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ETHIK/003: Schopenhauers Vision (Ingolf Bossenz)


Schopenhauers Vision

Von Ingolf Bossenz


Es ist zweifellos eine der erschütterndsten Tragödien dieses Jahres. Doch für sie ist kein Platz auf den Titelseiten der großen europäischen Zeitungen und in den Aufmachern der renommierten Nachrichtensendungen. Obwohl es immerhin um Opfer der internationalen Finanzkrise geht. Allerdings nicht um menschliche.

Es geht um Pferde. Pferde, die mittlerweile zu Zigtausenden in der Republik Irland umherirren, weil sie von ihren bisherigen Besitzern sich selbst überlassen wurden. Die Tiere, einst angeschafft zu Zeiten des Wohlstands in der Hoffnung auf schnelles Geld mit - vor allem - schnellen Rennpferden, sind zu teuer geworden in Zeiten der Rezession. Also weg mit ihnen - aussetzen. Viele verhungern oder verdursten bei ihrer Odyssee über die Grüne Insel. Etliche sterben bei Verkehrsunfällen. Tierschützer können, schon allein aus finanziellen Gründen, nur wenige der »überflüssig« gewordenen Kreaturen aufnehmen.

Mitleid? Nächstenliebe? Diese Worte gelten, wenn es sich um Tiere handelt, im katholischen Irland so wenig wie in anderen mehr oder weniger religiös geprägten Ländern. Und das erst recht, wenn die Kassen klamm sind. Ist dies möglicherweise ein Grund dafür, dass es auch in den sogenannten zwischenmenschlichen Beziehungen so schwer vorangeht, dass zwischen ethnisch, kulturell, politisch unterschiedlich geprägten Gruppen Spannungen und gewaltsame Konflikte einfach nicht zu beseitigen sind? Der berühmte französische Völkerkundler Claude Lévi-Strauss (1908-2009) verwies einmal darauf, »dass das Problem des Kampfes gegen Rassenvorurteile auf menschlicher Ebene ein viel umfassenderes Problem widerspiegelt, das noch dringender einer Lösung bedarf. Ich spreche von dem Verhältnis zwischen dem Menschen und anderen lebenden Arten. Es ist zwecklos, das eine Problem ohne das andere lösen zu wollen. Denn die Achtung gegenüber den eigenen Artgenossen, die wir vom Menschen erwarten, ist lediglich ein Einzelaspekt der allgemeinen Achtung vor allen Formen des Lebens.«

Lévi-Strauss präzisiert in seiner Aussage von 1971 eigentlich nur, was 150 Jahre zuvor die Vision von Arthur Schopenhauer war. Schopenhauer, bekannt als Philosoph des Pessimismus, malte nicht nur ein schonungsloses Bild der Welt mit all ihrem unermesslichen Leid, er wies auch einen Weg, dieses Leid zumindest zu lindern: über das Mit-Leid. Und zwar mit aller Kreatur, mit Mensch und Tier.

»Mitleid« ist im Deutschen ein relativ junges Wort. Es kam erst vor gut 200 Jahren auf, als Verkürzung des älteren Wortes »Mitleiden«, das die deutschen Mystiker gebrauchten, um das seelische Mitdurchleben eines fremden Leidens zu verdeutlichen, wie der Passion Christi. Dieses Mitdurchleben fremden Leidens bezog Schopenhauer auch auf die vom Menschen geschundenen Tiere.

Es war kein Geringerer als Karl Marx, der dieses sittliche Fundament des Philosophen ausdrücklich hervorhob, als er einmal gegenüber dem ihm befreundeten Ehepaar Kugelmann Schopenhauer gegen den Vorwurf in Schutz nahm, dieser sei ein Menschenhasser. Marx betonte: »Keinem lebendigen Wesen Unrecht zu tun, bezeichnet er bei der Hilfsbedürftigkeit alles Bestehenden als einfaches Gebot der Gerechtigkeit, die zum Mitleid führt, zu dem Satz: 'Hilf allen, so viel du kannst.' Tiefer ethisch sozial hätte keine sentimentale Regung das Gebot der Nächstenliebe verkündet.«

»Hilf allen, so viel du kannst.« Wenn, wie in Irland, sogar die dem Menschen doch als besonders nahestehend betrachteten Pferde letztlich sogenannten höheren Interessen geopfert werden, die in Wirklichkeit niedere Interessen sind - was soll dann im Fall von Schweinen und Hühnern in Tierfabriken, gar im Fall von Ratten und Mäusen in Versuchslabors eigentlich zu erwarten sein?


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Quelle:
Ingolf Bossenz, Mai 2010
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 28.05.2010
http://www.neues-deutschland.de/artikel/171808.schopenhauers-vision.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2010