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TIERHALTUNG/616: Kampagnenerfolg - Bahnbrechende Einigung zum Kupierverzicht bei Schweinen (PROVIEH)


PROVIEH Ausgabe 1/2014
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Kampagnenerfolg für PROVIEH:
Bahnbrechende Einigung zum Kupierverzicht bei Schweinen

von Sabine Ohm



Mitte Februar einigten sich das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes Nordrhein-Westfalen (MKULNV) mit den Präsidenten des Rheinischen und des Westfälischen Landwirtschaftsverbandes, Friedhelm Decker und Johannes Röring, auf eine "Gemeinsame NRW-Erklärung zum Verzicht auf das routinemäßige Kürzen des Schwanzes bei Schweinen". Der Ausstieg soll ab diesem Jahr in drei Etappen bis Ende 2016 vollzogen werden. PROVIEH kämpft seit 2008 mit Hochdruck für intakte Ringelschwänze und feiert diesen Beschluss als Einstieg in den Ausstieg. Diesen Durchbruch haben wir in fünf Jahren unermüdlicher Lobby- und Kampagnenarbeit hart erkämpft.


20 Jahre Kupierverbot

Was lange währt wird endlich gut. Durch diese gemeinsame Initiative will die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen (NRW) endlich die längst überfällige Umsetzung des Kupierverbots herbeiführen, nachdem die Tierhalter auf einen seit 1. Januar 2011 gültigen NRW-Erlass kaum reagierten.

Das routinemäßige Kürzen des Schwanzes ist in der Europäischen Union (EU) eigentlich bereits seit 1994 verboten durch die EU-Richtlinie 91/630/EWG zum Schutz der Schweine, aber die Ausnahmen waren zunächst zu weit gefasst. Gerechtfertigt wurde der Eingriff all die Jahre mit dem Risiko, dass sich die Schweine gegenseitig den Schwanz anknabbern könnten (Kannibalismus), wenn er intakt gelassen würde. Warum es zu Kannibalismus komme, sei noch nicht ausreichend erforscht, hieß es. Aber es gibt Länder, in denen schon seit Jahren ein strenges Kupierverbot herrscht und die Schweine ihren langen, intakten Ringelschwanz behalten. Der Schlüsselfaktor ist dabei ein insgesamt höheres Tierwohl durch strengere gesetzliche Standards.

Seit 2003 sieht die überarbeitete EU-Schweinehaltungsrichtlinie deshalb vor, dass den Schweinen "jederzeit Zugang zu ausreichend angemessenem Beschäftigungsmaterial wie Heu, Stroh etc. ..." angeboten werden muss. Außerdem sind die Tierhalter laut Richtlinie dazu verpflichtet, zunächst alle anderen Haltungsbedingungen anzupassen, bevor kupiert werden darf, zum Beispiel mehr Platz pro Tier zu gewähren (siehe RL 2008/120/EG). Genau diese Textstellen aber wurden vom deutschen Gesetzgeber nicht in den nationalen Gesetzestext übernommen - und deshalb von den deutschen Schweinehaltern jahrelang geflissentlich ignoriert.

Damit soll nun in NRW endgültig Schluss sein, und nicht nur dort. PROVIEH erwartet einen Dominoeffekt in Deutschland und der EU. Dazu werden wir den Kampagnendruck weiter aufrechterhalten.


Die Schweiz machte es vor

In der Schweiz wurde 2008 das Kupierverbot erfolgreich auch in konventionellen Ställen mit Vollspaltenböden umgesetzt, die den deutschen sehr ähneln. Im gleichen Jahr dokumentierte unsere britische Partnerorganisation Compassion in World Farming (CIWF) in einer europaweiten verdeckten Recherche, dass das Schwanzkupieren üblich und das Beschäftigungsmaterial mangelhaft sind. Die eklatanten Missstände wurden fotografisch festgehalten. Daraufhin startete PROVIEH Anfang 2009 die Kampagne mit zwei EU-Beschwerden gegen Deutschland: eine formale Klage wegen der unzureichenden Umsetzung der "Richtlinie zum Schutz der Schweine" (2008/120/EG) in deutsches Recht, und eine zweite Klage wegen der Nichtumsetzung des Kupierverbots in der Praxis. Über Jahre erhielten wir den Druck und die Klagen durch immer neues Beweismaterial und Beschwerden aufrecht.

Seit 2010 arbeiten wir eng mit dem Landwirtschaftsministerium NRW und mit Schweinehaltern zusammen, um die Abschaffung des Schwanzkürzens in Deutschland wissenschaftlich und durch Praxisversuche zu begleiten. Die wesentlichen Ursachen und Wirkungszusammenhänge des Schwanzbeißens sowie notwendige Anpassungsmaßnahmen konnten auf diese Weise identifiziert werden. Andere Studien im In- und Ausland kamen zum gleichen Ergebnis (siehe Infobox). Damit rückt die Umsetzung der EU-Vorschrift endlich in greifbare Nähe.


EU-Leitfaden schafft Klarheit

Nach einer Vielzahl von Veranstaltungen in Deutschland und Brüssel zur Einhaltung der Schweinehaltungsrichtlinie wurde PROVIEH im März 2013 eingeladen, vor der EU-Kommission in Brüssel und Vertretern der Mitgliedsstaaten einen Vortrag zum Thema intakte Ringelschwänze zu halten. Seither sind wir als einziger deutscher Tierschutzverein an der Ausarbeitung der EU-Leitlinien zur korrekten Umsetzung des Kupierverbots beteiligt. Sie sollen noch in diesem Jahr erscheinen und eine klare Anleitung für die Tierhalter und Inspektoren bieten. Dann kann sich endgültig niemand mehr darauf berufen, er wisse nicht, welche Maßnahmen gegen das Schwanzbeißen zu ergreifen sind.

Bei Nicht-Einhaltung des Kupierverzichts drohen den Schweine haltenden Landwirten künftig sogenannte "Cross Compliance"-Kürzungen der EU-Agrarsubventionen, wenn sie nicht alle EU-Vorschriften zur Schweinehaltung einhalten.


Fazit: Der Erfolg beflügelt uns

In NRW leben mit über sieben Millionen Schweinen etwa ein Viertel aller in Deutschland gehaltenen Schweine, knapp fünf Prozent der rund 146 Millionen Schweine in der EU. Jedes Jahr werden zudem Millionen Ferkel aus Dänemark und den Niederlanden nach NRW exportiert, weil es wesentlich mehr Mäster als Ferkelerzeuger gibt. Also steigt auch im Ausland der Druck, den Ringelschwanz intakt zu lassen.

PROVIEH feiert die NRW-Erklärung deshalb als elementaren Meilenstein auf dem Weg zur vollständigen, deutschland- und europaweiten Umsetzung der Schweinehaltungsrichtlinie. Gegen diese EU-Vorschrift wird leider noch in manch anderer Hinsicht routinemäßig verstoßen, zum Beispiel durch mangelnde Bereitstellung von Nestbaumaterial für Sauen in der Abferkelbucht. Ausruhen können und werden wir uns also nicht auf diesem Etappenerfolg.


INFOBOX

Untersuchungen in Betrieben, die Schweine entweder mit oder ohne intaktem Ringelschwanz halten, ergaben, dass die in Deutschland üblichen konventionellen Haltungsbedingungen die Schweine offensichtlich permanent überfordern. Die Ferkel werden häufig nach viel zu kurzer Säugezeit von der Muttersau getrennt, oft nach nur drei Wochen. Dann ist der Darm noch zu unterentwickelt für die Umstellung auf Kraftfutter. Hinzu kommen Tränke- und/oder Fütterungsfehler, insbesondere Raufuttermangel. Diese Faktoren können Kannibalismus selbst bei kupierten Schweinen auslösen, vor allem wenn die Anpassungsfähigkeit dieser hochintelligenten Tiere an die mangelhaften Lebensbedingungen durch zusätzliche Stressfaktoren wie zu hohe Temperaturen ohne Abkühlungsmöglichkeit, Zugluft oder zu wenig Platz stark überstrapaziert wird.

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Quelle:
PROVIEH Heft 1/2014, Seite 6-8
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
Küterstraße 7-9, 24103 Kiel
Telefon: 0431/248 28-0
Telefax: 0431/248 28-29
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2014