geschirrs warnt den gerührten Passanten, der dem armen Geschöpf vielleicht eine Spende für notleidende Tiere in die nicht vorhandene Sammeldose stecken möchte, vor spontanen Annäherungsversuchen:

"DO NOT TOUCH - Animal On Duty"

Eine speziell gegründete Vereinigung, die Guide Horse Foundation, sorgt für Vermittelung und Ausbildung der Pferdchen und sieht ihre Zukunft in der Vermarktung von Miniaturponys als Blindenführer.

Urheber der amerikanischen Organisation und der Blindenpferdeidee sind laut einem Bericht in der Reiter Revue, die im Januar 2002 von dem Projekt berichtete, Janet und Don Burleson, ein amerikanisches Ehepaar, die zunächst ihr eigenes Falabella als Blindenpony ausbildeten. Damals wußten sie allerdings noch nicht, auf welch großes Interesse sie damit stoßen würden.

Twincki, das erste Minipony der Burlesons, stellt quasi den "Prototyp" der Blindenpferde dar, an dem herumexperimentiert und verschiedene Ideen in die Praxis umgesetzt wurden. Nach erfolgreichen Versuchen nahmen die beiden dann zusätzlich Cuddles (englisch für Knuddelchen) in die Ausbildung. Der Name wie das plüschtierartige Aussehen des Pferdchens sollten einen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch das gefühlsbetonte Auftreten der Einrichtung und das Mäntelchen der Nächstenliebe, mit dem sie sich umgibt, Teile des Marketings sind. Die Pferde werden letztlich als lebende Instrumente und Hilfsmittel betrachtet, auch wenn man ihr Wohlergehen im Auge behält.

Cuddles ist das erste Falabella, das ausschließlich als Blindenführer ausgebildet wurde und ein Probetraining mit Abschlußprüfung bestehen mußte, bevor die neu entstandene Guide Horse Foundation offiziell weitere Führpferde ausbilden und vermitteln durfte. Seit dem 27. Mai 2001 vermitteln und vermarkten die Burlesons offiziell Falabellas an Blinde.

Für manche der neuen Pferdebesitzer wird durch ihre vierhufigen Helfer erstmals ein Traum wahr. Viele Blinde oder Sehbehinderte lieben Pferde, kommen jedoch wegen ihres Handicaps kaum mit ihnen in Kontakt. Ausgewählt werden die neuen Besitzer laut Aussage der Organisation nach Gesichtspunkten, die gewährleisten sollen, daß die Tiere bestmögliche Unterbringung und liebevoller Umgang erwartet. So soll zum Beispiel darauf geachtet werden, daß die Interessierten einen Garten oder eine Wiese zur Verfügung haben, auf dem die Tiere artgerecht gehalten werden könnten. Allerdings scheint es die Foundation mit der artgerechten Haltung letztlich nicht so genau zu nehmen. Während in Deutschland Herr Risken, einziger im Westfälischen Pferdestammbuch eingetragener Falabella-Züchter, immer wieder davor warnt, die auch als Joggingpartner beliebten und leicht zu haltenen Falabellas im Haus unterzubringen, wirbt die Internetseite der Foundation mit den niedlichen kleinen Ponies, die im Badezimmer unter der Dusche stehen oder gemeinsam mit ihrem Besitzer im Bett schlafen bzw. sich mit ihrem "Schutzbefohlenen" auf dem Sofa lümmeln. Da schaudert es den Pferdefreund vor falsch verstandener Tierliebe. Allerdings ist ein Puppenleben auf Bett und Sofa und ein frühes Rückenleiden möglicherweise noch besser als der vermeintlich artgerechte Verschlag im Vorgarten, in dem das Pferdchen einsam die Nächte verbringen muß.

Wie wir wissen, sind Pferde Herdentiere, die sich gewöhnlich die Ruhezeiten so einteilen, daß eines der Tiere wach bleibt und die anderen bei Gefahr warnen kann. Ein einsames Tier lebt so stets in dem zusätzlichen Streß, ganz allein aufpassen zu müssen und kann nach der anstrengenden Arbeitsbelastung als Blindenführer kaum entspannen. Schon eine Ziege oder ein Hund als weiteres Herdenmitglied würde für ausreichend erholsamen Schlaf und ein wenig Glück im Pferdeleben sorgen.

Berücksichtigt man, daß ein Falabella ungeachtet seiner Größe ein Pferd ist und demzufolge auch Pferdebedürfnisse hat, ist gegen den Einsatz als Blindenführer eigentlich nichts einzuwenden, wenn es nicht überfordert wird. Die Tiere haben meist schon nach 6 Monaten bis einem Jahr (je nach Intelligenz des Schülers) die ganze Palette an Basis- Kommandos (etwa 23 verschiedene Befehle) gelernt. Nach der abschließenden Prüfung können die Blindenponys Rolltreppen, Fahrstühle, Bus und Straßenbahn fahren und typische, wichtige Situationen des täglichen Lebens meistern. Dazu gehört, die Bushaltestelle zu finden oder einen freien Platz im Restaurant für ihren Menschen zu suchen.

Die Foundation arbeitet für Blinde ohne jegliche Kosten. Die ausgewählten Personen, die für ein Blindenführpferd in Frage kommen, erhalten ein Nutzungsrecht für ihr Pony auf Lebenszeit, können das Tier jedoch nicht "erwerben". Auf diese Weise behält sich wiederum die Foundation das Recht vor, ihren Schützling bei Vorfällen wie Mißhandlungen oder Umständen, unter denen es leidet oder zu Schaden kommt, sofort zurückzuholen. Wenn die Tiere zu alt für den Dienst werden, dürfen sie bei ihrem "Patienten" bleiben, wenn der das wünscht. Falls das aus persönlichen oder technischen Gründen nicht geht, bekommen die Tiere ihr Gnadenbrot auf dem Gelände der Guide Horse Foundation.

Das hohe Lebensalter, das gerade die kleinsten Pferde oft erreichen, die bis 30 oder 40 Jahre alt werden, stellt einen ungeheuren Vorteil für ihre Ausbildung als Blindenbegleiter dar. Das erste Blindenpferdchen kann für viele erwachsene Blinde ein Freund und Begleiter fürs Leben werden. Falabellas sind außerdem wesentlich stärker als Hunde, und stärker als man es den kleinen Tieren zutrauen würde. Sie können daher älteren "Patienten" als Stütze oder tragende Hilfe zur Seite stehen, ohne daß sie darunter leiden würden. Ein weiteres Argument der Foundation ist das bessere Sehvermögen der Pferde: mit ihren seitlich angelegten Augen erfassen sie einen Bereich von fast 180 Grad pro Auge. Darüber hinaus sehen die Ponys nachts fast so gut wie am Tag.

Die Foundation alias Burlesons ist sogar überzeugt davon, daß den hochintelligenten Zwergponys durch diese neue Aufgabe ein sinnvolles und damit artgerechtes Leben beschwert würde.

Wir meinen allerdings: Ein Pferd bleibt ein Pferd. Und das kann es nur sein, wenn das Tier seine sozialen Beziehungen in einer Herde pflegen kann und die Möglichkeit hat, in seiner dienstfreien Zeit auf einer Wiese frische Luft zu schnappen, die eigenen Hufe im Galopp über den Boden fliegen zu lassen, Gras zu zupfen, sich nach Herzenlust zur Fellreinigung im Sandloch zu wälzen und die Arbeit Arbeit sein zu lassen. Zu einem gewissen Grad kann ein echter Pferdefreund, der den Sinn des sozialen Fellkraulens versteht, die Herde ersetzen. Aber als Mensch interpretiert man vieles vielleicht auch aus dem eigenen Blickwinkel, der an eine Freundschaft zwischen Mensch und diesen winzigsten aller Pferdchen glauben will.

Schließlich kann niemand Twincki, Cuddles und seinen Kollegen nach ihren Gefühlen und Eindrücken zu den höchst seltsamen Menschen fragen, die ihre zarten Hufe in Turnschuhe zwängen und überall dahin wollen, wo es stinkt, lärmt, kracht und jeder jedem so im Weg steht, wie das in einer Pferdeherde überhaupt nicht Sitte ist.

Erstveröffentlichung 2002
neue, überarbeitete Fassung
13. Mai 2008